Sarah Polley hat sich nach längerer kreativer Pause erneut an einen komplizierten Stoff gewagt. Das Kammerstück „Die Aussprache“ trägt sich vor allem durch sein hervorragendes Schauspielerinnen-Ensemble. Die unterschiedlichen Meinungen in der Aussprache über die Zukunft der Gemeinde werden u.a. vertreten durch Scarface Janz (Frances McDormand), die den vorgegebenen Strukturen nachhängt. Demgegenüber stehen eine melancholische Ona (Rooney Mara), eine wütende Salome (Claire Foy) und eine ambivalente Mariche (Jessie Buckley). Protokoll führt Lehrer August (Ben Whishaw), da er als Mann lesen und schreiben kann.
Eine Frage der Natur?
Zurückhaltend, und sichtlich beschämt über die sexuelle Gewalt, ist August derjenige, der niemanden verteidigen muss und auch nicht anklagt. Für ihn liegt die sexuelle Gewalt in der Natur der Jungs, die er in der Schule zu Männern heranreifen sieht.
Es sind die bildschön inszenierten Rückblenden von gemeinsam in der Natur spielenden Kindern, die beim Zuschauen das Gefühl von Unbehagen auslösen. Werden die Söhne der in der Scheune diskutierenden Mütter automatisch zu Gewalttätern? Was macht sie dazu? Welche Rolle spielen die christlich geprägten, nicht mehr zeitgemäßen Strukturen der mennonitischen Gemeinschaft? Erlauben sie tatsächlich so etwas?
Die Insiderin
Diese traditionellen Strukturen als eine Form von Parallelgesellschaft beschreibt die Schriftstellerin Miriam Toews. Sie hat die literarische Vorlage für den Film verfasst und lebte bis zu ihrem 18. Lebensjahr in einer mennonitischen Gemeinschaft namens „Kleine Gemeinde“. Dort gab es weder TV noch Autos oder andere moderne Technik. Mit diesen Wurzeln setzt sich Toews seitdem immer wieder literarisch und filmisch auseinander.
Wie die Regisseurin ist sie Kanadierin und hat 2006 in einem viel beachteten Film die Hauptrolle einer mennonitischen Ehefrau übernommen. In „Stellet Licht“ von Carlos Reygadas zeigt sich in eindrücklichen Bildern das harte bäuerliche Leben in der Glaubensgemeinschaft. Das Besondere an diesem Film: sämtliche Dialoge innerhalb der Familie finden in plautdietscher Sprache statt, was auch den ungewöhnlichen Titel erklärt. Miriam Toews weiß also genau um das Leben in dieser Glaubensgemeinschaft und hat für „Die Aussprache“ reale Ereignisse aus einer Kolonie in Bolivien verarbeitet.
Die Regisseurin
Sarah Polley verzichtet in der filmischen Umsetzung von „Die Aussprache“ zwar auf Pseudo-Dokumentarisches, aber sie schafft es gewohnt zuverlässig, zum Nachdenken anzuregen, ohne dabei den Zeigefinger zu heben. Wie schon in dem Alzheimer-Drama „An ihrer Seite“ (2006) emotionalisiert sie, ohne in den Kitsch abzugleiten. Man kann sich eigentlich nur freuen, dass ihre Art zu erzählen ihr endlich zwei Oscarnominierungen für den besten Film und beste adaptierte Drehbuch eingebracht hat.
Verhalten stolz hat sich Polley dazu bei einer feierlichen Preview des Films in Berlin geäußert – viel wichtiger war ihr die Darstellung ihrer Arbeitsweise. Der primär weibliche Cast wurde zwischen den Szenen intensiv betreut. Es sei immer genug Zeit geblieben, um den emotionalen Belastungen der Schauspielerinnen gerecht zu werden.
Das Schweigen der Männer
Die Entscheidung, außer dem Lehrer August, keinen der Männer in dem Film zu Wort kommen zu lassen, fiel laut Polley erst am Schneidetisch. Dieses „Schweigen der Männer“ kann man als konsequent und als interessantes filmisches Mittel ansehen oder aber dem Film zum Vorwurf machen. Polley verzichtet bewusst auf eine alternative Sicht und legt damit den Fokus auf die inhaltliche Auseinandersetzung der Frauen untereinander.
Der Film „Die Aussprache“ von Regisseurin Sarah Polley startet am 9. Februar 2023 in den deutschen Kinos.