1993 habe ich eine neue Arbeitsstelle in Berlin angetreten. Da ergab sich am 29. Juli die Gelegenheit, am Abschlussdinner des Gründungskongresses des Humanistischen Verbandes teilzunehmen. Dies fand im Café Rix statt und hat mich 45 DM gekostet. Das war es mir wert, die Atmosphäre gefiel mir.
Ich hatte seit einiger Zeit Kontakt zu der Freigeistigen Landesgemeinschaft Nordrhein-Westfalen und dadurch Kenntnis von der Gründung erlangt. Für mich tat sich mit dem Verband ein neues Aktionsfeld auf. Ich war zwar über ein Dutzend Jahre weltanschaulich-politisch nicht mehr aktiv, war auch familiär und beruflich gut beschäftigt, aber der neue Verband faszinierte mich von Anfang an und reizte meine missionarische Ader. Immerhin lagen Jahre als katholischer und marxistischer Überzeugungstäter hinter mir. Nun reizte mich der praktische Humanismus, die Verbandszeitschrift Diesseits vermittelte mir eine aufstrebende Organisation.
Ich hatte nicht nach dieser Organisation gesucht, sie kam eher über mich, ein wenig so, wie die britische Philosophin Iris Murdoch sagt: „Man schaut nicht einfach hin und wählt etwas und schaut, wo man hingehen könnte, man steckt immer schon bis zum Hals in seinem Leben.“
Am 1. Mai 1994 wurde ich Mitglied der Gemeinschaft in Nordrhein-Westfalen, fünf Jahre später stellte ich mich dem Landespräsidium als Beisitzer zur Verfügung.
Mein Kontakt zum Bundesverband ergab sich über den Bundeshauptausschuss 1999 und die anschließende Mitarbeit in der Ratschlagkommission für ein neues Humanistisches Selbstverständnis. Damit steckte mein Kopf in der Schlinge und ich wurde 2001 als Beisitzer in den Bundesvorstand gewählt. Dort sitze ich nun mit einer Unterbrechung von 2006 bis 2011 und Ihr seht, es wird höchste Zeit, dass jüngere Kräfte Platz nehmen. 2019 ist mir der Ausstieg nicht gelungen. Katrin Raczynski und unser leider früh verstorbener Andreas Henschel haben darauf gedrängt, dass ich mich für dieses Amt bewerbe.
Was mich an dem Verband anzog, war die in ihm angelegte Idee, ‚unsere Welt human zu denken und zu gestalten‘. So großartig hat es zwar erst der Landesverband Berlin-Brandenburg in diesem Jahr als Leitbild formuliert, aber das war eine anziehende Aufgabe. Der Anspruch, Interessenvertretung der Konfessionsfreien zu sein, schien mir immer vermessen. Auch mit dem Sinn habe ich Probleme. Ich muss meinem Leben keinen Sinn geben. Komme ich sonst nicht in die Ewigkeit? Sinn wird bei uns gerne positiv verstanden, z. B. will unsere Hochschule ausbilden für eine „Gesellschaft mit Sinn“. Vorsicht! Sinn ist im Handbuch des Humanismus kein Stichwort.
Wo stehen wir bei dem humanistischen Denken und Gestalten?
In vielen Publikationen hat der Verband über eine humane Welt, eine humane Weltanschauung nachgedacht, theoretisch-intellektuell in den vielen klugen und wertvollen Veröffentlichungen unserer Humanistischen Akademien, zusammengefasst in der Entwicklung unseres Humanistischen Selbstverständnisses und sehr lebensnah und der Praxis zugewandt in unserer Diesseits, die es jetzt leider nur noch auf dem Bildschirm zu lesen gibt. Unser Nachdenken findet jetzt sogar im Hochschulrahmen statt, es erfolgt also in vielen Formen. Dabei müssen wir uns immer wieder vergewissern, ob wir auch über die richtigen Themen nachdenken, die brennenden. Ich komme darauf zurück.
Was den Bereich der humanen Gestaltung, des praktischen Humanismus angeht, war nicht nur für mich immer unser Hauptstadtverband mit seinem Brandenburger Umfeld die Orientierung.
Lange Zeit war ich im Bundesvorstand bzw. ‑präsidium zuständig für den Bereich Autonomie am Lebensende. Was wir dort gedacht und erarbeitet haben, konnte sich immer beziehen auf die praktischen Erfahrungen des Verbandes in Berlin. An dieser Stelle muss ich Gita Neumann erwähnen, die für mich 24 Jahre lang die wichtigste Gesprächspartnerin in diesem Bereich war. Unsere humanistische Haltung ist im Laufe der Jahre in viele Schriften, Stellungnahmen und Gesetzentwürfe eingeflossen. Sie hat uns Anerkennung in Fachkreisen und bis im Bundestag eingebracht. Wir werden uns nicht anmaßen, wir hätten den § 217 zum Suizidhilfeverbot zu Fall gebracht. So wie es manch andere Stiftungs- und Vereinsvertreter behaupten. Aber wir waren immer zur Stelle.
Nun stehen wir an der Front beim Thema Schwangerschaftsabbruch. Auch hier ist der Verband nicht praxisfern. Ines Scheibe, die auf der Bundesebene fast so lange aktiv war wie ich, war Leiterin unserer Schwangerschaftsberatungsstelle und hat das Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung als HVD-Vertreterin mitgegründet. Unser Verband hat sich allerdings in den letzten Jahren eine Position erarbeitet, die mit der radikal-feministischen Position von Ines nicht mehr kongruent ist. Wir haben die vielfältigen mit späten Schwangerschaftsabbrüchen verbundenen Probleme im Fokus, insbesondere im Hinblick auf embryopathische Indikationen, und suchen nach gesellschaftlichen Lösungen dafür. Am Ende wird, wo gesetzliche Regelungen nicht mehr möglich sind, auch über eine Ethik der Barmherzigkeit nachzudenken sein.
In den westlichen Flächenländern haben wir unter praktischem Humanismus lange nur das verstanden, was freigeistige Verbände an Ritualen aus religiöser Zeit transformiert hatten, vor allem das Sprecherwesen und Jugendfeiern. Den humanitären Teil kirchlicher Praxis im Bereich praktischer Nächstenliebe und Barmherzigkeit haben wir nicht in den säkularen Bereich übernommen. Es fragt sich aber, ob dieses Feld von staatlichen Einrichtungen und vorhandenen Organisationen wie der Arbeiterwohlfahrt zufriedenstellend abgedeckt wird oder sich dort noch Aufgaben für Humanisten stellen. Auch ist mir ein humanistisches Kinder‑, Alten- oder Pflegeheim lieber als ein rein kommerzielles. Die Propagierung und Qualifizierung humanistischer Begleitung für Rituale, wie sie etwa das neue Europäische Netzwerk gerade vornimmt, ist gut, kann meiner Meinung nach aber nicht der Mittelpunkt und der zentrale Anspruch humanistischer Praxis sein.
Wo ist die Not groß?
Es liegt für uns nicht immer auf der Hand, welche Nöte es in der Bevölkerung gibt, die wir praktisch humanistisch aufnehmen können. Manchmal gelingt es, bestehende Nöte als Bewegung zu organisieren, wie zwei Beispiele zeigen: Die Berliner Freireligiösen gründeten in der Weimarer Republik einen Sparverein für die Bestattung, hauptsächlich für die zunächst verbotene Feuerbestattung. Der Verein zog über 400 000 Mitglieder an und nannte sich 1930 in Deutscher Freidenkerverband um. Nach dem Krieg blieb das Thema bei den Sterbeversicherungen, Freidenker zogen daraus keine Mitglieder mehr.
In den 80er Jahren organisierten Freigeister die aufkommende Bewegung, über sein Lebensende selbst bestimmen zu wollen und gründeten die Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben, DGHS. Der Verein sammelte rasch über 70 000 Mitglieder. Die Zahl sank dann auf 20 000, als der Verein keine praktische Suizidhilfe mehr anbot. Nachdem die DGHS diese Hilfe 2020 wieder aufgenommen hat, erhöhte sich der Mitgliederbestand mit jetzt tausend Neueintritten pro Monat auf aktuell ca. 40 000. Es handelt sich hier um eine reine Dienstleistung auf einem sehr begrenzten Feld individueller Autonomiebegehren. Wir haben als Humanistischer Verband Deutschlands diese mitgliederziehende Dienstleistung abgelehnt, weil in unserem Fokus mehr das Leben stehen sollte – dem Leben zugewandt.
Wir dürfen auch nicht von der Frage ausgehen: Wo bekommen wir Mitglieder her? Es geht vielmehr darum, wo Humanität in unserer Welt, und die ist global, bedroht ist, oder gar mit Füßen getreten wird. Dabei dürfen wir uns aber nichts vormachen. Wir können keinen Frieden stiften, können keine Demokratie exportieren, können keine Ausbeutung in fremden Ländern abschaffen. Was können wir denn? Wir können Freunde und Gleichgesinnte international unterstützen, können unsere Stimme vor Gremien der Vereinten Nationen erheben. Beides tun wir im Rahmen unserer Mitgliedschaft bei den Humanists International. Wir können international in Not Geratene unterstützen, die sonst wenig Lobby haben. Dazu wollen wir unser Hilfswerk allmählich in Gang setzen. Wir können ungerecht Verfolgte unterstützen, die bei uns Schutz suchen. Und natürlich können wir in unserer Bevölkerung von der Wiege bis zur Bahre praktische Dienstleistungen erbringen, die individuelle Not lindern oder kollektives Leben verbessern. Wir können uns, in unterschiedlichen Bündnissen, gegen politische Entscheidungen wenden, die Humanität und Fortschritt abbauen, statt sie zu entwickeln. All das lässt sich weiter ausbauen.
Wir beschäftigen uns immer wieder mit Fragen von Krieg und Frieden, insbesondere wenn sie uns näher rücken, wie in der Ukraine und in Palästina. Hier finden wir im Fall konkreter humanitärer Hilfe leichter zu gemeinsamen Lösungen als in der politischen Einschätzung. Aber der Streit bei gegenseitiger Anerkennung bringt uns nach vorn.
Die Klimakatastrophe ernst nehmen
Die größte Bedrohung für die Menschheit als Ganzes ist aber gegenwärtig die zunehmende Klimakatastrophe. Schon mehren sich drastische Erscheinungen, bahnen sich katastrophale Entwicklungen ihren Weg. Das 1,5‑Grad-Ziel ist längst gerissen. Wir laufen in eine Richtung, in der die Existenz der Menschheit selbst in Gefahr gerät. Ohne drastische Änderungen in unserem täglichen Leben werden wir nicht davonkommen und müssen auf längere Sicht mit brutalen Verteilungskämpfen um verbleibende Ressourcen rechnen.
Ich betrachte es als großen Fehler meiner eigenen Tätigkeit in unserem Verband, das Thema nicht ausreichend beachtet und zu einem Verbandsthema gemacht zu haben. Welche Möglichkeiten verbleiben uns als Individuen und als Verband, uns den schlimmsten Entwicklungen entgegenzustellen? Thomas Heinrichs hat dies im Herbst letzten Jahres in einem Aufsatz in ‚humanismus aktuell‘ unter dem Titel „Radikal Philosophieren? – in Zeiten der ökologischen Katastrophe?“ thematisiert. Welche Verantwortung haben wir? Können wir uns noch ein schönes Leben machen? Heißt radikale Aufklärung heute, besonders diese Problematik human zu denken und zu gestalten? Ich meine ja.
Es gab immer wieder einzelne Initiativen und Überlegungen im Verband, was wir angesichts des Klimawandels tun könnten, aber wir haben die Frage am Rand liegen gelassen. Es ist gut, dass uns seit dem Frühjahr eine Arbeitsgruppe Tierethik herausfordert. Das reicht jedoch nicht. Es würde mich sehr freuen, wenn unser Vorstand, unsere Medien und ein Fachausschuss sich dem Thema Klimakatastrophe verstärkt widmen würden, nicht zu vergessen unsere jungen Humanist*innen. Wir werden nicht allein sein, sondern uns mit vielen Gleichgesinnten in der Gesellschaft verbinden können.
Der Vorstand hat beschlossen, unser Humanistisches Selbstverständnis fortzuschreiben, nicht weil es schlecht wäre, sondern weil sich die Welt und unsere Erkenntnisse weiterentwickeln. Neben den Themen wie Verteidigung der Demokratie, Krieg und Frieden wird das Thema Klimakatastrophe ein deutlicheres Gewicht erhalten müssen.
Wir wissen, dass unsere Kräfte beschränkt sind und Bindungstendenzen in der Gesellschaft eher abnehmen. Mit stagnierenden Kräften mehr Aufmerksamkeit zu erreichen ist nicht nur eine Frage der Themen, sondern auch eine Frage der Mittel. Die Aufmerksamkeit in der Gesellschaft hat sich verlagert. An die Stelle unseres verlorenen Diesseits-Heftes könnten wir uns mit Videobeiträgen, interessanten Vortragsveranstaltungen und Podcasts in die Debatte einmischen. Ich freue mich, dass eine Arbeitsgruppe sich gerade des Themas Podcasts annimmt. Videos fände ich auch nicht schlecht. Ich habe vor ein paar Tagen gesehen, dass der YouTube-Kanal der britischen Humanisten 43 000 Abonnenten hat. Nehmen wir uns im ersten Schritt 5000 vor. Mit Jugendfeier-Videos schaffen die Berliner das locker. Vielleicht muss man hier mal mit Tandem-Lösungen arbeiten, der Werbeblock vor dem Film.
Mit diesem Vorschlag komme ich zum Ende.
Ich bedanke mich herzlich bei allen, mit denen ich in den vielen Jahren zusammenarbeiten durfte, mit denen ich debattieren und von denen ich lernen konnte. Ich bedanke mich bei allen, die mich unterstützt oder zumindest ertragen haben.
Auch wenn ich nicht plötzlich aus der Welt sein werde, wünsche ich Euch allen und unserem Verband eine gute Zukunft!
1 Kommentar zu „Gedanken zum Dezember“
Lieber Erwin,
Danke für Deine Worte und die vertrauensvolle Zusammenarbeit.
Deine Gedanken werden in Kürze auch auf unserer Webseite zu finden sein.
Du bleibst uns also erhalten.
Alles Gute Dir und Deinen Lieben auch weiterhin.
Humanistische Grüße aus dem Grünen Herzen Deutschlands.
Ihr seid herzlich eingeladen. Gerne auch zu einer gemeinsamen Fahrradtour .
Der Vorstand des HVD LV Thüringen
Frank Roßner und Frank Schneider