„Man schaut nicht einfach hin und wählt etwas, man steckt immer schon bis zum Hals im Leben.“
Iris Murdoch
Liest man aktuelle Texte des Humanismus, ob Humanistische Selbstverständnisse, Rahmenlehrpläne von humanistischer Lebenskunde oder Pressemitteilungen zu jeweils gerade aktuellen Themen wie z.B. zum assistierten Suizid, so ist schnell zu erkennen, dass Selbstbestimmung ein zentrales Konzept mindestens des zeitgenössischen Humanismus ist. Gleichzeitig aber scheint nicht immer ohne Weiteres klar zu sein, was genau denn dabei unter Selbstbestimmung zu verstehen ist und wie diese sich mit anderen zentralen Konzepten, z.B. Verantwortung, verträgt. Dabei wären solche Klärungen hilfreich auch gegenüber manchen deterministischen Tendenzen in der Hirnforschung wie angesichts der Digitalisierung unserer Lebensverhältnisse. Klärungen dieser Art sind keineswegs philosophische Selbstbeschäftigung, denn Konzepte und Begriffe können uns als normative Folie bzw. regulative ethische Idee helfen, individuelle Verhaltensweisen und gesellschaftliche Verhältnisse zu beurteilen und zu kritisieren.
Anspruch und Zweifel
In einem grundlegenden Sinne ist zunächst durchaus klar, woher der humanistische Impuls nach Selbstbestimmung rührt: Er richtet sich gegen Fremdbestimmung durch religiöse Autoritäten und Schriften, politische Führer und autoritäre Herrschaftsformen oder auch hierarchische Beziehungsformen. Ist nun Selbstbestimmung aber noch mehr als Widerstand gegen Fremdbestimmung?
Bei einer solchen Überlegung sollte man versuchen, an unserem Alltagsleben, an unserer Praxis und unserem schon vorhandenen Verständnis von Selbstbestimmung anzuknüpfen. So kommt man gar nicht erst in Versuchung, von der theoretischen Idylle eines vollends selbstbestimmten Lebens auszugehen, sondern steckt sofort mitten in einem Spannungsverhältnis: Wir haben einerseits den Anspruch und das Selbstverständnis, ein möglichst selbstbestimmtes Leben führen zu wollen, und anderseits erleben wir im Alltag eine ganze Reihe von Schwierigkeiten und Hindernissen, die uns an der Möglichkeit von Selbstbestimmung zweifeln lassen. Uns passieren Dinge, auf die wir keinen Einfluss haben und die unsere Wünsche und Pläne durchkreuzen. Wir sind biografisch geprägt und unterliegen vorgegebenen gesellschaftlichen wie biologischen Bedingungen. Im sozialen Umfeld ergeben sich stets Rücksichtnahmen auf andere oder Verpflichtungen ihnen gegenüber, die uns in unserer Selbstbestimmung einschränken können.
Dieses Spannungsverhältnis gehört zu einem modernen Verständnis von Selbstbestimmung dazu: Selbstbestimmung ist kein „Ponyhof“ und man sollte sie entsprechend nicht als etwas Selbstverständliches und Unkompliziertes propagieren. Überlegen Sie: Wann schreiben Sie sich oder einer anderen Person zu, dass sie selbstbestimmt agiert? Probieren wir das an einem alltäglichen Beispiel.
Wenn das Smartphone zweimal „klingelt“
Stellen Sie sich eine Person vor, deren Smartphone ständig Töne von sich gibt und die jedes Mal ohne zu zögern auf ihr Display schaut. Rührt es sich mal nicht, schaut sie natürlich erst recht. Diese Person möchte gerne wissen, wer sich da gerade meldet oder eben auch nicht. Würden Sie sagen, die Person handelt selbstbestimmt, weil sie ja schließlich ihren eigenen spontanen Wünschen folgt? Oder würden Sie sagen: Nein, zur Selbstbestimmung gehört auch eine Reflexion der eigenen Wünsche, d.h. die Überlegung, ob man diesen Wunsch wirklich verfolgen will, oder nicht? Ist Selbstbestimmung also einfache Wunscherfüllung oder reflexiver Verfolg der eigenen Wünsche?
Nehmen wir an, es reicht Ihnen nicht, Selbstbestimmung nur als Erfüllung der jeweils gerade vorliegenden Wünsche zu verstehen. Sie denken, dass ein Mindestmaß an Reflexion dazugehört. Reicht es Ihnen dann für Ihr Verständnis von Selbstbestimmung, wenn unsere Person sich nach einer Reflexion ihrer spontanen Wünsche auf einer zweiten Stufe mit diesen identifiziert, sie bejaht und z.B. wieder zum Smartphone greift, um zu schauen, ob eine neue Nachricht da ist? Oder würden Sie sagen: Nein, die Person sollte auch einen guten Grund für ihre Entscheidung haben. Sollte die Reflexion also mindestens eine halbwegs gute Begründung hervorbringen (z. B. weil unsere Person wirklich auf eine sehr wichtige Nachricht wartet), oder ist das egal, reicht es Ihnen, wenn sie zumindest irgendwie nachgedacht hat?
Nehmen wir an, Sie sind der Ansicht, zur Selbstbestimmung gehört es, dass man halbwegs gute Gründe für seine Entscheidungen hat, damit man nicht von irgendwelchen diffusen Motiven angetrieben wird. Würden Sie sagen, man sollte bei der Reflexion der eigenen Gründe vor allem auch überlegen, ob die eigenen Wünsche wirklich die eigenen sind? Und ob sie nicht stattdessen nur vom sozialen Umfeld gelehrt, auferlegt oder gar manipuliert wurden? Würden Sie sagen, es gehört zur gelungenen Selbstbestimmung dazu, dass man sich selbst Rechenschaft über die Herkunft der eigenen Wünsche gibt? Sollte unsere Person sicher sein, dass es ihr eigener Wunsch ist, ständig zum Smartphone zu greifen und nicht eine durch die Sozialen Netzwerke verursachte Zwanghaftigkeit?
Nehmen wir nun an, die Person hat für sich einen guten Grund und ist überzeugt, es handelt sich um ihren eigenen Wunsch. Würden Sie sagen, dieser Grund sollte auch für andere verständlich sein? Reicht es, wenn diese Person z.B. sagt, „Ich möchte da immer nachgucken, am liebsten auch nachts, weil ich sonst die wirklich wichtigen Dinge des Lebens verpasse“? Oder würden Sie sagen, diese Person handelt dann eigentlich nicht wirklich selbstbestimmt, denn sie befindet sich im Irrtum über sich selbst und die Welt? Verhindert Selbsttäuschung Ihres Erachtens Selbstbestimmung?
Und gehen wir noch einen Schritt weiter: Was würden Sie sagen, wenn unsere Person deshalb ständig auf ihr Smartphone schaut, weil sie wissen will, wie ihr neuestes Mobbing-Video über eine Mitschülerin im Netz ankommt. Würden Sie sagen, das ist natürlich schlimm, aber für die Frage der Selbstbestimmung ist es völlig unerheblich, ob es sich um ethisch wertvolle oder boshafte Wünsche bzw. Aktionen handelt? Würden Sie also sagen, auch eine moralisch verwerfliche Handlung kann eine selbstbestimmte Handlung sein? Oder würden Sie stattdessen sagen, das kann keine selbstbestimmte Handlung sein, weil es zu einem richtigen humanistischen Verständnis von Selbstbestimmung dazu gehört, nicht nur die eigene Selbstbestimmung, sondern auch die des anderen zu achten? Würden Sie sagen, dass man Selbstbestimmung nur dann wirklich wertschätzt und dass es merkwürdig ist, wenn man nur die eigene meint? Dass jemand, der ein solches Video postet, nicht wirklich selbstbestimmt handelt, weil er Selbstbestimmung mit egoistischer Willkürfreiheit verwechselt?
Und natürlich kann man es noch weitertreiben: Stellen Sie sich vor, unsere Person lebt in einem Land, in dem das permanente Online-Sein eine verbreitete gesellschaftliche Norm ist: alle machen das und alle sollen das auch. In ihrem nahen sozialen Umfeld wird unsere Person massiv „gedisst“, wenn sie nicht erreichbar ist und nicht umgehend auf alle eintreffenden Nachrichten antwortet. Würden Sie unter diesen Voraussetzungen den ständigen Griff nach dem Smartphone als selbstbestimmt bezeichnen? Oder würden Sie sagen, unter solchen gesellschaftlichen Bedingungen ist in dieser Hinsicht überhaupt keine Selbstbestimmung möglich, bzw. sie kann eigentlich nur in der Verweigerung der Norm bestehen?
Zeigt uns diese letzte Wendung womöglich auch noch, dass soziale Anerkennung eine notwendige Bedingung für die Realisierung von Selbstbestimmung ist? Kann man erwarten, dass unsere Person „offline“ geht, wenn sie dafür von niemandem respektiert und anerkannt wird, wenn ihr Streben nach Selbstbestimmung nicht von anderen wertgeschätzt wird?
Abrüsten und festhalten
Desto weiter Sie jetzt gerade mitgegangen sind, desto anspruchsvoller, komplexer und stärker ist Ihr Verständnis von Selbstbestimmung. Was nicht notwendig bedeutet, ein übertrieben idealistisches Verständnis zu haben. Schließlich muss man ja nicht davon ausgehen, dass das mit der Selbstbestimmung stets und in jedem Lebensbereich klappt. Sie kann sich lokal, d.h. in einzelnen Bereichen realisieren, sie muss nicht als „totale“ – immer und in allen Lebensbereichen – verstanden werden. Sie ist dann graduell und stets nur als ein bewegliches Mischverhältnis von Selbst- und Fremdbestimmung zu haben. Ein starkes und anspruchsvolles Verständnis von Selbstbestimmung mag als Ansporn dienen, selber und mit anderen einiges dafür zu tun: sich Spielräume zu erarbeiten und Gesellschaft politisch so zu gestalten, damit Selbstbestimmung so weit wie eben möglich gelingt. Das Verständnis sollte allerdings nicht zu stark und zu anspruchsvoll sein, sodass es kaum noch jemand erfüllen kann. Es bedarf eines abgerüsteten und nicht-illusionären Verständnis von Selbstbestimmung, mit dem man sowohl an dem humanistischen Impuls eines selbstbestimmten Lebens festhalten kann, als auch die heteronomen Seiten des menschlichen Lebens nicht übergeht.
Die ausführliche Fassung des Beitrages ist erschienen in:
Ralf Schöppner (Hrsg.): Humanistische Identität heute – Humanismus zwischen Universalismus und Identitätspolitik. Band 12 der Schriftenreihe der Humanistischen Akademie Berlin-Brandenburg, Alibri-Verlag, Aschaffenburg 2019.