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Humanistische Werte jenseits von Gehorsam

Corona: Grenze der humanistischen Selbstbestimmung?

Polizisten
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Beitragsbild: Pixabay/Markus Spiske

Wer im Laufe der noch immer andauernden Corona-Pandemie die unterschiedlichen Diskurse in sozialen Netzwerken verfolgt hat, wird häufiger auf ein Zitat von Hannah Arendt gestoßen sein: „Kein Mensch hat das Recht zu gehorchen“. Im Kontext der Maßnahmen zu Eindämmung der Pandemie wird es benutzt, um auf die massivsten Grundrechtseinschränkungen von Bürgerinnen und Bürgern seit Weltkriegsende hinzuweisen. Mit unterschiedlichen Intentionen.

Aus huma­nis­ti­scher Sicht kann das Zitat als ver­nunft­ba­sier­tes Kor­rek­tiv zu poli­ti­schen Ent­schei­dun­gen gele­sen wer­den und mit­hin als eine Grund­vor­aus­set­zung frei­heit­lich-demo­kra­ti­scher Ver­fasst­heit ver­stan­den wer­den. Der Staat kön­ne nicht auf den Gehor­sam der Bevöl­ke­rung bau­en, son­dern müs­se sich in sei­nem Han­deln ver­ant­wor­ten und gera­de­zu mit Unge­hor­sam rech­nen. Die huma­nis­ti­sche Les­art führt zu einer fra­gen­den, gar hin­ter­fra­gen­den Hal­tung aus der Posi­ti­on her­aus, sich nicht hin­ter Gehor­sam ver­ste­cken zu wol­len.

Han­nah Are­ndt wird in den sozia­len Medi­en mit ihren Wor­ten aber eben auch zitiert, um kon­kret zum Wider­stand gegen die Maß­nah­men der Bun­des­re­gie­rung wie Kon­takt­be­schrän­kun­gen, Ver­bo­te von Demons­tra­tio­nen und Qua­ran­tä­ne­be­stim­mun­gen auf­zu­ru­fen. Das ver­meint­lich abge­spro­che­ne Recht, zu gehor­chen, wird zum Auf­ruf zu Unge­hor­sam und Wider­stand. Ver­schwö­rungs­nar­ra­ti­ve bil­den dabei den Nähr­bo­den für grund­sätz­li­ches Miss­trau­en gegen­über staat­li­chen Ein­däm­mungs­maß­nah­men, wis­sen­schaft­li­chen und medi­zi­ni­schen Exper­ti­sen und letzt­lich gegen­über all jenen Bevöl­ke­rungs­tei­len, die die Ein­schrän­kun­gen unter teils gro­ßem per­sön­li­chen Ver­zicht und star­ken Belas­tun­gen den­noch befür­wor­ten und ein­hal­ten.

Das Falschzitat

Nur: Han­nah Are­ndt hat den ihr zuge­schrie­be­nen Satz so nie gesagt und vor allem nicht so gemeint. In jenem Radio­in­ter­view, das sie Joa­chim Fest 1964 gab und in dem der Satz fiel, ging es um Adolf Eich­mann und des­sen Behaup­tung, er habe stets im Sin­ne der Moral­vor­stel­lun­gen von Kant gehan­delt und aus dem Pflicht­be­griff bei Kant den unbe­ding­ten Gehor­sam gegen­über den Befeh­len (die Orga­ni­sa­ti­on von Ver­fol­gung, Ver­trei­bung, Depor­ta­ti­on und Mas­sen­mord an Mil­lio­nen Men­schen, die meis­ten von ihnen Juden) her­ge­lei­tet. Are­ndt ant­wor­tet:

Ja. Natür­lich eine Unver­schämt­heit, nicht? Von Herrn Eich­mann. Kants gan­ze Moral läuft doch dar­auf hin­aus, dass jeder Mensch bei jeder Hand­lung sich selbst über­le­gen muss, ob die Maxi­me sei­nes Han­delns zum all­ge­mei­nen Gesetz wer­den kann. […] Es ist ja gera­de sozu­sa­gen das extrem Umge­kehr­te des Gehor­sams! Jeder ist Gesetz­ge­ber. Kein Mensch hat bei Kant das Recht zu gehor­chen.“ [Her­vor­he­bung durch den Autor]

Das oben genann­te Zitat ist nur und aus­schließ­lich im Kon­text von Kants Maxi­me ver­ständ­lich. Denn genau dadurch ergibt sich eine auf­klä­re­ri­sche Sinn­haf­tig­keit im Ver­hält­nis von Gehor­sam und mora­li­schem Han­deln. Der kate­go­ri­sche Impe­ra­tiv Kants for­dert ein mora­li­sches Han­deln zum Woh­le der All­ge­mein­heit. Dage­gen kann es, so Are­ndt, kein Recht auf Gehor­sam geben.

Das Recht auf Vertrauen

Eine der fun­da­men­ta­len Säu­len des Huma­nis­mus ist zwei­fels­oh­ne der Anspruch, ver­nunft­ge­lei­te­te Ent­schei­dun­gen zu tref­fen, und in die­sem Sinn selbst­be­stimmt zu leben. Ange­sichts der Grund­rechts­ein­schrän­kun­gen im Zuge der Coro­na-Pan­de­mie sehen sich auch Huma­nis­tin­nen und Huma­nis­ten her­aus­ge­for­dert, abzu­wä­gen, inwie­fern die Maß­nah­men ange­mes­sen sind. Die Geschwin­dig­keit der Aus­brei­tung der Pan­de­mie hat uns den Atem ver­schla­gen und über wei­te Tei­le die poli­ti­schen Ent­schei­dun­gen und auch viro­lo­gi­schen oder epi­de­mio­lo­gi­schen Erkennt­nis­se nicht mehr nach­voll­zieh­bar gemacht. Zwar ist der wis­sen­schaft­li­che Dis­kurs wie nie zuvor der­art offen in der Gesell­schaft wahr­nehm­bar, doch das kom­mu­ni­ka­ti­ve Kon­zen­trat über R‑Werte, Ver­dopp­lungs­zah­len, Zah­len von Todes­fäl­len und deren Inter­de­pen­den­zen bil­det – selbst, wenn es ten­den­zi­ell infor­mie­ren kann – kei­ne aus­rei­chen­de Grund­la­ge für selbst­be­stimm­te Ent­schei­dun­gen. Die Kom­ple­xi­tät des pan­de­mi­schen Gesche­hens und die Dring­lich­keit des Han­delns sind dafür zu hoch.

Wie kann ange­sichts der unge­heu­ren Dyna­mik im Kri­sen­mo­dus aber über­haupt eine ver­nunft­ba­sier­te huma­nis­ti­sche und per­sön­li­che Posi­tio­nie­rung zu den ein­zel­nen Maß­nah­men erfol­gen? Wie kann eine sach­li­che Ein­ord­nung der Grund­rechts­ein­schrän­kun­gen indi­vi­du­ell nach­voll­zo­gen und bewer­tet wer­den – und zur selbst­be­stimm­ten Hand­lung füh­ren?

Die Ant­wort ist schlicht: Es geht nicht. Es geht nicht ohne Ver­trau­en. Das mag eine Pro­vo­ka­ti­on für das huma­nis­ti­sche Selbst­ver­ständ­nis sein. Aber eigent­lich wird hier nur ein tra­di­tio­nel­les phi­lo­so­phi­sches Pro­blem im Kon­kre­ten aktua­li­siert: die Insuf­fi­zi­enz mensch­li­cher Erkennt­nis. Mora­li­sche Ent­schei­dun­gen sind damit grund­sätz­lich auch bedingt und Stück­werk.

Wohl aber lässt sich Ver­trau­en bezie­hungs­wei­se Miss­trau­en auf sach­li­che Grün­de hin über­prü­fen. Die Fra­ge, an der sich die indi­vi­du­el­le Hal­tung in der Coro­na-Pan­de­mie ent­schei­det, lau­tet also: Kann ich der Bun­des­re­gie­rung und den wis­sen­schaft­li­chen Insti­tu­tio­nen wie dem Robert-Koch-Insti­tut hin­sicht­lich ihrer Ein­schät­zung der pan­de­mi­schen Lage trau­en? Und fol­ge ich den Emp­feh­lun­gen oder Vor­schrif­ten?

Die Corona-Maxime

Are­ndt hät­te dies bejaht. Der Schutz von Leben und Gesund­heit als hoher – und zwar all­ge­mei­ner – Wert lässt eben kein ande­res Han­deln im Sin­ne des kate­go­ri­schen Impe­ra­ti­ves Kants zu. Die­se Per­spek­ti­ve wird umso bedeut­sa­mer ange­sichts der Tat­sa­che, dass vie­le Men­schen in sys­tem­re­le­van­ten Beru­fen, Medi­zin, Schu­le, Kitas, Sozi­al­diens­te, Poli­zei, Feu­er­wehr etc., in die­ser Zeit unbe­dingt im Ein­satz sein müs­sen, damit die Gesell­schaft nicht kol­la­biert. Damit die­se tätig sein kön­nen, müs­sen alle ande­ren sich ein­schrän­ken. Die­se Ent­schei­dung ist kei­nes­wegs Aus­druck eines Gehor­sams, son­dern viel­mehr ein Akt der Selbst­be­stimmt­heit, sich auch im Ange­sicht von Unsi­cher­heit auf das Recht des Ver­trau­ens zu besin­nen.

Die Coro­na-Maxi­me lau­tet daher: Hand­le stets so, dass du durch dein Han­deln nie­man­den ansteckst. Das ist kein Gehor­sam. Das gebie­tet die Ver­nunft – in Ver­trau­en auf die rich­ti­gen Ent­schei­dun­gen und stets vor­läu­fi­gen Erkennt­nis­se in Poli­tik und Wis­sen­schaft.

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