Aus humanistischer Sicht kann das Zitat als vernunftbasiertes Korrektiv zu politischen Entscheidungen gelesen werden und mithin als eine Grundvoraussetzung freiheitlich-demokratischer Verfasstheit verstanden werden. Der Staat könne nicht auf den Gehorsam der Bevölkerung bauen, sondern müsse sich in seinem Handeln verantworten und geradezu mit Ungehorsam rechnen. Die humanistische Lesart führt zu einer fragenden, gar hinterfragenden Haltung aus der Position heraus, sich nicht hinter Gehorsam verstecken zu wollen.
Hannah Arendt wird in den sozialen Medien mit ihren Worten aber eben auch zitiert, um konkret zum Widerstand gegen die Maßnahmen der Bundesregierung wie Kontaktbeschränkungen, Verbote von Demonstrationen und Quarantänebestimmungen aufzurufen. Das vermeintlich abgesprochene Recht, zu gehorchen, wird zum Aufruf zu Ungehorsam und Widerstand. Verschwörungsnarrative bilden dabei den Nährboden für grundsätzliches Misstrauen gegenüber staatlichen Eindämmungsmaßnahmen, wissenschaftlichen und medizinischen Expertisen und letztlich gegenüber all jenen Bevölkerungsteilen, die die Einschränkungen unter teils großem persönlichen Verzicht und starken Belastungen dennoch befürworten und einhalten.
Das Falschzitat
Nur: Hannah Arendt hat den ihr zugeschriebenen Satz so nie gesagt und vor allem nicht so gemeint. In jenem Radiointerview, das sie Joachim Fest 1964 gab und in dem der Satz fiel, ging es um Adolf Eichmann und dessen Behauptung, er habe stets im Sinne der Moralvorstellungen von Kant gehandelt und aus dem Pflichtbegriff bei Kant den unbedingten Gehorsam gegenüber den Befehlen (die Organisation von Verfolgung, Vertreibung, Deportation und Massenmord an Millionen Menschen, die meisten von ihnen Juden) hergeleitet. Arendt antwortet:
„Ja. Natürlich eine Unverschämtheit, nicht? Von Herrn Eichmann. Kants ganze Moral läuft doch darauf hinaus, dass jeder Mensch bei jeder Handlung sich selbst überlegen muss, ob die Maxime seines Handelns zum allgemeinen Gesetz werden kann. […] Es ist ja gerade sozusagen das extrem Umgekehrte des Gehorsams! Jeder ist Gesetzgeber. Kein Mensch hat bei Kant das Recht zu gehorchen.“ [Hervorhebung durch den Autor]
Das oben genannte Zitat ist nur und ausschließlich im Kontext von Kants Maxime verständlich. Denn genau dadurch ergibt sich eine aufklärerische Sinnhaftigkeit im Verhältnis von Gehorsam und moralischem Handeln. Der kategorische Imperativ Kants fordert ein moralisches Handeln zum Wohle der Allgemeinheit. Dagegen kann es, so Arendt, kein Recht auf Gehorsam geben.
Das Recht auf Vertrauen
Eine der fundamentalen Säulen des Humanismus ist zweifelsohne der Anspruch, vernunftgeleitete Entscheidungen zu treffen, und in diesem Sinn selbstbestimmt zu leben. Angesichts der Grundrechtseinschränkungen im Zuge der Corona-Pandemie sehen sich auch Humanistinnen und Humanisten herausgefordert, abzuwägen, inwiefern die Maßnahmen angemessen sind. Die Geschwindigkeit der Ausbreitung der Pandemie hat uns den Atem verschlagen und über weite Teile die politischen Entscheidungen und auch virologischen oder epidemiologischen Erkenntnisse nicht mehr nachvollziehbar gemacht. Zwar ist der wissenschaftliche Diskurs wie nie zuvor derart offen in der Gesellschaft wahrnehmbar, doch das kommunikative Konzentrat über R‑Werte, Verdopplungszahlen, Zahlen von Todesfällen und deren Interdependenzen bildet – selbst, wenn es tendenziell informieren kann – keine ausreichende Grundlage für selbstbestimmte Entscheidungen. Die Komplexität des pandemischen Geschehens und die Dringlichkeit des Handelns sind dafür zu hoch.
Wie kann angesichts der ungeheuren Dynamik im Krisenmodus aber überhaupt eine vernunftbasierte humanistische und persönliche Positionierung zu den einzelnen Maßnahmen erfolgen? Wie kann eine sachliche Einordnung der Grundrechtseinschränkungen individuell nachvollzogen und bewertet werden – und zur selbstbestimmten Handlung führen?
Die Antwort ist schlicht: Es geht nicht. Es geht nicht ohne Vertrauen. Das mag eine Provokation für das humanistische Selbstverständnis sein. Aber eigentlich wird hier nur ein traditionelles philosophisches Problem im Konkreten aktualisiert: die Insuffizienz menschlicher Erkenntnis. Moralische Entscheidungen sind damit grundsätzlich auch bedingt und Stückwerk.
Wohl aber lässt sich Vertrauen beziehungsweise Misstrauen auf sachliche Gründe hin überprüfen. Die Frage, an der sich die individuelle Haltung in der Corona-Pandemie entscheidet, lautet also: Kann ich der Bundesregierung und den wissenschaftlichen Institutionen wie dem Robert-Koch-Institut hinsichtlich ihrer Einschätzung der pandemischen Lage trauen? Und folge ich den Empfehlungen oder Vorschriften?
Die Corona-Maxime
Arendt hätte dies bejaht. Der Schutz von Leben und Gesundheit als hoher – und zwar allgemeiner – Wert lässt eben kein anderes Handeln im Sinne des kategorischen Imperatives Kants zu. Diese Perspektive wird umso bedeutsamer angesichts der Tatsache, dass viele Menschen in systemrelevanten Berufen, Medizin, Schule, Kitas, Sozialdienste, Polizei, Feuerwehr etc., in dieser Zeit unbedingt im Einsatz sein müssen, damit die Gesellschaft nicht kollabiert. Damit diese tätig sein können, müssen alle anderen sich einschränken. Diese Entscheidung ist keineswegs Ausdruck eines Gehorsams, sondern vielmehr ein Akt der Selbstbestimmtheit, sich auch im Angesicht von Unsicherheit auf das Recht des Vertrauens zu besinnen.
Die Corona-Maxime lautet daher: Handle stets so, dass du durch dein Handeln niemanden ansteckst. Das ist kein Gehorsam. Das gebietet die Vernunft – in Vertrauen auf die richtigen Entscheidungen und stets vorläufigen Erkenntnisse in Politik und Wissenschaft.