Dass wir die Umwelt schützen, die Erderwärmung minimieren und die Arten erhalten sollen, scheint den meisten selbstverständlich. Doch im gesellschaftlichen Diskurs finden sich nur zwei Gründe: Erstens, wir zerstören unsere eigene Lebensgrundlage; wir sägen also auf dem Ast, auf dem wir sitzen. Diesen Einwand versucht man durch technische Lösungen zu begegnen, um ein „Weiter so“ zu ermöglichen. Der zweite Grund läuft unter dem Schlagwort „Bewahrung der Schöpfung“ und ist nicht nur durch seine religiöse Prägung problematisch.
Doch welche Gründe können wir Humanist*innen nennen? Im Folgenden sollen zwei Antwortperspektiven beschrieben werden.
Das erste Argument möchte ich anthropologisch nennen, denn es ist inspiriert von der Philosophischen Anthropologie Helmuth Plessners. Die zentrale Frage, „Was ist der Mensch?“, hat bekanntlich bereits zu vielen Antworten geführt. Sie liegen dabei in einem Spannungsfeld, bei dem auf der einen Seite der Mensch in die Naturgeschichte eingeordnet wird – der Mensch ist letztlich auch ein Lebewesen unter vielen Lebewesen. Auf der anderen Seite wird die Besonderheit des Menschen gegenüber anderen Lebewesen betont, also der Fokus auf die Differenz von Mensch und Natur gelenkt.
Der Mensch trägt Verantwortung für die Natur
Beide Momente dieses ambivalenten Verhältnisses sind richtig: Wir sind Teil der Natur und von ihr abhängig. Zugleich sind wir diejenigen Wesen, die die Zusammenhänge der Natur erkennen und in vielfältiger Weise mit ihr umgehen können. Die Erkenntnis unseres zerstörerischen Umgangs mit der Natur betrifft uns selbst unmittelbar, macht uns aber auch in einer besonderen Weise verantwortlich. Denn nur wir Menschen sind uns über die Konsequenzen unseres Handelns bewusst und können somit für unser Handeln verantwortlich gemacht werden. Nun sind wir in der Situation, dass nicht ein einzelnes Individuum verantwortlich gemacht werden kann, sondern dass ein Handeln von vielen Einzelnen und von Gemeinschaften (industrialisierte Länder) Veränderungen auf der gesamten Welt hervorrufen, deren Folgen alle Lebewesen betrifft. Damit wird es schwierig, jeden Einzelnen angemessen zur Verantwortung zu ziehen. Es gilt vielmehr umgekehrt, unser gemeinsames Handeln auf verschiedenen Ebenen in seiner Macht einzusehen. Wir sollten deshalb nicht nur auf die Kraft des individuellen Handelns von vielen setzen, sondern gemeinsame und institutionelle Lösungen anstreben.
Die Natur, zu der wir auch gehören und die wir schützen wollen, ist die lebendige Natur. Sie zu erklären, ist in erster Linie Aufgabe der Naturwissenschaften. Durch das Erkennen kausaler Zusammenhänge haben wir vieles über die Welt und uns selbst erfahren. Doch die Natur, der wir begegnen, wird von uns anders erfahren. Es ist faszinierend, wenn sich das Sonnenlicht in einem Wassertropfen bricht, es ist wundervoll, dem Konzert der Vögel am frühen Morgen zu lauschen. Es gibt vielfältige Erlebnisse, die zeigen, dass wir von der Natur mehr berührt und anders berührt werden, als wir es mit kausalen Erklärungsmustern zeigen können.
Die Verwendung des Begriffs „lebendig“ zeugt von dieser Vielgestaltigkeit. Denn lebendig ist beispielsweise die Sprache oder die Musik, wenn sie mitreißt, das Bild, wenn es nicht starr ist. Lebendig sind vor allem Dinge, die sich bewegen und verändern. Lebendigkeit bedeutet Offenheit und Unabgeschlossenheit. „Leben heißt Veränderung“, ist ein viel zitierter Satz.
Das in diesen Überlegungen zum Lebendigen steckende Argument möchte ich gerne ein „humanistisches Argument“ nennen, denn es verweist auf die Idee der Unergründlichkeit, die sich schon in den Überlegungen des Renaissance-Humanisten Pico della Mirandola findet und seither wesentlich den Humanismus bestimmt.
Die Evolution hat keinen Endpunkt
Natur in diesem Sinne als unergründlich zu verstehen, bedeutet sich einzugestehen, dass beispielsweise der evolutionäre Prozess nicht vorausberechnet, sondern nur im Nachhinein beschrieben werden kann. Die Natur wird damit zu einem nicht abschließenden Prozess, der immer neue Fragen bereithält.
Gerade deshalb kann Naturschutz nicht eine Bewahrung der Schöpfung bedeuten, denn das hieße, einen bestimmten Moment der Naturgeschichte festhalten zu wollen. Eigenständiger Veränderung der lebendigen Natur wäre damit ein Riegel vorgeschoben. Allein auf die Karte des technischen Fortschritts zu setzen, wäre aber genauso einseitig, weil auch dies die Möglichkeit einer offenen Entwicklung einschränkt und die Natur auf eine reine Zweckdienlichkeit für den Menschen reduziert. Natur ist somit kein festgesetztes und festgeschriebenes Etwas, sondern selbst etwas Offenes, das in einem vielfältigen Verhältnis zu uns steht: Als das, was wir auch sind und als das ganz andere unserer selbst. Die unterschiedlichen Erfahrungen mit und Sichtweisen auf die Natur zeugen davon, dass wir vielfältig in die Natur eingewoben sind und sie uns vielgestaltig gegenübertritt.
Indem wir die offene und unbestimmte Entwicklung ermöglichen, treten wir erst in einen respektvollen Umgang mit der Natur. Und indem wir uns als diejenigen Wesen erkennen, die sich aus dem Prozess der Natur erheben und indem wir Gesetzmäßigkeiten durchschauen, sind wir zugleich diejenigen, die für das Handeln verantwortlich gemacht werden können und müssen. Unsere Macht liegt darin, dass wir im Handeln unsere Welt gestalten, das gilt für Gesellschaft und Politik genauso wie für die kulturelle und die lebendige Welt.