Santa Maria della Salute! – So lautet der Name der venezianischen Kirche an der Südspitze des Canal Grande. Die Basilika aus dem 17. Jahrhundert wurde wie die ganze Stadt auf Holzpfählen errichtet. 12.000 Eichenstämme bildeten das Fundament allein von diesem Kirchenbau. Überhaupt war Venedigs Holzbedarf enorm. Köhler, Schmieden und Pechsieder verlangten nach dem Rohstoff genauso wie die Werft der Markusrepublik. Besagte Industrieanlage war eine der größten Europas.
Bereits 200 Jahre zuvor hatte der venezianische Senat die Notwendigkeit nachhaltigen Wirtschaftens erkannt. Seit 1458 unterhielt man eine Forstbehörde, die 1630 intervenierte, als es an den Bau der Santa Maria ging. Die Staatsforste auf dem Festland hätten den Eingriff nicht mehr verkraftet. Weil man aber Gott gegenüber ein Versprechen gemacht hatte, die Kirche zu errichten, hielt man an den Plänen fest. So ließ man das Holz zu einem Vielfachen des eigentlichen Preises importieren.
Genützt hat es nichts. Schon bald war Venedig wieder verstärkt auf die eigenen Ressourcen angewiesen; denn die Wirtschaftsbeziehungen der Markusrepublik schrumpften. Der transatlantische Überseehandel, den die westlichen und nördlichen Länder Europas aufgrund zunehmender Koloniegründungen ausbauten, machte den Venezianern seit Anfang des 17. Jahrhunderts immer stärker Konkurrenz. Um einen Kollaps des Ökosystems Wald zu verhindern, griff die venezianische Regierung 1668 zu einer drastischen Maßnahme. Der illegale Holzschlag, aber auch das bloße Betreten der Forste war nun bei Todesstrafe verboten.
Was dem Menschen zum Verhängnis wird, ist die Unfähigkeit, das eigene Wachstum zu beherrschen
Zur gleichen Zeit bediente man sich auch in Großbritannien der Strategie, durch Importe die eigenen Ressourcen zu schonen; denn der Ausbau zur Seemacht hatte dort ebenfalls die Wälder schrumpfen lassen. Bereits zuvor waren die Anstrengungen, die die Briten in den amerikanischen Kolonien unternahmen, auf eine nackte Ausbeutung der natürlichen Rohstoffe angelegt. Dies ging einher mit Sklaverei und der Vernichtung der indigenen Bevölkerung. Ab Mitte des 17. Jahrhunderts wurde dann verstärkt Holz nach Großbritannien importiert. Doch auch mit dieser Rohstoffgier war der Gipfel der Maßlosigkeit noch nicht erreicht. Was als merkantile Stärkung des Außenhandels innerhalb feudaler Grenzen begann, entwickelte während der Industrialisierung des 18. Jahrhunderts zunehmend ein Eigenleben. Um mit Marx zu sprechen: „Jetzt wird der Handel [zum] Diener der industriellen Produktion, für [den] die beständige Erweiterung des Markts Lebensbedingung ist.
An diesem Zustand hat sich bis heute nichts geändert. Zum Vergleich: Ursprünglich war Handel ein Mittel, um existenzielle Bedürfnisse zu befriedigen, die man aus eigenen Anstrengungen nicht hat stillen können. Naiv gesprochen: Brauchte man Weizen, wurde Weizen nachgefragt; gab es genug Weizen, wurden alle satt und der Markt kam in gesunder Weise zum Erliegen. Ein solcher Idealzustand des maßvollen Warenverkehrs scheint heute unvorstellbar; denn unser kapitalistisches System, an das wir so gewöhnt sind, zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass es Bedürfnisse über den notwendigen Bedarf hinaus künstlich erzeugt. Geräte werden mitunter so hergestellt, dass sie frühzeitig verschleißen, was uns zum Neukauf nötigt. Überhaupt sind die meisten Produkte schlichtweg überflüssig. Werbung bombardiert uns aller Orten. Die globalen Produktschöpfungsgeflechte sind undurchschaubar. All das verschleiert uns die Sicht auf die tatsächlichen Bedingungen der Produktion. Heute wie damals erscheint uns das Leben in unserer Überflussgesellschaft lediglich als verantwortungsvoll, weil wir die tatsächliche Ausbeutung nicht vor Augen haben (wollen).
Wir leben über unsere Verhältnisse. Das haben wir immer getan
Den Preis für unseren maßlosen Wohlstand zahlen zunächst andere. Letztlich leidet jedoch die ganze Menschheit und mit uns alle Lebewesen des Planeten. Es gilt, den eigenen ökologischen Fuß- und CO₂-Abdruck so gering wie möglich zu halten und globale Wertschöpfungsketten in eine lokale Kreislaufwirtschaft (Cradle to Cradle) umzuwandeln. Bei diesem Verfahren werden Produkte so konzipiert, dass sich all ihre Bestandteile entweder in die Natur zurückführen oder in anderen Produkten wiederverwerten lassen.
Überhaupt sind die Versuche des Einzelnen, sich bezüglich des eigenen Verbraucherverhaltens in Disziplin zu üben, nur bedingt von Erfolg gekrönt. Erfolgversprechender ist es, wenn wir uns die Konsequenzen des Wachstums in aller wahrheitsliebenden Drastik vor Augen halten, um uns dann die Schranken für unser maßloses Handeln selbst, und zwar per Gesetz aufzuerlegen.
Die Humanistischen Verbände sind gefordert, den Kampf gegen die strukturelle Ignoranz zu führen
Als Interessengemeinschaft der Vernünftigen ist es unsere Aufgabe, jene notwendigen und gewollten Einschnitte, die sich von echten Gründen und Mehrheiten tragen lassen, als Regeln in einem neuen Gesellschaftsvertrag zu verankern. Dies ist ein gesamtgesellschaftliches Anliegen. Dabei müssen wir alle Bürgerinnen und Bürger mitnehmen und uns jenen anschließen, die die besten Ideen bereits entwickelt haben. Über die Verbandsgrenzen hinaus gilt es, per Gesetzesinitiative ökologische Alternativen zu befördern, die vielleicht nicht jetzt, aber doch in Zukunft für unsere Kinder einen Mehrwert stiften, damit sie uns nicht verfluchen, sondern unsere Epoche als wirklich fortschrittlich in Erinnerung behalten.
Fortschritt meint dabei nicht mehr ein „Höher, Schneller, Weiter”. Echter Fortschritt gemessen an Wohlstand und Lebensqualität, die er uns verspricht, muss zukünftig definiert werden durch unsere Fähigkeit, maßzuhalten.
Wir brauchen eine geregelte Maßgabe unseres Handelns
Die Ethik dazu existiert seit der Antike. Vergegenwärtigt wurde sie mitunter auch schon im Venedig der Renaissance, und zwar zu jener Zeit, als die venezianische Forstbehörde gegründet wurde. Der damals aufkommende Buchdruck hatte das Interesse am griechischen Geisteserbe befördert. Noch heute lässt sich mit den Inhalten dieser Philosophie unser Machbarkeitswahn als etwas Unmenschliches, weil Göttliches begreifen, das sich für einen Menschen nicht gehört.
Eine solche Hybris war der größte moralische Frevel, den man im antiken Griechenland vor allem an sich selbst hat begehen können. Es ist die Anmaßung, sich als gottgleich zu begreifen, indem man sich von den irdischen Konsequenzen seines Handelns entbunden glaubt. „Hybris”, aktualisierte schon vor uns Friedrich Nietzsche, „ist heute unsere ganze Stellung zur Natur, unsere Naturvergewaltigung mit Hilfe der Maschinen und der so unbedenklichen Techniker- und Ingenieurerfindsamkeit.”
Die altgriechische (dramatische) Literatur wird in vielfältiger Weise vom Thema der Hybris durchspielt. Ihr gegenüber steht die Sophrosyne – das Maßhalten, die Besonnenheit. Als Mittel zur Einsicht dient die Selbsterkenntnis, durch die der Mensch seine tatsächlich fragile Kondition begreift. Mit der Katastrophe vor Augen muss er erkennen, dass sein Leid und das Leid der anderen dem eigenen anmaßenden Verhalten geschuldet ist.
Die antike Literatur erinnert uns noch heute an die zeitlose Qualität der altgriechischen Philosophie. In ihr findet sich besagtes Prinzip, das es in allen Lebensbereichen zu verwirklichen gilt. Die literarische Kunst macht es vor. Bei dem Menschlichsten im Menschen (gemeint sind Anteilnahme, Mitmenschlichkeit) handelt es sich um Attribute des Maßhaltens und der Rücksichtnahme. In ihnen gelangt das Bewusstsein für die eigene Verantwortung überhaupt erst zum Ausdruck und zur Reife.
Dieser Tage ist Venedig bedrohter denn je
Unsere globale Maßlosigkeit und der daraus resultierende Klimawandel lässt den Meeresspiegel steigen. Der Gigantismus der Luxusliner, die vor der Lagune kreuzen, ist das Sinnbild unseres Überflusses – vor dem Hintergrund einer sinkenden Stadt.