In der Corona- wie auch der Klimakrise sind die Wissenschaften besonders gefragt, doch speziell im Fall „Corona“ werden falsche Vorstellungen über die Arbeitsweise der einschlägigen Wissenschaften deutlich.
Naturwissenschaftler „glauben“ nicht, sondern stellen Hypothesen auf, die sie prüfen und zu widerlegen versuchen. Natürlich sind Hypothesen und Modelle kontrovers und vor allem durch ständige Korrektur kommen wir zu besseren Erklärungen und Prognosen. Dass der Disput dabei zur Wissenschaft gehört und nichts mit der krawalligen Streit-„Kultur“ mancher Talkshows zu tun hat, muss von vielen erst gelernt werden.
Die Beleglast liegt grundsätzlich bei dem, der die Existenz von etwas behauptet, denn Existenzaussagen sind leichter zu belegen als zu widerlegen. Die Existenz eines Einhorns kann durch Nachweis desselben belegt werden, seine Nichtexistenz zu belegen ist schlicht unmöglich, wobei aus dieser Unmöglichkeit nicht seine Existenz folgt. Diesem Denkfehler begegnet man oft in Verschwörungsmythen, in denen es von unbelegten Existenzbehauptungen nur so wimmelt und man überlege sich die Konsequenzen, wenn wir alles gelten lassen müssten, was wir nicht widerlegen können.
Vorgeworfen wird Wissenschaftlern und Fachleuten Einseitigkeit und Alleinvertretungsanspruch (Biologismus- und Reduktionismusvorwurf) sowie Widersprüchlichkeit und Mehrdeutigkeit. Letztere entstehen aus einem Bedürfnis nach Eindeutigkeit sowie Sicherheit und werden formuliert in Sätzen wie „Drei Experten – drei Auffassungen“, „Virologen ändern alle paar Tage ihre Meinung“, und so weiter.
Von all dieser Kritik war zu Beginn der Pandemie noch nichts zu hören. In der von Angst und Ungewissheit geprägten Anfangsphase wurde plötzlich Wissenschaft wichtig und den Wissenschaftler und Experten wurde wie selten zuvor zugehört und mit hohen Erwartungen begegnet.
Die Erkenntnisse der Virologen und Epidemiologen führten hinsichtlich SARS-CoV‑2 bzw. COVID-19 zu erfolgreichen Handlungsanweisen und einem günstigeren Verlauf des Infektionsgeschehens in Deutschland. Trotzdem – oder vielleicht muss man sagen, gerade weil die Maßnahmen erfolgreich waren – kam es nach einigen Wochen zunehmender Belastung durch die Einschränkungen allmählich zur Kritik an Wissenschaftlern und Fachleuten. Der Wissenschaftsjournalist Ranga Yogeshwar kommentierte die Situation mit dem Satz: „Wir schaffen die Feuerwehr ab, denn es hat nicht gebrannt“.
Doch Teile der Bevölkerung hatten die Einschränkungen offenbar satt („ich lass‘ mich nicht einsperren“, der „Mundschutz ist ein Maulkorb“), Wirtschaftsverbände sahen den „drohenden Zusammenbruch der Wirtschaft“, Politiker fürchteten um Stimmen usw. und es entstand eine ethische Diskussion um die Berechtigung der unter anderem die Freizügigkeit einschränkenden Maßnahmen.
Die ethische Debatte – Formale und inhaltliche Begründungen
Wissenschaftler geben wissenschaftlich begründete Empfehlungen. Wie aber werden die daraus resultierenden Handlungsnormen moralisch gerechtfertigt?
Neben den inhaltlichen Grundnormen (Grundrechte), auf die die Begründung moralischer Handlungsvorschriften zurückgeführt werden kann, gibt es formale Anforderungen, denen moralische Normen und ihre Begründungen genügen müssen.
So kann man für die Auffassung nicht vernünftig argumentieren, selbst etwas tun zu dürfen, was man, wäre man von den Folgen dieses Tuns betroffen, ablehnen würde (Anforderung der Gleichbeurteilung gleicher Fälle). Zum Beispiel könnte man angesichts der Tatsache, dass das Tragen einer Mund-Nasen-Maske, die für andere eine Schutzwirkung hat, nicht vernünftig geltend machen, dass man selbst, etwa aus Unbequemlichkeitsgründen, auf das Tragen verzichtet und dennoch den Schutz genießt.
In Bezug auf den Klimaschutz ist es nicht vernünftig begründbar, heute die Umwelt durch nicht-existentielle luxuriöse Interessen zu schädigen und damit künftige Generationen irreversibel zu belasten, also in eine Lage zu versetzen, die man selbst vehement ablehnen würde.
Die Anforderung der Allgemeingültigkeit verlangt, dass moralische Normen jedermann unabhängig von besonderen Glaubensüberzeugungen einsichtig gemacht werden können. So kann eine Begründung mit einem bestimmten Glaubensgebot oder mit dem Hinweis auf nur für den Argumentierenden existierende Mächte nicht für jedermann geltend gemacht werden. Für die Befolgung der genannten Rationalitätskriterien der Ethik kann man wie auch für die wissenschaftlichen Standardforderungen nur mit Plausibilisierungen argumentieren, also in der Weise, dass man auf die unerfreulichen Folgen des Verzichts auf diese Kriterien hinweist.
Die Kritik der Maßnahmen zur Eindämmung der Infektionen wurde inhaltlich begründet mit den Grundrechten auf Leben und Unversehrtheit unter Beachtung des Infektionsschutzgesetzes. Die Kritiker der Auflagen zum Schutz vor Ansteckung durch Corona beziehen sich unter anderem auf die Freiheitsrechte.
Einschlägig ist Artikel 2 des Grundgesetzes:
(1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.
(2) Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.
Dabei bedeutet die Reihenfolge keine Priorität. Wie ist eine Abwägung der Grundrechte vorzunehmen, unter Beachtung ihrer Gleichwertigkeit? Dazu sagt das Bundesverfassungsgericht, dass das Grundrecht auf Leben und Unversehrtheit „vitale Basis der Menschenwürde und die Voraussetzung aller anderen Grundrechte ist“. Dementsprechend erlaubt das Infektionsschutzgesetz dem Staat notwendige Regeln zu erlassen, um die Ausbreitung des Coronavirus zu verlangsamen, wobei auch Grundrechte eingeschränkt werden dürfen. Dabei müssen die Regeln geeignet, erforderlich, angemessen und erlaubt sein.
Entscheidungen bei Ungewissheit – Risikoethik
Aber nicht nur die Beachtung der Verhältnismäßigkeit ist bei der Auswahl der Maßnahmen gefordert, sondern zu berücksichtigen ist ferner, dass wir wegen der prinzipiellen Fehlbarkeit und Unsicherheit unserer Erkenntnisse nicht unter Gewissheit, sondern unter Risiko entscheiden müssen. Daher sollten die Handlungsmöglichkeiten auf Risikominimierung hin analysiert und ausgewählt und ein Vorgehen gewählt werden, das eine Korrektur erlaubt und keine unumkehrbaren Folgen hat.
So waren die Corona-Maßnahmen von Vorher- und Vorsicht geprägt und es gelang, den Verlauf der Pandemie weitgehend unter Kontrolle zu halten, wobei vermieden wurde einer sich selbst beschleunigenden Entwicklung mit ernsten Folgen ausgesetzt zu sein. Und auch für das weitere Vorgehen gilt, dass die unumgängliche ständige Korrektur und Erweiterung der Erkenntnisse im Forschungsverlauf uns zur Vorsicht mahnen bei der Wahl weiterer Maßnahmen.
Die Kosten der Untätigkeit
Daher rät der überwiegende Anteil der Wissenschaftler auch nach dem Absinken der Infektionszahlen angesichts der risikoethischen Überlegungen weiterhin zur Vorsicht. Es ist an uns einzusehen, dass, wenn bestimmte vorübergehende Einschränkungen der Freiheit nicht hingenommen werden, ein viel größerer Verlust von Freiheit drohen kann.
Dies gilt viel drängender noch für den Klimaschutz. Denn da helfen weder Abstand, Masken, kurzfristige Lockdowns noch Impfungen. Zwar werden die wissenschaftlich begründeten Befunde und Prognosen (mit Ausnahme weniger „Unbelehrbarer“) im Wesentlichen anerkannt. Aber sie lösen trotz der mit hoher Eintrittswahrscheinlichkeit – gesichert durch nahezu 99-prozentige Übereinstimmung aller weltweit damit befassten Wissenschaftler – prognostizierten dramatischen Folgen bei den politischen Entscheidungsträgern kaum entsprechende Reaktionen aus. Die Forderungen derer, die die Folgen der heutigen Unterlassungen zu spüren bekommen werden, werden oft mit dem Hinweis auf die Innovationsstärke der Wissenschaft abgespeist. „Die werden schon etwas entwickeln“ ist eine Erwartungshaltung an die Wissenschaft von denen, die lieber alles beim Alten, also bei dem belassen wollen, dessen Scheitern längst erwiesen ist.
Die Klimakrise mag (noch) nicht so sichtbar sein, wie die Corona-Pandemie. Doch ihre Auswirkungen sind bereits deutlich spürbar, vor allem im Globalen Süden, doch auch bei uns, in den Verursacherländern. Bleiben wir jetzt untätig, werden wir die massiven Folgen niemals bewältigen können, sondern stets den durch unsere Untätigkeit verursachten desaströsen Entwicklungen hinterherlaufen, mit massiven Einschränkungen unserer Lebensweise und vor allem der kommenden Generationen. Denn der Preis der bewussten und eigenverantwortlichen Einschränkungen jetzt – zum Beispiel bei Reisen, Ernährung, Mobilität – ist nahezu vernachlässigbar, gemessen am Preis der Untätigkeitsfolgen. Zwar trifft auch die Individuen wegen ihrer minimalen kausalen Beiträge eine, wenn auch begrenzte, Klimaverantwortung, aber ihre politische Wirksamkeit muss durch geeignete Aktionen, Demonstrationen, Zusammenschlüsse und Gruppenbildungen massiv verstärkt werden, um die Politik entsprechend zu beeinflussen. Wenn die Zivilgesellschaft sich mit der gleichen Bereitschaft wie in der Corona-Pandemie den für eine Erreichung der vereinbarten Klimaziele notwendigen Maßnahmen öffnet, gäbe es Grund zu Optimismus.
Aus Gründen der besseren Lesbarkeit hat sich der Autor für die Verwendung des generischen Maskulinums entschieden, weist aber darauf hin, dass durch diese Formulierungen gleichermaßen weibliche und männliche Personen umfasst werden.