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Wie lassen sich Einschränkungen unserer Freiheit ethisch begründen?

Wissenschaft und Ethik in Zeiten von Corona und Klimwandel

Fossile Brennstoffe, Industrie, Sonnenuntergang
Wissenschaften können Antworten auf die Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft liefern, schreiben aber nicht vor, was zu tun ist. Im Falle der Corona-Pandemie wurden infolge wissenschaftlicher Handlungsempfehlungen Ausgangsbeschränkungen, Abstandsregelungen oder auch die Maskenpflicht in bestimmten öffentlichen Räumen erlassen. Wie lassen sich Einschränkungen unserer Freizügigkeit oder unserer Freiheit ethisch begründen?

In der Coro­na- wie auch der Kli­ma­kri­se sind die Wis­sen­schaf­ten beson­ders gefragt, doch spe­zi­ell im Fall „Coro­na“ wer­den fal­sche Vor­stel­lun­gen über die Arbeits­wei­se der ein­schlä­gi­gen Wis­sen­schaf­ten deut­lich.

Natur­wis­sen­schaft­ler „glau­ben“ nicht, son­dern stel­len Hypo­the­sen auf, die sie prü­fen und zu wider­le­gen ver­su­chen. Natür­lich sind Hypo­the­sen und Model­le kon­tro­vers und vor allem durch stän­di­ge Kor­rek­tur kom­men wir zu bes­se­ren Erklä­run­gen und Pro­gno­sen. Dass der Dis­put dabei zur Wis­sen­schaft gehört und nichts mit der kra­wal­li­gen Streit-„Kultur“ man­cher Talk­shows zu tun hat, muss von vie­len erst gelernt wer­den.

Die Beleglast liegt grund­sätz­lich bei dem, der die Exis­tenz von etwas behaup­tet, denn Exis­tenz­aus­sa­gen sind leich­ter zu bele­gen als zu wider­le­gen. Die Exis­tenz eines Ein­horns kann durch Nach­weis des­sel­ben belegt wer­den, sei­ne Nicht­exis­tenz zu bele­gen ist schlicht unmög­lich, wobei aus die­ser Unmög­lich­keit nicht sei­ne Exis­tenz folgt. Die­sem Denk­feh­ler begeg­net man oft in Ver­schwö­rungs­my­then, in denen es von unbe­leg­ten Exis­tenz­be­haup­tun­gen nur so wim­melt und man über­le­ge sich die Kon­se­quen­zen, wenn wir alles gel­ten las­sen müss­ten, was wir nicht wider­le­gen kön­nen.

Vor­ge­wor­fen wird Wis­sen­schaft­lern und Fach­leu­ten Ein­sei­tig­keit und Allein­ver­tre­tungs­an­spruch (Bio­lo­gis­mus- und Reduk­tio­nis­mus­vor­wurf) sowie Wider­sprüch­lich­keit und Mehr­deu­tig­keit. Letz­te­re ent­ste­hen aus einem Bedürf­nis nach Ein­deu­tig­keit sowie Sicher­heit und wer­den for­mu­liert in Sät­zen wie „Drei Exper­ten – drei Auf­fas­sun­gen“, „Viro­lo­gen ändern alle paar Tage ihre Mei­nung“, und so wei­ter.

Von all die­ser Kri­tik war zu Beginn der Pan­de­mie noch nichts zu hören. In der von Angst und Unge­wiss­heit gepräg­ten Anfangs­pha­se wur­de plötz­lich Wis­sen­schaft wich­tig und den Wis­sen­schaft­ler und Exper­ten wur­de wie sel­ten zuvor zuge­hört und mit hohen Erwar­tun­gen begeg­net.

Die Erkennt­nis­se der Viro­lo­gen und Epi­de­mio­lo­gen führ­ten hin­sicht­lich SARS-CoV‑2 bzw. COVID-19 zu erfolg­rei­chen Hand­lungs­an­wei­sen und einem güns­ti­ge­ren Ver­lauf des Infek­ti­ons­ge­sche­hens in Deutsch­land. Trotz­dem – oder viel­leicht muss man sagen, gera­de weil die Maß­nah­men erfolg­reich waren – kam es nach eini­gen Wochen zuneh­men­der Belas­tung durch die Ein­schrän­kun­gen all­mäh­lich zur Kri­tik an Wis­sen­schaft­lern und Fach­leu­ten. Der Wis­sen­schafts­jour­na­list Ran­ga Yogeshwar kom­men­tier­te die Situa­ti­on mit dem Satz: „Wir schaf­fen die Feu­er­wehr ab, denn es hat nicht gebrannt“.

Doch Tei­le der Bevöl­ke­rung hat­ten die Ein­schrän­kun­gen offen­bar satt („ich lass‘ mich nicht ein­sper­ren“, der „Mund­schutz ist ein Maul­korb“), Wirt­schafts­ver­bän­de sahen den „dro­hen­den Zusam­men­bruch der Wirt­schaft“, Poli­ti­ker fürch­te­ten um Stim­men usw. und es ent­stand eine ethi­sche Dis­kus­si­on um die Berech­ti­gung der unter ande­rem die Frei­zü­gig­keit ein­schrän­ken­den Maß­nah­men.

Die ethische Debatte – Formale und inhaltliche Begründungen

Wis­sen­schaft­ler geben wis­sen­schaft­lich begrün­de­te Emp­feh­lun­gen. Wie aber wer­den die dar­aus resul­tie­ren­den Hand­lungs­nor­men mora­lisch gerecht­fer­tigt?

Neben den inhalt­li­chen Grund­nor­men (Grund­rech­te), auf die die Begrün­dung mora­li­scher Hand­lungs­vor­schrif­ten zurück­ge­führt wer­den kann, gibt es for­ma­le Anfor­de­run­gen, denen mora­li­sche Nor­men und ihre Begrün­dun­gen genü­gen müs­sen.

So kann man für die Auf­fas­sung nicht ver­nünf­tig argu­men­tie­ren, selbst etwas tun zu dür­fen, was man, wäre man von den Fol­gen die­ses Tuns betrof­fen, ableh­nen wür­de (Anfor­de­rung der Gleich­be­ur­tei­lung glei­cher Fäl­le). Zum Bei­spiel könn­te man ange­sichts der Tat­sa­che, dass das Tra­gen einer Mund-Nasen-Mas­ke, die für ande­re eine Schutz­wir­kung hat, nicht ver­nünf­tig gel­tend machen, dass man selbst, etwa aus Unbe­quem­lich­keits­grün­den, auf das Tra­gen ver­zich­tet und den­noch den Schutz genießt.

In Bezug auf den Kli­ma­schutz ist es nicht ver­nünf­tig begründ­bar, heu­te die Umwelt durch nicht-exis­ten­ti­el­le luxu­riö­se Inter­es­sen zu schä­di­gen und damit künf­ti­ge Gene­ra­tio­nen irrever­si­bel zu belas­ten, also in eine Lage zu ver­set­zen, die man selbst vehe­ment ableh­nen wür­de.

Die Anfor­de­rung der All­ge­mein­gül­tig­keit ver­langt, dass mora­li­sche Nor­men jeder­mann unab­hän­gig von beson­de­ren Glau­bens­über­zeu­gun­gen ein­sich­tig gemacht wer­den kön­nen. So kann eine Begrün­dung mit einem bestimm­ten Glau­bens­ge­bot oder mit dem Hin­weis auf nur für den Argu­men­tie­ren­den exis­tie­ren­de Mäch­te nicht für jeder­mann gel­tend gemacht wer­den. Für die Befol­gung der genann­ten Ratio­na­li­täts­kri­te­ri­en der Ethik kann man wie auch für die wis­sen­schaft­li­chen Stan­dard­for­de­run­gen nur mit Plau­si­bi­li­sie­run­gen argu­men­tie­ren, also in der Wei­se, dass man auf die uner­freu­li­chen Fol­gen des Ver­zichts auf die­se Kri­te­ri­en hin­weist.

Die Kri­tik der Maß­nah­men zur Ein­däm­mung der Infek­tio­nen wur­de inhalt­lich begrün­det mit den Grund­rech­ten auf Leben und Unver­sehrt­heit unter Beach­tung des Infek­ti­ons­schutz­ge­set­zes. Die Kri­ti­ker der Auf­la­gen zum Schutz vor Anste­ckung durch Coro­na bezie­hen sich unter ande­rem auf die Frei­heits­rech­te.

Ein­schlä­gig ist Arti­kel 2 des Grund­ge­set­zes:

(1) Jeder hat das Recht auf die freie Ent­fal­tung sei­ner Per­sön­lich­keit, soweit er nicht die Rech­te ande­rer ver­letzt und nicht gegen die ver­fas­sungs­mä­ßi­ge Ord­nung oder das Sit­ten­ge­setz ver­stößt.

(2) Jeder hat das Recht auf Leben und kör­per­li­che Unver­sehrt­heit. Die Frei­heit der Per­son ist unver­letz­lich. In die­se Rech­te darf nur auf Grund eines Geset­zes ein­ge­grif­fen wer­den.

Dabei bedeu­tet die Rei­hen­fol­ge kei­ne Prio­ri­tät. Wie ist eine Abwä­gung der Grund­rech­te vor­zu­neh­men, unter Beach­tung ihrer Gleich­wer­tig­keit? Dazu sagt das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt, dass das Grund­recht auf Leben und Unver­sehrt­heit „vita­le Basis der Men­schen­wür­de und die Vor­aus­set­zung aller ande­ren Grund­rech­te ist“. Dem­entspre­chend erlaubt das Infek­ti­ons­schutz­ge­setz dem Staat not­wen­di­ge Regeln zu erlas­sen, um die Aus­brei­tung des Coro­na­vi­rus zu ver­lang­sa­men, wobei auch Grund­rech­te ein­ge­schränkt wer­den dür­fen. Dabei müs­sen die Regeln geeig­net, erfor­der­lich, ange­mes­sen und erlaubt sein.

Entscheidungen bei Ungewissheit – Risikoethik

Aber nicht nur die Beach­tung der Ver­hält­nis­mä­ßig­keit ist bei der Aus­wahl der Maß­nah­men gefor­dert, son­dern zu berück­sich­ti­gen ist fer­ner, dass wir wegen der prin­zi­pi­el­len Fehl­bar­keit und Unsi­cher­heit unse­rer Erkennt­nis­se nicht unter Gewiss­heit, son­dern unter Risi­ko ent­schei­den müs­sen. Daher soll­ten die Hand­lungs­mög­lich­kei­ten auf Risi­ko­mi­ni­mie­rung hin ana­ly­siert und aus­ge­wählt und ein Vor­ge­hen gewählt wer­den, das eine Kor­rek­tur erlaubt und kei­ne unum­kehr­ba­ren Fol­gen hat.

So waren die Coro­na-Maß­nah­men von Vor­her- und Vor­sicht geprägt und es gelang, den Ver­lauf der Pan­de­mie weit­ge­hend unter Kon­trol­le zu hal­ten, wobei ver­mie­den wur­de einer sich selbst beschleu­ni­gen­den Ent­wick­lung mit erns­ten Fol­gen aus­ge­setzt zu sein. Und auch für das wei­te­re Vor­ge­hen gilt, dass die unum­gäng­li­che stän­di­ge Kor­rek­tur und Erwei­te­rung der Erkennt­nis­se im For­schungs­ver­lauf uns zur Vor­sicht mah­nen bei der Wahl wei­te­rer Maß­nah­men.

Die Kosten der Untätigkeit

Daher rät der über­wie­gen­de Anteil der Wis­sen­schaft­ler auch nach dem Absin­ken der Infek­ti­ons­zah­len ange­sichts der risi­koe­thi­schen Über­le­gun­gen wei­ter­hin zur Vor­sicht. Es ist an uns ein­zu­se­hen, dass, wenn bestimm­te vor­über­ge­hen­de Ein­schrän­kun­gen der Frei­heit nicht hin­ge­nom­men wer­den, ein viel grö­ße­rer Ver­lust von Frei­heit dro­hen kann.

Dies gilt viel drän­gen­der noch für den Kli­ma­schutz. Denn da hel­fen weder Abstand, Mas­ken, kurz­fris­ti­ge Lock­downs noch Imp­fun­gen. Zwar wer­den die wis­sen­schaft­lich begrün­de­ten Befun­de und Pro­gno­sen (mit Aus­nah­me weni­ger „Unbe­lehr­ba­rer“) im Wesent­li­chen aner­kannt. Aber sie lösen trotz der mit hoher Ein­tritts­wahr­schein­lich­keit – gesi­chert durch nahe­zu 99-pro­zen­ti­ge Über­ein­stim­mung aller welt­weit damit befass­ten Wis­sen­schaft­ler – pro­gnos­ti­zier­ten dra­ma­ti­schen Fol­gen bei den poli­ti­schen Ent­schei­dungs­trä­gern kaum ent­spre­chen­de Reak­tio­nen aus. Die For­de­run­gen derer, die die Fol­gen der heu­ti­gen Unter­las­sun­gen zu spü­ren bekom­men wer­den, wer­den oft mit dem Hin­weis auf die Inno­va­ti­ons­stär­ke der Wis­sen­schaft abge­speist. „Die wer­den schon etwas ent­wi­ckeln“ ist eine Erwar­tungs­hal­tung an die Wis­sen­schaft von denen, die lie­ber alles beim Alten, also bei dem belas­sen wol­len, des­sen Schei­tern längst erwie­sen ist.

Die Kli­ma­kri­se mag (noch) nicht so sicht­bar sein, wie die Coro­na-Pan­de­mie. Doch ihre Aus­wir­kun­gen sind bereits deut­lich spür­bar, vor allem im Glo­ba­len Süden, doch auch bei uns, in den Ver­ur­sach­er­län­dern. Blei­ben wir jetzt untä­tig, wer­den wir die mas­si­ven Fol­gen nie­mals bewäl­ti­gen kön­nen, son­dern stets den durch unse­re Untä­tig­keit ver­ur­sach­ten desas­trö­sen Ent­wick­lun­gen hin­ter­her­lau­fen, mit mas­si­ven Ein­schrän­kun­gen unse­rer Lebens­wei­se und vor allem der kom­men­den Gene­ra­tio­nen. Denn der Preis der bewuss­ten und eigen­ver­ant­wort­li­chen Ein­schrän­kun­gen jetzt – zum Bei­spiel bei Rei­sen, Ernäh­rung, Mobi­li­tät – ist nahe­zu ver­nach­läs­sig­bar, gemes­sen am Preis der Untä­tig­keits­fol­gen. Zwar trifft auch die Indi­vi­du­en wegen ihrer mini­ma­len kau­sa­len Bei­trä­ge eine, wenn auch begrenz­te, Kli­ma­ver­ant­wor­tung, aber ihre poli­ti­sche Wirk­sam­keit muss durch geeig­ne­te Aktio­nen, Demons­tra­tio­nen, Zusam­men­schlüs­se und Grup­pen­bil­dun­gen mas­siv ver­stärkt wer­den, um die Poli­tik ent­spre­chend zu beein­flus­sen. Wenn die Zivil­ge­sell­schaft sich mit der glei­chen Bereit­schaft wie in der Coro­na-Pan­de­mie den für eine Errei­chung der ver­ein­bar­ten Kli­ma­zie­le not­wen­di­gen Maß­nah­men öff­net, gäbe es Grund zu Opti­mis­mus.

Aus Grün­den der bes­se­ren Les­bar­keit hat sich der Autor für die Ver­wen­dung des gene­ri­schen Mas­ku­li­nums ent­schie­den, weist aber dar­auf hin, dass durch die­se For­mu­lie­run­gen glei­cher­ma­ßen weib­li­che und männ­li­che Per­so­nen umfasst wer­den.

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