In einem demokratischen Staat, in dem Bürgerinnen und Bürger selbstbestimmt leben, spielt die Toleranz eine besondere Rolle. Schließlich streben wir alle danach, uns frei zu entfalten. Doch unsere eigene Freiheit hat ihre Grenzen dort, wo sie die Freiheit der anderen berührt. Nehmen wir als Beispiel eine Hausgemeinschaft. Einzelne Mietparteien, Eigentümer und Vermieter haben unterschiedliche Interessen. Kommt es zu Kollisionen und Überschneidungen, entsteht erzwungenermaßen ein geteilter neuer Raum, den es mittels Toleranz als gemeinsamen Handlungsraum einzurichten gilt, und zwar um das Ziel des Friedens willen.
In diesem Zusammenhang ist dann auch schnell von einer Toleranzschwelle die Rede, die bei dem einen schneller überschritten ist als bei anderen. Sie ist abhängig von den eigenen Gewohnheiten und Launen, die in einem zwangsweise geteilten Raum von einer negativen Befindlichkeit bedrückt werden. Gemeint ist Ablehnung. Sie zu zähmen ist Aufgabe der Toleranz, was trotz empfundener Ablehnung mit dem Aufbringen von Respekt gelänge. Dazu bedürfe es einer „Anerkennung als andersartige Gleiche“, wie es Prof. Bernd Simon vorschlägt, der als Sozialpsychologe an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel zum Thema Toleranz forscht.
Doch im alltäglichen Umgang miteinander werden wir oft von den eigenen Befindlichkeiten gelenkt. Unsere Toleranz ist dann eine Form von Willkür. Erst in Bezug auf entsprechende Leitsätze tritt eine Prüfinstanz hinzu, die das eigene Toleranzverständnis aus dem Bereich des persönlichen Empfindens heraushebt. Ein solcher Satz muss fragen, was es denn eigentlich am anderen Menschen unbedingt zu respektieren gilt.
Ähnlich wie die Kieler Forschungsgruppe, die Toleranz über eine „Anerkennung als andersartige Gleiche“ definiert, formuliert es unser Grundgesetz. Es schreibt fest, dass niemand bevorzugt oder benachteiligt werden darf wegen „seines Geschlechts, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen.“ Ein solcher Leitsatz ist Ausdruck einer kategorischen Toleranz. Sie bezieht sich auf die individuellen Erscheinungsformen des gemeinsamen Nenners allen Menschseins. Das ist es, wovor es unbedingten Respekt zu haben gilt. Die Toleranzschwelle wird damit objektiv greifbar. Sie gelangt aus dem Bereich der Willkür ein Stück weit in den Raum rechtsstaatlicher Ordnung und wird dadurch auch erst zu einem brauchbaren Instrument, beispielsweise wenn es um den Schutz von Minderheiten geht.
Wer nach gegenseitigem Respekt und Achtung strebt, bewegt sich immer einen Schritt nach oben hin zu einer höheren Gruppenzugehörigkeit
Wir alle kennen das: In der Wohnung nebenan wird zu laut Musik gehört. Die Familie von oben parkt ihren Kinderwagen im Erdgeschoss, wo er die Briefkästen blockiert. Oder wir haben einen Nachbarn, der zur Unzeit seinen Rasen mäht. All das sind Fälle, bei denen unterschiedliche Interessen miteinander kollidieren. Jetzt kann ich Toleranz nach Gutdünken üben. Empfinde ich meine Toleranzschwelle dennoch als überschritten, wird es Zeit, den Verursacher zu stellen. Die Form, die einer gemeinsam geteilten demokratischen Lebensform dabei am besten zu Gesicht steht, ist der Austausch von Gründen, die sich auf jene Regeln beziehen, mit denen wir unser Zusammenleben ordnen und gestalten. In Ansehung der oben genannten Beispiele sind dies Hausordnungen und gesetzliche Ruhezeiten.
Doch machen wir uns nichts vor. Wir alle nehmen uns die Freiheit heraus, von Zeit zu Zeit gegen die Regeln des Zusammenlebens zu verstoßen. Wir tun es, weil wir uns in dem Augenblick nicht jener Gruppe zugehörig fühlen, der wir als Handlungsgemeinschaft eben auch angehören. Stattdessen sehen wir uns selbst im Mittelpunkt oder die Interessen unserer Familie, die mit uns eine Wohnung teilt. Deshalb haben wir weniger Respekt vor anderen, die sich außerhalb unseres eigenen kleinen Zirkels bewegen. Toleranz zu üben, bedeutet daher, eine gemeinsame höhere Gruppenzugehörigkeit zu pflegen. Bezogen auf die oben genannten Beispiele ist das die Hausgemeinschaft. Erst dann erlangen wir Respekt auf Augenhöhe, der uns für echte Argumente überhaupt erst empfänglich macht.
Das ist die aktive Haltung, die es im Umgang mit anderen einzunehmen gilt. Dabei stehen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften vor einer besonderen Herausforderung und sich oftmals eben nicht als andersartige Gleiche gegenüber. Das wird deutlich, wenn man vergleicht, wie Sprache im Humanismus und in den Verkündigungsreligionen gebraucht wird.
Qualifikation zur Demokratie bedeutet Qualifikation im Sprachgebrauch zu fördern
Humanismus ist eine demokratische Lebensform, die sich über den Austausch von Gründen entfaltet. Die Sprache hat hier zum Ziel, unsere Freiheit mit Rücksicht auf ein fühl- und messbares Leid zu organisieren, das oftmals erst durch den Gebrauch unserer Freiheiten entsteht.
Die Verkündigungsreligionen unseres Kulturraums sind anders. Sie sind ihrem Wesen nach autoritär. Sprache wird hier gebraucht, um Handlungen letztinstanzlich nicht durch Beweggründe und ihre Folgen zu bemessen, sondern durch geoffenbarte Verkündigungen zu rechtfertigen. Das gelangt in „Gott sagt …!“ zum Ausdruck. Hier ist der Bezugspunkt nicht eine objektiv wachsende Erkenntnis, die das Überwinden von Irrtümern einschließt, sondern die eigenen Vorstellungen und Neigungen, die im Göttlichen gespiegelt und verstärkt werden, um sie auch wider besseres Wissen und gegen ethische Grundsätze mit Absolutheit auszustatten und durchzusetzen. So lassen sich eben auch unmenschliche Handlungen legitimieren. Kein Land weltweit, in dem das Staats- und Rechtswesen von den Vorstellungen einer religiösen Gruppe (meist Männer) dominiert wird, ist eine Demokratie, in der anderen Gruppen und insbesondere Frauen dieselben Rechte zugebilligt werden. Das hängt direkt mit dem buchstäblich fundamental anderen Gebrauch von Sprache zusammen, der insbesondere für die Verkündigungsreligionen charakteristisch ist. Religiöse Vorbilder und religiöse Sprache qualifizieren nicht für den demokratischen Diskurs.
Doch dagegen wehrt sich unserer Demokratie, die mit ihren Begründungsmustern eben doch alle Weltanschauungen und Religionen zu tolerieren vermag, indem sie jenen Sprachgebrauch, der sich an nachvollziehbaren Beweggründen orientiert, zumindest im öffentlichen Diskurs einfordert. Erst so wird Respekt unter andersartigen Gleichen möglich und das Kultivieren eines wahrlich friedensstiftenden Bewusstseins, das im Grundgesetz mit seinem Bekenntnis zu den Menschenrechten verankert ist. Es leitet uns an, die Mannigfaltigkeit der individuellen Erscheinungsformen eines gemeinsamen Menschseins zu respektieren. Auf dieser Basis gilt es, die tatsächlich höchste Gruppenzugehörigkeit (unseren Nationalstaat) zu formen, in dem wir den Wunsch nach eigener Freiheit auch allen anderen zubilligen. Ziel ist das gemeinsame Handeln. Die Verwirklichung dessen erfolgt in unserer Demokratie über den Austausch vernünftiger Gründe dort, wo wir das Zusammenleben angesichts normativer Regeln als gestaltbar ansehen. Die Basis dafür entsteht durch gegenseitigen Respekt, der einer soziokulturellen Pflege bedarf und im Streben nach einer gemeinsamen höheren Gruppenzugehörigkeit entsteht. In Ansehung von Leitsätzen wird die Toleranz der eigenen Willkür enthoben und zu einem stabilisierenden Akt im Gemeinwesen. Echte Toleranz zeichnet sich dann dadurch aus, dass sie Ablehnung mit Respekt überwindet, indem sie eine gemeinsame, und zwar höhere Gruppenidentität mit dem Ziel des gemeinsamen Handelns um des Friedens willen aufbaut und zu erhalten sucht.