Der verwunderlichste Moment dieses Demokratie-Kongresses am 03. Oktober 2024 war nicht unbedingt, dass sich über 300 engagierte Menschen im Theaterhaus Stuttgart einfanden, um an diesem regnerischen Feiertag über Demokratie nachzudenken, mitzudiskutieren und sie damit am Leben zu halten, obschon dies schon zum Erstaunen einlud; das Verwunderlichste war, dass der Kongress in einer freundschaftlichen, ruhigen, gefassten, ja man möchte sagen gesitteten Atmosphäre stattfand.
Denn: Anlass zur Sorge, Anlass zum sofortigen Aufstehen, Aufbegehren, zum Nicht-mehr-Hinnehmen-Wollen, die gab es an diesem Tag genug. Einige davon bereits am Vormittag und in den sich gut ergänzenden Referent*innen-Vorträgen.
Prof. Dr. Füllkrug-Wenzels Standortbestimmung der Demokratie machte sehr deutlich, wie schlecht es um demokratische Strukturen weltweit beschaffen ist und wie wir in den letzten Jahren zunehmend den Kampf gegen die Autokratie eingebüßt haben. Das präsentierte Zahlenwerk traf direkt in die Magengrube, ebenso wie die Ausführungen zu den Einspar-Folgen im Bereich der Humanitären Hilfe. Der Appell zur Vernetzung der Wehrhaftigkeit und an eine Zivilgesellschaft, die sich als international verstehen sollte: Er wurde deutlich vernommen.
Ebenso deutlich hörbar waren die Worte Dr. Hendrik Cremers, der an diesem Tag nicht müde wurde, immer wieder auf die noch nicht ausreichend verbalisierte Gefahr der AfD hinzuweisen. Eine AfD, deren nationalsozialistische Ideologie als Leitgedanke fungiere; eine AfD, deren rechtsextreme Ausrichtung nicht mehr mit dem Terminus der Nation, sondern mit dem Begriff der Kultur operiere; und eine AfD, die keine Protestpartei darstelle, sondern die die freiheitliche Rechtsstaatlichkeit abschaffen wolle. Auch hier hallte ein Appell nach: Die Aufklärungsarbeit über die AfD muss dringend intensiviert werden!
Und dies ist nicht das einzige, was einer Intensivierung bedarf. Die Arbeit am Herzen muss ebenso stattfinden, hätte man über die überzeugenden Ausführungen der Autorin und Kabarettistin Elisabeth Kabatek sagen wollen. Denn sie machte klar, was handlungsorientierte Demokratie heißen muss: Vernetzung, Kommunikation, Rückeroberung des Öffentliches Raumes, Small Talk und vor allem Demokratieschutz und Demokratiepflege. Denn warum pflegen wir beispielsweise unsere Zähne regelmäßig, aber nicht die von uns allen so wertgeschätzte Politik- und Haltungsordnung der Demokratie? Dass hierfür auch Humor essentiell ist, demonstrierte Frau Kabatek dann mit einer punktgenauen Kabarett-Einlage.
Nach einer dringend benötigten und wohltuenden Stärkung über Mittag mit einer schmackhaften Suppe und ebenso schmackhaften Gesprächen zu der Vielfalt an präsentierten Themen ging es dann in eine der fünf offenen Arbeitsgruppen, in denen einzelne Aspekte noch einmal fokussiert wurden. In der abschließenden Ergebnisrunde trat dann zutage, dass die aktuellen und akuten Baustellen vielschichtig und herausfordernd sind: eine Presse, deren demokratischer Wirkungsraum durch Sparmanöver immer weiter eingeschränkt wird, was jede*r letztlich zu spüren bekommt; eine Jugend, deren Sorgen und Ängste nicht genügend Resonanzräume finden und die zeitgleich in effektivere politische Aufklärungsprozesse involviert werden muss; eine Online-Welt, die besonders von einer politischen Richtung dominiert wird und deren Sound des Hasses und der Hetze sich durch den Algorithmus immer weiter einfräst. Und eine Demokratie von unten, der es noch an Vernetzung, an Raus-aus-dem-Verteidigungsmodus und an lokaler Problemfokussierung mangelt.
Einer der Arbeitsgruppenleiter, der als Pfleger tätig ist, setzte diesem Gemengelage seine konkrete Tätigkeit entgegen: indem er jeden Tag versuche, die Situation für seine pflegebedürftigen Mitmenschen ein wenig besser zu machen, könne er auch die Welt ein wenig besser gestalten. Im Hier und Jetzt! Und indem er sich auf seinen Wirkungskreis konzentriere. Ein Vorgehen, das sich auf das eigene Demokratieverständnis anwenden ließe.
Oder wie es Peter Grohmann in seinem eindringlichen Schlussplädoyer formulierte: „Artikel 21 des Grundgesetzes fordert, dass Parteien bei der politischen Willensbildung mitwirken – ein großer Teil dieser Willensbildung aber ist von der Zivilgesellschaft zu leisten, denn die geforderte Mitwirkung der demokratischen Parteien reicht längst nicht mehr. Wir sind gefragt, aber wir wissen: Eine widerständige und zukunftsfähige Gesellschaft braucht nicht nur politisches Bewusstsein, einen langen Atem, unendliche Geduld.“
Man möchte ergänzen: Sie braucht noch mehr Demokratiekongresse und Zusammenkünfte wie diese. Aber mit noch mehr Jugend, Netzwerkmöglichkeiten und noch mehr Optionen des Anstiftens auch nach der Veranstaltung.
Packen wir es an – Attemptamus!