Fast eine Woche London liegt hinter uns, zahlreiche Meetings und Diskussionen, aber auch – wie kann es in London anders sein – abends Netzwerken im Pub bei einem London Pride. Doch der Reihe nach: Wir reisen mit dem Zug an, rund 12 Stunden ab Berlin mit dem Eurostar über Amsterdam und Brüssel durch den Tunnel nach London St. Pancras. London empfängt uns abends mit kaltem, aber klarem Novemberwetter. Lichterketten und weihnachtliche Dekoration schmücken die Straßen der britischen Metropole.
Nach Bezug eines winzigen Hotelzimmers im Londoner Stadtteil Kensington, bestimmt nicht mehr als 6 m², dafür aber sehr cosy, finden wir gerade noch den Weg zum nächsten Pub, um wenigstens kurz atmosphärisch einzutauchen und anzukommen in London Town.
Am nächsten Tag trifft sich die Steering Group des Netzwerkes EHSN (European Humanist Services Network) zu einem Mittagessen in Islington. Islington liegt nördlich des Londoner Zentrums und ist mit der U‑Bahn schnell zu erreichen. Trotzdem ist es hier noch nicht so touristisch wie in vielen anderen Londoner Stadtteilen. Bekannt ist der Stadtteil unter anderem für den Camden Passage Market, den Regent’s Canal und für sein beeindruckendes kulturelles Angebot. Im 20. Jahrhundert durchlebte Islington eine Phase der sozialen Veränderungen. Nach schweren Bombenschäden im Zweiten Weltkrieg wurden viele der historischen Gebäude zerstört und durch neue Wohnsiedlungen ersetzt. In den 1960er- und 1970er-Jahren erlebte die Gegend einen Zustrom von Einwanderern, was zur kulturellen Vielfalt beitrug, die Islington bis heute auszeichnet. In jener Zeit wurden viele der Häuser Islingtons, die noch aus georgianischer Zeit stammen, restauriert und es zogen vermehrt Familien der Mittelschicht nach Islington.
Humanists UK sind unsere Gastgeber für die nächsten Tage, und schon der Auftakt im Restaurant Fredericks’s zeugt von Gastfreundschaft und Großzügigkeit. Es gibt viel zu erzählen und auszutauschen, das letzte persönliche Treffen liegt schon ein Jahr oder länger zurück. Ab 14:30 Uhr wird es dann etwas formeller: Die Steering Group bereitet die letzten Dinge des CEO-Meetings des Folgetags vor. Wir tagen in einem separaten Raum des Großraumbüros der Humanists UK in einem Souterrain in Islington, was einen kleinen Einblick in ein sehr vernetztes und kommunikatives Zusammenarbeiten gibt.
In der Geschäftsstelle der Humanists UK
Zentrale Räume in London zu haben, ist für viele gemeinnützige Organisationen kaum noch möglich, Raum ist knapp bzw. sehr teuer. In den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts haben die Humanists UK Immobilien besessen, die sie zu einem (aus heutiger Sicht) viel zu niedrigen Preis verkauften und dies noch heute bereuen.
Am Rande des Meetings ergibt sich die tolle Möglichkeit, am Freitag einen Humanistischen Seelsorger im Wormwood Scrubs-Gefängnis zu treffen. Wir freuen uns sehr über diese Möglichkeit![1]
Im Steering-Group Meeting geht es schwerpunktmäßig um organisatorische Fragen und hier stellt sich vor allem die Frage, wie wir angesichts der Diversität der Verbände z.B. in Größe, Organisationsgrad und auch mit den inhaltlichen Schwerpunkten, eine möglichst effiziente Zusammenarbeit kreieren können. Wir kennen diese Frage auch aus der Zusammenarbeit im Bundesverband. Im Kern läuft die Diskussion darauf hinaus, dass wir Strukturen schaffen müssen, die es den großen Verbänden ermöglicht – dazu gehören auch wir – ihre Expertise und ihre Ressourcen noch effizienter in die internationale Zusammenarbeit einzubringen, ohne dabei die Perspektive der kleineren Verbände zu verlieren. Die Zusammenarbeit im Netzwerk hat in den letzten drei Jahren eine beachtliche Dynamik aufgenommen und zeitigt erste Erfolge, sichtbar am Beispiel des Wedding-Portals. Der Haupteffekt liegt aber bis hierhin vor allem in einer zunehmenden und überaus fruchtbaren europäischen Vernetzung, auch außerhalb der organisierten Meetings gibt es zunehmend mehr Kontakte zwischen europäischen Partnern.
Nach der Sitzung treffen wir uns – nun mit allen Teilnehmer*innen aus 11 Ländern (Island, Dänemark, Niederlande, England, Schottland, Irland, Ungarn, Litauen, Italien, Norwegen, Deutschland) im National Liberal Club, einem Traditionsclub in einem Traditionshaus, der 1882 gegründet wurde. Zugang erhält man nur über eine Mitgliedschaft und – unser Vorteil: Andrew Copson ist Mitglied! Wie man auf der Homepage nachlesen kann, ist der Club „eine Bastion für liberale Werte im weiteren Sinne, mit einer ethnisch und sozial vielfältigen Mitgliedschaft seit seiner Gründung in den 1880er Jahren und der erste der großen Gentlemen’s Clubs Londons, der Frauen zuließ. Wie es sich für den inklusivsten Club Londons gehört, hat er eine LGBT+-Gruppe und ein Business-Forum sowie verschiedene kulturelle und sportliche Zirkel. Neben britischen Traditionen wie der Burns Night feiert er auch Feste aus aller Welt, wie Diwali und das chinesische Neujahr.“
Für uns alle ist es ein echtes Erlebnis, den Abend hier verbringen zu können, die vibes sind sehr britisch. Den Umstand, dass einige von uns zu spät vom Dresscode erfahren haben, kompensieren wir mit Lässigkeit.
Ein sehr geselliger und informativer Tag, an dem wir uns professionell und persönlich begegnen konnten, geht zu Ende. Noch ein London Pride im Kensingtoner Pub und dann: ausruhen für den nächsten Tag.
Donnerstag ab 9:00 Uhr treffen wir uns in der Bibliothek der Conway Hall, wo unser Meeting stattfinden wird. Die Conway Hall ist im Besitz der Non-Profit-Organisation Conway Hall Ethical Society und wurde erstmals 1929 eröffnet. Der Name wurde zu Ehren von Moncure Daniel Conway (1832–1907) gewählt, einem Befürworter der Abschaffung der Sklaverei, einem ausgesprochenen Befürworter des freien Denkens und Biografen von Thomas Paine. Die Bibliothek, in der wir tagen, beherbergt die Sammlung der Ethical Society, die die größte und umfassendste humanistische Forschungsressource ihrer Art im Vereinigten Königreich ist.
Bibliothek der Conway Hall
Das Meeting beginnt um 9:30 Uhr mit einem Input von Anna Strhan von der University of York. Sie ist Leiterin des Forschungsprojekts „Becoming non-believers. Explaining atheism in childhood“ und Mitautorin des neuen Artikels „Becoming Humanist: Worldview formation and the emergence of Atheist Britain“. Sie präsentiert die Ergebnisse ihrer Forschung, die auch hier nachgelesen werden können.
Ihr Vortrag und ihre Forschung beschäftigen sich mit sogenannten Push- und Pull-Faktoren für die Zunahme einer „nicht-religiösen“ Identifikation und des „nicht-Glaubens“ an einen Gott. Anhand einer qualitativen Studie, die mit Kindern, ihren Eltern und Lehrern in England durchgeführt wurde, zeigt sie, wie Kinder durch Sozialisationsprozesse, in denen „Pull“-Faktoren in Richtung Humanismus eine bedeutende Rolle spielen, zu einer „humanistischen Einstellung“ gelangen. Die Forscherinnen argumentieren, dass Sozialisationsprozesse zu Hause und in der Schule miteinander verwoben sind und in der Praxis schwer zu unterscheiden sein können. Vor allem die zitierten Aussagen der interviewten Kinder machen ihren Vortrag sehr anschaulich und in Teilen auch heiter. Es wird deutlich, dass Kinder, die den Raum dafür eröffnet bekommen, sehr früh anfangen, religiöse Erzählungen infrage zu stellen, die sie sich mit den Mitteln des Verstandes nicht erklären können, oder Familienrituale, die nur vordergründig religiös sind, dechiffrieren.
Katrin Raczynski, Mitglied Bundesvorstand, und Lone Ree Milkaer, Netzwerk-Managerin im National Liberal Club
Danach beginnt die reguläre Agenda, dazu gehört die Verabschiedung des in den Sub-Groups erarbeiteten Hochzeit-Standards (er wird mit ganz wenigen, überwiegend redaktionellen Änderungen angenommen), die Präsentation einer neuen Struktur (4 CEO-Meetings/Jahr, eines in Präsenz, Verzicht auf eine Steering-Group, Stärkung der Rolle der Network-Managerin und stärkere Aktivierung der Zusammenarbeit zwischen den großen Organisationen, v.a. in Management und Ressourcen-Fragen).
Nach der Mittagspause geht es in die interaktive Arbeitsphase, in der wir, angeleitet von Moderatorin Anne Garbutt, die Vision 2030 gemeinsam durcharbeiten und um wichtige Aspekte ergänzen. Zu den Ergänzungen gehören u.a. die Stärkung der Zusammenarbeit auf strategischer und politischer Ebene, die stärkere Fokussierung und Zusammenstellung von Finanzierungsgrundlagen der einzelnen humanistischen Aktivitäten und generell der vertiefte Austausch über Best Practices (inkl. Praxisbesuche), um einen möglichst tiefen Lernprozess anzubahnen. Am Ende des Tages vereinbaren wir, dank der großzügigen Einladung unserer Kollegin aus Litauen, ein CEO-Meeting in Vilnius für den 6. November 2025.
Am nächsten Tag sind wir um 10:00 Uhr verabredet, um zusammen mit unseren Kolleginnen aus Vilnius, ‚Her Majesty’s Prison Wormwood Scrubs‘ zu besuchen, an der Seite unseres humanistischen Seelsorgers Robert. Das Wormword Scrub ist ein Kategorie-B-Gefängnis für Männer, landläufig heißt es einfach ‚The Scrubs‘.
Der Prison Act von 1952. Unsere Mobiltelefone haben wir draußen gelassen 😊
Das Gefängnis wurde zwischen den Jahren 1874 und 1890 erbaut und besteht aus 1378 Zellen, die zum Teil auch doppelt belegt sind. In der Mitte des Areals steht eine große Kirche, die St. Francis of Assisi Chapel, in der regelmäßig Gottesdienste, Taufen etc. stattfinden. Unser Besuch beginnt mit einer Einführung durch Zahid Bhatti, selbst liberaler Muslim, der der ‚Managing Chaplain‘ ist und die interkonfessionelle Arbeitsgruppe leitet. Er zeichnet das Bild einer sehr kooperativ arbeitenden Gruppe von Seelsorger*innen verschiedenster Konfessionen, die die aktuell 1216 Insassen mit 29 unterschiedlichen Religionszugehörigkeiten (darunter: 148 nicht-religiöse und 4 Agnostiker – Humanism wird hier nicht als Weltanschauung/Zugehörigkeit angeboten) betreuen. Die weltanschaulich-religiöse Zuordnung verteilt sich aktuell quantitativ in dieser Reihenfolge: Muslim (352), Roman Catholic (243), dicht gefolgt von Christian (149) und, siehe oben, Non-Religious (148). Das kleine Team der Seelsorger (etwa 10) besteht aus 2 haupt- und 8 ehrenamtlichen Kolleg*innen, es arbeitet kooperativ und teilweise auch konfessionsübergreifend zusammen. Die übergreifende seelsorgerliche Haltung wird offen-annehmend, wertschätzend und nicht-wertend/urteilend beschrieben, so wie wir es auch aus den humanistischen Beratungsansätzen kennen.
Der anschließende Besuch des Gefängnisses, der Küche, der Bibliothek und des Wohntrakts ist bedrückend. Es erschließt sich eine Hochsicherheitswelt mit sehr strengen Vorgaben, Hierarchien und ‚Aufstiegs/Rehabilitations-Programmen‘. Je besser sich ein Insasse entwickelt, um so mehr Freiheitsgrade erhält er, es gibt vier Entwicklungsgrade/-stufen. Arbeit wird nicht jedem angeboten, sondern ist bereits ein Privileg. Es gibt auch Insassen, die 23 von 24 Stunden in ihrer Zelle verbringen müssen. Wir sprechen mit einem Küchenarbeiter/Teammanager – ein überaus freundlicher und zugewandter Mann – der dies so beschreibt: If you can’t give love, give hope, if you can’t give hope, give work.
Robert, der als Ehrenamtlicher hier arbeitet, beschreibt, dass man sich von vornherein davon verabschieden müsse, Lösungen für die einem anvertrauten Häftlinge zu finden. Leid, Schmerz und Verzicht sind allgegenwärtig und oftmals sind es einfach die wärmende Gegenwart, ein gutes Gespräch oder eine kleine Geste, die Zuversicht und Hoffnung für den nächsten Tag stiften. Er beschreibt, dass er oft selbst eine Bedrückung im Gefängnis spürt, die er erst beim Verlassen des Geländes hinter sich lassen kann. Der Besuch endet im Café/der Kantine, die gleichfalls von Insassen betrieben wird. Dieser Arbeitsplatz ist nur für Insassen der ‚höchsten Entwicklungsstufe‘ vorbehalten, erzählt uns der junge Mann, der uns einen Cappuccino zubereitet. In seinem Leben ‚draußen‘ war er Barista. Wir bedanken uns bei Robert und verlassen ‚The Scrubs‘.
Damit neigt sich unser Aufenthalt dem Ende entgegen. Drei Tage voller unterschiedlicher Eindrücke und Begegnungen beschäftigen mich während des Nachmittags, den ich spazierend in Soho verbringe und meinen Gedanken nachhänge. Morgen geht es wieder heimwärts, mit dem Zug. Goodbye, London!
David Driese (Humanistischer Verband Berlin-Brandenburg), Katrin Raczynski (Humanistischer Verband Deutschlands | Bundesverband) und Kolleg*innen der litauischen Humanist*innen
[1] Humanists UK setzt sich seit vielen Jahren dafür ein, dass alle Menschen gleichberechtigten Zugang zu seelsorgerischer Unterstützung in Gefängnissen, Krankenhäusern und bei den Streitkräften haben. Sie gründeten das Non-Religious Pastoral Support Network, um humanistische Seelsorger*innen auszubilden und zu akkreditieren, damit sie diese Unterstützung leisten können. Mittlerweile sind 250 von ihnen in einer Reihe von institutionellen Einrichtungen im gesamten Vereinigten Königreich tätig. Im Jahr 2014 erkannte der Gefängnis- und Bewährungsdienst Ihrer Majestät (damals als National Offender Management Service bekannt) an, dass Humanist*innen in Gefängnissen das Recht auf humanistische seelsorgerische Unterstützung durch Besucher*innen haben, und im Jahr 2015 verpflichtete der NHS in ähnlicher Weise NHS-Einrichtungen in England, nichtreligiösen Menschen seelsorgerische Unterstützung zu bieten. Heute haben über 40 % der NHS-Trusts und fast 20 % der Gefängnisse eine*n humanistische*n Seelsorger*in in ihrem Team, die meisten von ihnen sind Freiwillige, aber es gibt auch zehn bezahlte Stellen. Im Jahr 2018 wurde Lindsay van Dijk als erste Humanistin Leiterin der Seelsorge und des pastoralen Unterstützungsteams eines NHS-Trusts. Im Jahr 2023 kündigte die britische Regierung ihre Absicht an, den Chaplaincy Council des Her Majesty’s Prison and Probation Service (HMPPS) durch ein Chaplaincy Faith and Belief Forum zu ersetzen und dabei auch humanistische Seelsorger*innen einzubeziehen.