„Vor 40 Jahren hätten wir uns das nicht vorstellen können“, erzählt Ulrich Tünsmeyer. Als einer der ersten Lebenskundelehrkräfte war er in den Anfangstagen des Fachs mit dabei. „Dass wir heute für jährlich über 72.000 Schüler*innen das beliebteste Weltanschauungsfach an staatlichen Schulen in Berlin anbieten, haben wir nicht ansatzweise gedacht“.
Vor 40 Jahren, das war in den 1980ern. Berlin war damals noch geteilt. Im Westteil der Stadt machte sich eine Handvoll überzeugter Freidenker*innen auf den Weg, um ihre Idee von humanistischer Bildung in den Schulen zu verankern. Eine Alternative zum Religionsunterricht sollte es werden. Inspiriert von den reformpädagogischen Ideen der 1920er-Jahre und den gesellschaftlichen Anforderungen der damaligen Zeit. „Wir mussten Überzeugungsarbeit leisten: bei den Schulen, damit sie das Fach anbieten, bei der Berliner Senatsverwaltung, damit sie es anerkennt und finanziert. Die Bemühungen haben sich gelohnt, als im Schuljahr 1982/83 zunächst ein zweijähriges Pilotprojekt an den Start ging“, erinnert sich Ulrich Tünsmeyer. 1984 begann in der Theodor-Storm-Grundschule in Neukölln dann der reguläre Unterricht.
Zunächst war die Humanistische Lebenskunde ein Nischenfach. Doch nicht nur im Hinblick auf die Beliebtheit hat sie sich weiterentwickelt, sondern auch inhaltlich und methodisch-didaktisch. Anfangs habe es kaum Unterrichtsmaterial gegeben, weshalb viel improvisiert wurde, berichtet Ulrich Tünsmeyer. „Heute ist das anders, es gibt viel Material, sogar ein Schulbuch.“
Humanistische Bildung bedeutet, den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen und Werte wie Mitgefühl und Wertschätzung zu fördern. Im Laufe der Zeit wurden die Humanistischen Postulate als Grundaussagen einer Humanistischen Weltanschauung integriert. Die Postulate – Naturzugehörigkeit, Verbundenheit, Gleichheit, Freiheit, Vernunft und Weltlichkeit – bilden das Rückgrat der Humanistischen Bildung. Sie ermutigen dazu, die Natur des Menschen zu erkunden, Empathie und Gemeinschaftssinn zu fördern sowie die Bedeutung von Freiheit und Vernunft im Denken und Handeln zu betonen.
In einer Zeit gesellschaftlicher Herausforderungen und globaler Krisen gewinnt die Humanistische Bildung an Bedeutung. Sie ermöglicht es den Schüler*innen, kritisch zu reflektieren, empathisch zu handeln und Verantwortung für sich selbst und ihre Mitmenschen zu übernehmen. Wohl alle fast 400 hauptamtlichen Lebenskundelehrer*innen sind überzeugt: Humanistische Lebenskunde ist ein unverzichtbarer Bestandteil einer kompetenz- und stärkenorientierten Bildung, die darauf abzielt, die Menschlichkeit in all ihren Facetten zu fördern. Sie wird auch in den kommenden Jahrzehnten junge Menschen dabei unterstützen, selbstbestimmt und verantwortungsbewusst an unserer Gesellschaft teilzuhaben. Und bei allem Wandel der letzten 40 Jahre sieht Ulrich Tünsmeyer eine wichtige Konstante: „Die Kinder sind damals wie heute sehr gern zum Lebenskundeunterricht gekommen.“
Der Beitrag erschien zuerst im Magazin der Freund*innen des HUMANISMUS 15 | Sommer 2024. Wir danken dem Humanistischen Verband Berlin-Brandenburg für die freundliche Genehmigung zur Zweitveröffentlichung.