Tagungsbericht

Lyrik lebt! Deutschsprachige Kinder- und Jugendlyrik der Gegenwart

| von
Sandra Niebuhr-Siebert

Beitragsbild: Konstantin Börner

Lyrik ist Tun, ist Spiel, ist Aufführung, ist Spüren. Eine Tagung unter der Überschrift „Lyrik lebt“ zeigte eindrucksvoll, wie Kinder- und Jugendlyrik heute crossmedial, performativ und interaktiv erfahrbar wird – und wie digitale Medien das Genre zu seinen sprechenden und klingenden Ursprüngen zurückführen.

Von Prof. Dr. San­dra Nie­buhr-Sie­bert (Huma­nis­ti­sche Hoch­schu­le Ber­lin) & Dr. Jana Miko­ta (Uni­ver­si­tät Sie­gen)

Unter der Über­schrift: Lyrik lebt! fand vom 7. bis zum 9. Novem­ber 2024 eine Tagung zur gegen­wär­ti­gen deutsch­spra­chi­gen Kin­der- und Jugend­ly­rik statt. Sie wur­de geför­dert von der Fritz-Thys­sen-Stif­tung. Im Zen­trum des Inter­es­ses stand der Ein­fluss digi­ta­ler Mög­lich­kei­ten auf die Rezep­ti­on und Pro­duk­ti­on von Lyrik im lite­ra­tur­wis­sen­schaft­li­chen, lite­ra­tur­di­dak­ti­schen und päd­ago­gi­schen Kon­text. Ins­ge­samt kamen etwa 50 Wissenschaftler:innen, Dichter:innen, Spoken-Word-Künstler:innen, Aktivist:innen, Stu­die­ren­de und Bibliothekar:innen hybrid in Sie­gen zusam­men, um sich an drei Tagen in den sie­ben Sek­tio­nen: Lyrik ana­ly­sie­ren, Lyrik illus­trie­ren, Lyrik emp­feh­len, Lyrik spre­chen, Lyrik schu­lisch ver­mit­teln, Lyrik außer­schu­lisch ver­mit­teln und Lyrik ver­le­gen über Kin­der- und Lyrik­for­ma­te der Gegen­wart aus­zu­tau­schen. Lesun­gen, Per­for­mance, Werk­statt­ge­sprä­che und Vor­trä­ge bil­de­ten den Rah­men. Die Tagung wur­de durch einen Lyrik­abend mit allen anwe­sen­den Lyriker:innen und der Spo­ken­word-Dar­bie­tung Rhyt­mu­se Spo­ken­word mit Timo Brun­ke berei­chert.

Zusammenfassung der Ergebnisse

Die „neue“ Kin­der­ly­rik kommt in den Neu­en Medi­en nicht nur auf Papier daher. Sie sucht sich ihre Kanä­le cross­me­di­al, inter­mo­dal und inter­ak­tiv und spricht dabei Kin­der und Erwach­se­ne glei­cher­ma­ßen an. Sie wird gespro­chen, gesun­gen oder gerappt, in jedem Fall „per­for­med“. Die Ora­li­tät der Neu­en Medi­en bringt die Lyrik dort­hin, wo sie her­kommt, denn Lyrik, auch Kin­der­ly­rik, war immer schon gespro­che­nes und gesun­ge­nes Wort, immer schon per­for­ma­tiv, immer schon anlass­ge­bun­den. Das bedeu­tet, dass das Klin­gen und Tönen der Gedich­te immer schon nicht nur „wich­tig“, son­dern wesent­lich für das Gen­re war. Lyrik ist Tun, ist Spiel, ist Auf­füh­rung, ist Spü­ren. Die Neu­en Medi­en füh­ren „die Gedicht­re­zi­ta­ti­on“ zu ihren Wur­zeln zurück, und es liegt eine gro­ße Chan­ce für alle Betei­lig­ten dar­in, über die­se Rück­kehr auch den his­to­ri­schen Hori­zont des Gen­res ein­zu­ho­len und neue „ästhe­ti­sche Büh­nen“ zu bau­en.

Mit der digi­ta­len Trans­for­ma­ti­on auf dem Buch­markt erlebt das Kin­der- und Jugend­buch vor allem einen Audio­boom und kon­ver­gie­ren­de Medi­en­um­wel­ten. Ver­la­ge selbst behan­deln Lyrik und lyri­sche Aus­drucks­for­men, die eine kaum zähl­ba­re Ver­brei­tung in den Sozia­len Medi­en erle­ben, dabei wei­ter­hin stief­müt­ter­lich, genau­so wie Buch­lä­den und Biblio­the­ken. Neue lite­ra­ri­sche For­men aber suchen sich Wege über neue media­le Kanä­le (vgl. Franz 2020), was Ver­lags­land­schaft und Bil­dungs­in­sti­tu­tio­nen auf­grei­fen soll­ten.

Ein in die Jah­re gekom­me­ner Gedichts-Kanon der Schul­bü­cher steht der­zeit unver­bun­den neben einer den Kin­dern und Jugend­li­chen über die Neu­en Medi­en unmit­tel­bar zugäng­li­chen Lyrik nicht-kano­ni­sier­ter Verfasser:innen. Dabei ent­ste­hen immer wie­der neue bzw. als neu auf­ge­fass­te lite­ra­ri­sche Aus­drucks­for­men (u.a. Memes, Insta­gram-Lyrik, Deutschrap). Sie bie­ten allen Akteur:innen reich­lich Anlass, sich ganz grund­sätz­lich mit den tra­di­tio­nel­len Para­dig­ma­ta von der Form­ge­bun­den­heit von Dich­tung aus­ein­an­der­zu­set­zen. Digi­ta­li­tät eröff­net dem Unter­richt einen „Mög­lich­keits­raum“, der geprägt ist von Nicht-Linea­ri­tät und asso­zia­ti­ven Ver­knüp­fun­gen. Wich­tig ist nun, die­ses Poten­ti­al in der Ver­mitt­lung zu nut­zen und Lyrik­ar­beit neu zu den­ken. So geht es bei der Pro­duk­ti­on, bei­spiels­wei­se von Memes nicht so sehr um die Demons­tra­ti­on (sprach-)künstlerischer Fähig­kei­ten, son­dern um einen Pro­zess des Fin­dens und Erfin­dens von erfah­rungs- und erleb­nis­ge­sät­tig­ten inne­ren und äuße­ren Bil­dern. Lyri­sches Tun wird so zum Welt­ver­ar­bei­ten und zur Iden­ti­täts­fin­dung, das gilt für Schüler:innen genau­so wie für Lyriker:innen.

Das Spiel mit Spra­che bedeu­tet Zweckent­bun­den­heit. Das Sprach­spiel macht Spra­che selbst zum Gegen­stand und nutzt sie kon­text­un­ab­hän­gig, sinn­frei oder krea­tiv sinn­stif­tend (Lie­de, 1963, S.12 ff.). Die Befrei­ung von seman­ti­sie­ren­den Funk­tio­nen lyri­scher form­ge­bun­de­ner Spra­che schafft päd­ago­gi­sche und the­ra­peu­tisch nutz­ba­re Syn­er­gien. So lie­ßen sich bei­spiel­wei­se inte­gra­ti­ver Deutsch­un­ter­richt und lite­ra­ri­sches Ler­nen im Sprach­spiel zusam­men­füh­ren. Im Spiel könn­ten Ler­nen­de in ihre rezep­ti­ons- und sprach­äs­the­ti­sche Mün­dig­keit geführt wer­den, indem ihnen genü­gend Inter­pre­ta­ti­ons­spiel­raum für sinn­li­che, emo­tio­na­le und kogni­ti­ve Aus­ein­an­der­set­zun­gen gelas­sen wür­den.

Die För­de­rung selbst­be­stimm­ter sprach­sinn­li­cher Erfah­rungs­räu­me hält trans­gres­si­ve Räu­me offen, die durch auf Algo­rith­men basie­ren­de digi­ta­le Maschi­nen und selbst­re­fe­ren­zi­el­le KI ver­engt wer­den. Sich selbst hin­ter­fra­gen zu kön­nen, Fra­gen zu stel­len, Pro­ble­me zu erken­nen, sich sei­ner eige­nen Absich­ten bewusst zu sein, lässt die trans­hu­ma­nis­ti­sche Idee Künst­li­cher Intel­li­gen­zen in wei­te Fer­ne rücken. So kon­sti­tu­iert KI ledig­lich das Echo der eige­nen Inten­tio­na­li­tät, ist aber kein „ech­ter“ Dia­log­part­ner als Gegen­über. Auch ver­folgt Künst­li­che Intel­li­genz selbst kei­ne krea­ti­ve Inten­ti­on. Wird all dies berück­sich­tigt, dann kön­nen KI und digi­ta­le Medi­en­for­ma­te ergän­zen­de und fas­zi­nie­ren­de Mög­lich­kei­ten in Unter­richt und Erzie­hung offe­rie­ren.

Die Nut­zung digi­ta­ler Medi­en spricht ledig­lich den Seh- und Hör­sinn an, auf ande­re Sin­nes­er­leb­nis­se kann zwar refe­riert, die­se kön­nen aber digi­tal nicht erzeugt wer­den. Um Welt sprach­lich mit allen Sin­nen zu begrei­fen, bedarf es des­halb vor allem Erfah­run­gen in der Real­welt, die durch digi­ta­le For­ma­te sinn­voll ergänzt wer­den kön­nen.

Der­zeit feh­len außer­schu­li­sche lyri­sche Bil­dungs­an­ge­bo­te. Bis­lang gibt es nur im Haus für Poe­sie Ber­lin eine durch­gän­gi­ge Aus­bil­dung von 8–28 Jah­ren für sprach­be­gab­te Dichter:innen.

Mit einem Hand­buch zur Kin­der- und Jugend­ly­rik wird im Anschluss an die Tagung der For­schungs­stand sys­te­ma­ti­siert auf­be­rei­tet und ihr Nut­zen für schu­li­sche, außer­schu­li­sche und the­ra­peu­ti­sche Set­tings für eine brei­te Leser­schaft sicht­bar sein. Bereits geknüpf­te Netz­wer­ke wer­den gepflegt und erwei­tert.

Der sprach­äs­the­ti­schen Aus­ein­an­der­set­zung kommt, wie auf der Tagung deut­lich wur­de, in Zei­ten digi­ta­ler Trans­for­ma­ti­ons­pro­zes­se gesamt­ge­sell­schaft­li­che Bedeu­tung zu. Die mensch­li­che Ver­ar­bei­tung der auf Algo­rith­men basie­ren­den post­fak­ti­schen Infor­ma­ti­ons­pro­zes­se braucht sinn­stif­ten­de, sprach­sen­si­bi­li­sie­ren­de und sinn­lich erleb­ba­re Räu­me als ein nicht maschi­nel­les Gegen­über, um die Bil­dung von Kin­dern und Jugend­li­chen zu mün­di­gen, sprach­sen­si­blen und auto­no­men Men­schen zu gewähr­leis­ten.

7. November 2024

Die Tagung wur­de eröff­net durch Gruß­wor­te des Dekans Dani­el Stein der Phi­lo­so­phi­schen Fakul­tät Sie­gen. Er mach­te auf die vie­len Akti­vi­tä­ten auf­merk­sam, die an der Uni Sie­gen bereits seit vie­len Jah­ren bestehen und Vor­bild­cha­rak­ter haben könn­ten.

Ein­füh­ren­de Wor­te fan­den die Gast­ge­be­rin­nen. Jana Miko­ta von der Uni­ver­si­tät Sie­gen rück­te die Wir­kung von Spra­che in den Fokus. Sie mach­te deut­lich, dass Gedich­te humor­voll oder nach­denk­lich Gedan­ken auf­grei­fen und dazu in der Lage sei­en, Wär­me zu ver­brei­ten. Sie beton­te die Wich­tig­keit einer Bestands­auf­nah­me, die da anfan­ge, wo die Arbei­ten von Kurt Franz, der die Erfor­schung der Kin­der­ly­rik gemein­sam mit Hans-Jür­gen Klie­wer und Franz-Josef Pay­hu­ber maß­geb­lich geprägt habe, auf­hör­ten. So ver­wies Franz auf inter- und trans­me­dia­le Aspek­te, den Vers­ro­man und auf ver­schie­de­ne media­le Kanä­le, über die Lyrik ver­mit­telt wer­de. Hier nun, so Miko­ta, wür­de die Tagung mit den Leit­fra­gen anset­zen: Was wur­de erreicht? Was ist mit Blick auf die Ent­wick­lun­gen auf dem Buch­markt – Stich­wort KI – zu erwar­ten oder gar beängs­ti­gend? Was ent­wi­ckelt sich gut? Was und wer fehlt? Miko­ta erin­ner­te dar­an, dass Kin­der­ly­rik nicht nur Germanist:innen oder Literaturwissenschaftler:innen, son­dern alle etwas angin­ge. Als Lite­ra­tur­di­dak­ti­ke­rin hob sie die Chan­cen der Lyrik als ästhe­ti­sches Bil­dungs­an­ge­bot in der Grund­schu­le. her­vor und zeig­te die Gefahr auf, dass über­mä­ßi­ge Ana­ly­se von Lyrik Kin­dern die Freu­de am Reim neh­men kön­ne.

San­dra Nie­buhr-Sie­bert von der Huma­nis­ti­schen Hoch­schu­le Ber­lin mach­te auf die Bedeu­tung sprach­äs­the­ti­scher Bil­dung in Zei­ten digi­ta­ler Trans­for­ma­tio­nen und KI auf­merk­sam. Sie hob das sprach­äs­the­ti­sche Lust­prin­zip her­vor, dem Poten­tia­le für die all­täg­li­che schu­li­sche, außer­schu­li­sche und the­ra­peu­ti­sche Sprach­för­de­rung inhä­rent sei­en. Zudem mach­te sie deut­lich, dass in der Lyrik die Chan­ce ste­cke, Lesen­de in ihre rezep­ti­ons­äs­the­ti­sche Mün­dig­keit zu füh­ren, indem sie genü­gend Inter­pre­ta­ti­ons­spiel­raum lie­ße und jeden ein­zel­nen nicht nur kogni­tiv, son­dern auch sinn­lich und emo­tio­nal abzu­ho­len ver­mö­ge.

Beant­wor­tet hat der Lyri­ker Arne Rau­ten­berg aus Kiel sei­ne Vor­trags­fra­ge: Wann ist ein Gedicht ein Kin­der­ge­dicht – und wann ist es kein Kin­der­ge­dicht? mit den Wor­ten: „Grund­schul­kin­dern wür­de ich zwar melan­cho­li­sche Tönun­gen, doch kei­ne her­me­ti­schen Ein­schüch­te­rungs­ge­dich­te oder Lebens­mü­dig­kei­ten zumu­ten wol­len. Erwach­se­nen aller­dings Kin­der­ge­dich­te schon. Denn es ergibt Sinn, als Erwach­se­ner Gedich­te für Kin­der zu lesen, um sich aber­mals in die Sphä­re der Mikro­dy­na­mi­ken zu bege­ben und sich dem beschwing­ten, weil letzt­lich doch zum Guten wen­den­den inne­hal­ten aus­zu­set­zen.“ Mit Neo-Nai­vi­tät lie­ße sich das Gefühl der Über­le­gen­heit im Kunst­raum aus­he­beln und wie­der ver­mehrt ans kind­haf­te Stau­nen ando­cken – und damit an eine höhe­re Form des Ver­ste­hens. Zudem wün­sche er sich als Lyri­ker mit­hel­fen zu kön­nen, ande­re das Nicht-Ver­ste­hen ver­ste­hen zu leh­ren!

Ines Hei­ser von der Uni­ver­si­tät Duis­burg-Essen kommt in ihrem Vor­trag: Boom Schak­ka­lak­ka – Dik­ka, das rap­pen­de Rhi­no­ze­ros – Wo und war­um Kin­der­ly­rik popu­lär wird zu dem Ergeb­nis, dass Kin­der­ly­rik gegen­wär­tig ins­be­son­de­re im Kin­der­lied popu­lär sei. Dabei zei­tig­ten Kin­der­pro­jek­te von bekann­ten Künstler:innen beson­de­ren Erfolg. Ihre Ana­ly­sen machen deut­lich, dass Erwach­se­ne auf ver­schie­de­nen Ebe­nen text­lich und musi­ka­lisch gezielt mit ange­spro­chen wer­den (Mehr­fach­adres­sie­run­gen), so dass ent­spre­chen­de Tex­te von Erwach­se­nen auch ohne Kin­der gehört wür­den. Über Zita­te und Anspie­lun­gen, z.B. Eis, Eis, Baby (DIKKA 2022) mit Remi­nis­zen­zen zu Ice, Ice, Baby (Vanil­la Ice 1990) wür­de zudem Inter­tex­tua­li­tät auf der Ebe­ne der Song­tex­te erzeugt, die nur von Erwach­se­nen ver­steh­bar sei­en. Zudem wür­den in den Tex­ten Eltern­rol­len bestä­tigt und als eta­bliert gel­ten­de Hal­tun­gen, z.B. „Ihr kriegt uns nie mehr klein“ (zu Kin­der­rech­ten, mit Spen­de an UNICEF) oder „Mit euch kann ich alles allein“ (all­ge­mei­nes Empower­ment mit Hin­wei­sen zum Bie­nen­schutz) ver­mit­telt. Auf die­se Wei­se wer­de ein inner- und außer­fa­mi­liä­rer Aus­tausch über Lite­ra­ri­sches zwi­schen ver­schie­de­nen Gene­ra­tio­nen ermög­licht mit dem Poten­ti­al, Sprach­be­wusst­sein ent­wi­ckeln und einen spie­le­ri­schen Umgang mit Spra­che ein­üben zu kön­nen.

In sei­nem Bei­trag Der (ver­lo­re­ne) Klang der Gedich­te setz­te sich Chris­toph Fas­ben­der von der Tech­ni­schen Uni­ver­si­tät Chem­nitz mit der Tra­di­ti­on des Gedicht­vor­trags in Schu­len aus­ein­an­der. So sei das Dekla­mie­ren fak­tisch schon im Mit­tel­al­ter Teil des Unter­richts gewe­sen; im 18. Jh. wur­de es von Her­der aus­drück­lich für die Schu­le emp­foh­len, und so pflanz­te es sich über die Jahr­hun­der­te in den Lehr­plä­nen fort: mit stets neu­en Begrün­dun­gen, die heu­te durch­weg nicht mehr grei­fen. Seit der Mit­te des 20. Jahr­hun­derts sei denn auch der schei­tern­de, ins Lächer­li­che abglei­ten­de Gedicht­vor­trag (häu­fig Fried­rich Schil­lers) Gegen­stand zahl­rei­cher Roma­ne und Fil­me. Im Hand­lungs- und Pro­duk­ti­ons­ori­en­tier­ten Unter­richt der 1980er Jah­re fin­den sich hin­ge­gen Ansät­ze zur unbe­fan­ge­nen Aus­ein­an­der­set­zung von Kin­dern mit Gedich­ten. So wird etwa in der Grund­schu­le mit eigen­stän­di­ger musi­ka­li­scher Umset­zung und zwang­lo­ser Modi­fi­ka­ti­on der Tex­te ope­riert, die sich in der Sekun­dar­stu­fe I fort­set­ze. Es ist unver­kenn­bar und wird auch direkt aus­ge­spro­chen, dass die vie­len Ansät­ze vor allem moti­va­tio­na­len Pro­ble­men ent­sprin­gen und zudem das ästhe­tisch Unbe­frie­di­gen­de als die Achil­les­fer­se des Gedicht­vor­trags kaschie­ren sol­le. Zu beden­ken bleibt, dass die Ver­la­ge­rung in das Kunst­wol­len der Rezi­pi­en­ten von den kom­ple­xen Tex­ten fort und ins nicht mehr Mess­ba­re (oder ins Tri­via­le) füh­ren kön­ne.

In ihrem Vor­trag: „Das Herz schlägt letzt­lich doch immer für Außen­sei­ter“ Nils Mohls „Tie­ri­sche Außen­sei­ter“ als Tex­te und Ton-Bild-Insze­nie­run­gen konn­ten Julia Kru­se und Moni­ka Her­nik von der Uni­ver­si­tät Pots­dam auf­zei­gen, wie Nils Mohl, ein bekann­ter Gegen­warts­ly­ri­ker, mit Außen­sei­ter-Moti­ven spielt und dabei zugleich die Ver­mensch­li­chung von Tie­ren pro­ble­ma­ti­siert. Er schafft eine Distan­zie­rung von nega­ti­ven Emp­fin­dun­gen durch komi­sche Ele­men­te und ermög­licht mit sei­nen Gedich­ten das Erle­ben gemisch­ter oder auch wider­sprüch­li­cher Emo­tio­nen. Er expe­ri­men­tiert mit Über­set­zun­gen von sta­ti­schen Gedicht­bil­dern in beweg­te Bil­der, indem er eige­ne Gedicht­fil­me ent­ste­hen lässt, für Ele­men­te audio­vi­su­el­ler Gestal­tung sen­si­bi­li­siert und mul­ti­me­dia­le Zugän­ge zum Text und zur Erschaf­fung von Sin­nes­po­ten­zia­len außer­halb nar­ra­ti­ver Struk­tu­ren nutzt.

Dr. Lisa Käll­ström aus Lund ermög­lich­te mit ihrem Vor­trag Lyrik, Poe­sie und Bild einen beein­dru­cken­den Ein­blick in das lyri­sche Bil­der­buch in Schwe­den. Anhand aus­ge­wähl­ter Bil­der­bü­cher, u.a. von Ulf Stark, zeig­te sie, wie Lyrik und Bild mit­ein­an­der ver­bun­den wer­den kön­nen. Neben der Vor­stel­lung der lyri­schen Bil­der­bü­cher, die nicht ins Deut­sche über­tra­gen wur­den, dis­ku­tier­te sie die Her­aus­for­de­run­ge der Über­set­zun­gen von Lyrik.

Wie Lyrik illus­triert wer­den kann, zeig­te die renom­mier­te Kin­der­buch-Illus­tra­to­rin Regi­na Kehn unter ande­rem anhand des bekann­ten Lyrik­ban­des Das lite­ra­ri­sche Kalei­do­skop und anhand von Illus­tra­tio­nen für Gedicht­bän­de von und mit Nils Mohl. Regi­na Kehn ver­steht sich selbst als Bild­au­to­rin. Ihr geht es in ihrem Arbei­ten immer auch um eine Auf­wer­tung der Illus­tra­ti­on. Denn die­se wer­de zur unter­stüt­zen­den Illus­trie­rung des Tex­tes oft nur als Mit­tel zum Zweck gese­hen und nicht als eigen­stän­di­ge Kunst­form. Eigen­stän­dig­keit bedeu­tet für Kehn, dass der geschrie­be­nen Spra­che eine visu­el­le Stim­me hin­zu­ge­fügt wer­de. Spra­che und Bild tre­ten sozu­sa­gen in einen Dia­log. Illus­tra­tio­nen dür­fen dabei durch­aus wider­stän­dig sein und Wider­sprü­che for­mu­lie­ren. So füh­re sie auch Figu­ren ein, die gar nicht im Text vor­kom­men oder füge etwas ganz ande­res hin­zu. Es geht ihr also genau nicht um die Abbil­dung eines Tex­tes, son­dern um einen öff­nen­den Wort-Bild-Rei­gen.

Ines Gal­ling von der Inter­na­tio­na­len Jugend­bi­blio­thek Mün­chen (IJB) stell­te in ihrem Vor­trag die Lyrik­emp­feh­lun­gen für Kin­der vor, die es seit 2024 gibt. Ein Kreis aus Expert:innen stellt für die LYEfK nun jedes Jahr eine Aus­wahl von ins­ge­samt elf Titeln zusam­men, die sich an ein Lese­pu­bli­kum zwi­schen drei und elf Jah­ren rich­te und immer am Welt­tag der Poe­sie bekannt­ge­ge­ben wür­den. Es han­de­le sich hier­bei um ein Koope­ra­ti­ons­pro­jekt der Deut­schen Aka­de­mie für Spra­che und Dich­tung, der Stif­tung Inter­na­tio­na­le Jugend­bi­blio­thek, der Stif­tung Lyrik Kabi­nett, dem Haus für Poe­sie, dem Deut­schen Biblio­theks­ver­band und dem Deut­schen Lite­ra­tur­fonds. Zudem berich­te­te Ines Gal­ling vom Erfolg des Kin­der Kalen­ders mit Gedich­ten und Bil­dern aus der gan­zen Welt. Der Kin­der Kalen­der zeigt Text und Bild im Ori­gi­nal ergänzt um die Über­set­zung ins Deut­sche. Im letz­ten Jahr wur­de aus Gedich­ten des Kin­der Kalen­ders die der­zei­ti­ge Jah­res­aus­stel­lung der IJB „Klap­per­kis­ten Plap­per­kas­ten. Kin­der­ge­dich­te für alle Sin­ne“ zusam­men­ge­stellt. Abschlie­ßend erwähn­te Ines Gal­ling noch, dass die IJB u.a. über die Nach­läs­se der Kin­der­ly­ri­ker James Krüss und Josef Gug­gen­mos ver­fügt. Sie ste­hen For­schen­den und ande­ren Inter­es­sier­ten in einer Vor-Ort-Nut­zung zur Ver­fü­gung und kön­nen über das Por­tal Kal­lio­pe recher­chiert wer­den.

José Fer­nan­déz Pérez und Janika Frei-Kuhl­mann von der Uni­ver­si­tät Gie­ßen haben den Kin­der­ka­len­der genau­er unter­sucht und sei­ne Poten­tia­le aus­ge­lo­tet. Jede Woche wird ein neu­es Gedicht oder Lied aus aller Welt in der Her­kunfts­spra­che und auf Deutsch abge­bil­det. Wäh­rend sich eini­ge Mona­te expli­zit auf Jah­res­zei­ten, Fes­te oder beson­de­re Anläs­se in ver­schie­de­nen Sprach- und Kul­tur­räu­men bezö­gen, müs­se der Bezug bei ande­ren erst her­ge­stellt wer­den. Ein jah­res­zeit­li­cher Bezug sei dabei aller­dings nicht immer gege­ben. Neben der schrift­sprach­li­chen Ebe­ne exis­tie­re eine gra­fi­sche: Jedem Gedicht sei ein groß­for­ma­ti­ges Bild zuge­ord­net, das das The­ma des Gedich­tes oder Lie­des auf­greift und bild­ne­risch umsetzt. Damit wer­de mit dem Kin­der­ka­len­der ein Medi­um offen­bar, das zahl­rei­che Facet­ten in sich ver­eint, die für den Lite­ra­tur­un­ter­richt rele­vant sei­en: Lyrik, visu­el­le Lite­ra­li­tät und Bild­ver­ste­hen, inter­kul­tu­rel­les Ler­nen und Mehr­spra­chig­keit.

San­dra Nie­buhr-Sie­bert von der Huma­nis­ti­schen Hoch­schu­le Ber­lin und Kar­la Mon­tas­ser, Lei­te­rin der Poe­ti­schen Bil­dung im Haus für Poe­sie, haben mit Unter­stüt­zung von vie­len Lyrik­be­geis­ter­ten die 100+ schöns­ten Lyrik­bän­de für Klein und GROß zusam­men­ge­tra­gen und auf der Tagung das ers­te Mal prä­sen­tiert. Auf der Suche nach Sprach­kunst und Lyrik für Kin­der und Jugend­li­che bil­de­ten sie ins­ge­samt 24 Kate­go­rien. Neben bekann­ten For­men, wie Mono­gra­fien, gereim­ten Bil­der­bü­chern und Antho­lo­gien, konn­ten sie gereim­te Sach­bü­cher, Papp­bil­der­bü­cher, Haus­bü­cher mit Gedich­ten, Lie­dern, kur­zen Erzäh­lun­gen, Rezep­ten und Bas­te­lei­en ent­de­cken. Auch in Sprach­spiel­bü­chern, Vers­ro­ma­nen, Wim­mel­bü­chern, in Spo­ken-Word-Anlei­tun­gen, Tage­buch­poe­si­en, Büchern mit Abzähl- oder Neck­rei­men, Gebets­bü­chern, Bal­la­den­samm­lun­gen, Rät­sel- und Erst­le­se­bü­chern las­se sich Lyri­sches fin­den. Die lyri­sche Welt sei dem­nach rei­cher als von den meis­ten ange­nom­men. Das Lesen und Schrei­ben von Gedich­ten soll­te des­halb fes­ter und selbst­ver­ständ­li­cher Bestand­teil des All­tags, Unter­richts und Stu­die­rens sein, denn die Aus­ein­an­der­set­zung mit Spra­chen und sei­nem eige­nen Sprach­po­ten­ti­al braucht immer auch sprach­sinn­li­che Erfah­rung, und die Quel­le einer sol­chen lie­ge nun ein­mal in der Lyrik.

8. November 2024

Über das Schrei­ben von Gedich­ten für Kin­der eröff­ne­te der Mün­che­ner Kin­der­ly­ri­ker Uwe-Micha­el Gutzschhahn den zwei­ten Tagungs­tag mit sei­nem Vor­trag Zau­ber­land Kin­der­ly­rik. Anhand der Ent­ste­hung eige­ner Gedich­te reflek­tier­te er sei­nen Schaf­fens­pro­zess. Er zeig­te, dass jedes Gedicht auf sei­ne eige­ne Wei­se ent­ste­he. Es gebe dem­nach kei­nen Bau­kas­ten, nach dem man ein Gedicht zusam­men­set­zen kön­ne. Jedes Gedicht aber hän­ge ab von einem ers­ten Ton, von einem ers­ten Wort, einer ers­ten Zei­le. Eine sol­che Zei­le, so Gutzschhahn, muss nicht der Anfang des Gedichts sein, sie sei eben nur der Anfang der Arbeit. Die­sen Anfang kön­ne man auch als „Klang­idee“ bezeich­nen. In sei­nem Schaf­fens­pro­zess spie­le der Autor auf kind­haf­te Wei­se mit Wör­tern, mit der Mög­lich­keit, Ent­le­ge­nes zusam­men­zu­zie­hen und eine neue Rea­li­tät, etwas Unbe­kann­tes, Frem­des, nie Dage­we­se­nes zu schaf­fen. Die Spiel­welt der Spra­che sei für ihn die Phan­ta­sie selbst. In ihr sei alles vor­stell­bar. „Und doch staunt das Pferd im Gedicht – sieht den Ball an, schnup­pert dran. Und dann wird es mutig – setzt sich auf den Ball. Und das Ich nimmt das Spiel auf, schießt den Ball ins All.“ Immer aber wer­de das Spiel von den Reim­mög­lich­kei­ten selbst gelenkt, nicht also von real gege­be­nen Mög­lich­kei­ten. Wenn Gedich­te von etwas han­del­ten, dann tun sie das aus der Spra­che her­aus. Das Gedicht ent­ste­he nicht mit dem Wil­len, an ein Ziel, eine Lösung zu kom­men. Jedes Gedicht tas­te in der Spra­che und erfor­sche so ihre Mög­lich­kei­ten.

Dass Unsinns­dich­tung nicht mit Mor­gen­stern anfan­ge, son­dern auf einer jahr­hun­der­te­al­ten Tra­di­ti­on auf­ru­he, zeig­te Chris­toph Fas­ben­der in sei­nem Bei­trag Zwi­schen­raum, hin­durch­zu­schaun. Tex­te vom Typus „Dun­kel war‘s, der Mond schien hel­le“ sei­en geprägt durch die Stil­fi­gur des Ady­na­ton: eine dem Oxy­mo­ron ver­wand­ten Figur des Unmög­li­chen. Vor 800 Jah­ren hieß die Unsinns­dich­tung noch „Lügen­dich­tung“ – weil sie von Din­gen han­del­te, die nach unse­rem Ermes­sen nicht ‚wahr‘ sei­en. Am Gedicht vom Back­ofen (aus dem 15. Jahr­hun­dert), der auf einem Stroh­wisch aus­rei­te und zu einer Insel gelan­ge, auf der ein Essig­krug herr­sche, des­sen Mut­ter einen Bären zur Welt brin­ge, der ein gro­ßer Esel gewe­sen sei usw., zeig­te Fas­ben­der typi­sche Ady­na­ta-Ket­ten die­ser Gedicht­sor­te auf. Dass frei­lich nicht alle vor­mo­der­ne Unsinns­dich­tung des Sinns ent­beh­re, sie viel­mehr unter der Über­schrift, gelo­gen zu sein, Beden­kens­wer­tes vor­tra­ge ließ sich am Gedicht von der Hoch­zeit des Schüs­sel­korbs (16. Jh.) auf­zei­gen, in dem die als schad­haft aus­ge­mus­ter­ten, um ihr Leben fürch­ten­den Gar­ten­ge­rä­te es noch ein­mal so rich­tig ‚kra­chen‘ lie­ßen. So fächer­te der Refe­rent das Wir­kungs­spek­trum eines Gen­res auf, das die Mög­lich­kei­ten der sti­lis­ti­schen „Un-Sinns-Signa­le“ voll aus­schöpf­te.

Andy Suder­man von der Uni­ver­si­tät Land­au unter­such­te in sei­nem Vor­trag Von spin­nen­den Spin­nen und zie­gen­den Zie­gen das ästhe­ti­sche und sprach­li­che Ler­nen mit sprach­spie­le­ri­schen Gedich­ten. So erkann­te er in sprach­ly­risch erzeug­ten Auf­fäl­lig­kei­ten, nicht nur Mög­lich­kei­ten lust­be­tont aktiv zu wer­den, son­dern pho­ne­ti­sche, fle­xi­ons­mor­pho­lo­gi­sche und syn­tak­ti­sche Beson­der­hei­ten sprach­be­wusst wahr­zu­neh­men, zu betrach­ten und mit Schüler:innen zu reflek­tie­ren. Inte­gra­ti­ver Deutsch­un­ter­richt und lite­ra­ri­sches Ler­nen lie­ßen sich im Sprach­spiel zusam­men­füh­ren.

Anna-Lena Demi von der Hum­boldt-Uni­ver­si­tät zu Ber­lin hat in ihrem Vor­trag Memes im Lite­ra­tur­un­ter­richt der Grund­schu­le – Pro­duk­ti­ve und ästhe­ti­sche Aus­ein­an­der­set­zun­gen mit Kin­der­ly­rik das Poten­ti­al von Memes für den Deutsch­un­ter­richt her­aus­ge­ar­bei­tet. Das Kon­zept „Meme“ reprä­sen­tie­re, so Demi, in der Sache ein brei­tes Spek­trum, es ste­he für alle mög­li­chen Phä­no­me­ne, die sich im Inter­net der­zeit schnell ver­brei­te­ten und so von vie­len Nutzer:innen rezi­piert wür­den. Meist sei­en es Kom­bi­na­tio­nen aus Tex­ten mit Bil­dern oder Vide­os. Memes kenn­zeich­ne aber fast immer ein humo­ris­ti­scher Unter­ton. Ihre Gestal­tung öff­ne Räu­me für Fan­ta­sie, Krea­ti­vi­tät und Iden­ti­täts­ar­beit. So kön­ne Eige­nes im Text wie­der­ge­fun­den wer­den, man kön­ne sich so selbst gegen­über­zu­tre­ten und zugleich frem­de sub­jek­ti­ve Befind­lich­kei­ten und Ent­wick­lungs­pro­zes­se nach­voll­zie­hen und befra­gen. Die Memes-Pro­duk­ti­on las­se sich im Kon­text von Per­sön­lich­keits­bil­dung und ästhe­ti­schem Ler­nen betrach­ten. Sie las­se Such­be­we­gun­gen und indi­vi­du­el­le Deu­tun­gen zu, übe die sym­bo­li­sche Ver­ar­bei­tung ein, die Wunsch­bil­der und uto­pi­sche Vor­stel­lun­gen ent­hal­ten kön­ne. Vor allem aber sei­en Memes Teil einer digi­ta­len Par­ti­zi­pa­ti­ons­kul­tur. Digi­ta­li­tät eröff­ne dem Unter­richt einen „Mög­lich­keits­raum“, der geprägt sei von Nicht-Linea­ri­tät und asso­zia­ti­ven Ver­knüp­fun­gen. Gleich­wohl sei die Pro­duk­ti­on von Memes kei­ne Pro­duk­ti­on und damit Demons­tra­ti­on künst­le­ri­scher Fähig­kei­ten, son­dern als Pro­zess des Fin­dens und Erfin­dens von erfah­rungs- und erleb­nis­ge­sät­tig­ten inne­ren und äuße­ren Bil­dern zu betrach­ten.

Rai­la Karst von der Uni­ver­si­tät Hal­le unter­such­te in ihrem Vor­trag Poe­ti­sches Welt­erkun­den in Gedich­ten von Primarschüler:innen, wel­che Rol­le Lyrik für die kind­li­che Iden­ti­täts­bil­dung spielt und inwie­fern Gedich­te von Primarschüler:innen als eigen­stän­di­ge lite­ra­ri­sche Aus­drucks­form aner­kannt wer­den soll­ten. Wäh­rend außer­schu­li­sche Initia­ti­ven wie der lyrix-Wett­be­werb oder die Lyrik­co­mics wach­sen­de Auf­merk­sam­keit für zeit­ge­nös­si­sche Kin­der­ly­rik beleg­ten, blie­be ihr Stel­len­wert im Unter­richt oft mar­gi­nal. Anhand einer mono­gra­fi­schen Auf­ar­bei­tung und einer ergän­zen­den Dis­kurs­ana­ly­se der Zeit­schrift „Die Grund­schu­le“ über einen Zeit­raum von 50 Jah­ren konn­te Karst her­aus­ar­bei­ten, dass die Rezep­ti­ons­per­spek­ti­ve lan­ge domi­nier­te und sich seit den 1970er Jah­ren zuneh­mend eine pro­duk­ti­ons­ori­en­tier­te Didak­tik durch­set­ze. Die­se betrach­te Lyrik nicht nur als Wis­sens­ge­gen­stand, son­dern als Medi­um indi­vi­du­el­ler und gesell­schaft­li­cher Arti­ku­la­ti­on. In einer wei­te­ren Ana­ly­se eines Text­kor­pus aus dem Archiv für Kin­der­tex­te Eva Maria Kohls, das über 1.900 Kin­der­ge­dich­te umfasst, die im Rah­men des Wett­be­werbs unzen­siert und unfri­siert (1993–2019) ein­ge­reicht wur­den, zei­ge sich in den Schüler:innen-Texten neben einer gro­ßen the­ma­ti­schen Band­brei­te und hohen poe­ti­schen Qua­li­tät auch deren „Poly­pho­nie“ (Bacht­in). Anhand kon­kre­ter Bei­spie­le konn­te Karst zei­gen, wie Kin­der in ihren Gedich­ten unter­schied­li­che Stim­men erhe­ben – mah­nend, fra­gend, hoff­nungs­voll oder ermäch­ti­gend. Vor dem Hin­ter­grund ihrer Ana­ly­sen plä­dier­te Karst für eine Didak­tik, die Kin­der als Schrei­ben­de ernst neh­me und ihnen Raum für ihre eige­nen poe­ti­schen Aus­drucks­for­men bie­te.

9. November 2024

Den letz­ten Tagungs­tag eröff­ne­te Hei­ke Nie­der aus Mün­chen mit ihrem Vor­trag Klap­per­schlan­ge im Klap­per­kas­ten – Braucht ein Gedicht ein Metrum und was ist das eigent­lich? Das Schrei­ben von Gedich­ten sei bei ihr immer auch eine Aus­ein­an­der­set­zung mit dem The­ma Metrum, sag­te sie. Sie selbst lege gro­ßen Wert auf einen regel­mä­ßi­gen Rhyth­mus, wohl wis­send, dass es dazu sowohl unter Kritiker:innen als auch unter Lyriker:innen sehr unter­schied­li­che Mei­nun­gen gebe. Schon Bert Brecht befand 1938 in dem Auf­satz „Über reim­lo­se Lyrik mit unre­gel­mä­ßi­gen Rhyth­men“, ein regel­mä­ßi­ger Rhyth­mus habe eine „ein­lul­len­de, ein­schlä­fern­de Wir­kung“. Auch unter den zeit­ge­nös­si­schen Kinder-Lyriker:innen gebe es eine Ten­denz zum frei­en Vers, zumin­dest zu einer nicht immer ganz regel­mä­ßi­gen Rhyth­mus­struk­tur, so die Refe­ren­tin. Aber wel­che Gedich­te sind nun „bes­ser“ oder „schlech­ter“? Kann man das über­haupt sagen? Hei­ke Nie­der befrag­te dazu zwei Autor:innen von Kin­der- bzw. Jugend­ly­rik, die die­se Gegen­sätz­lich­keit ver­deut­li­chen. Der Schwei­zer Autor Lorenz Pau­li, mit „Kreidolf Rel­oa­ded“ auf der Emp­feh­lungs­lis­te des Josef-Gug­gen­mos-Prei­ses für Kin­der­ly­rik 2024, ist ein vehe­men­ter Ver­fech­ter eines stren­gen Metrums. Er ant­wor­te­te: „Metrum ist ein Zau­ber­mit­tel. Es trägt einen wei­ter. Wie der Puls. Wie der wil­de Ritt auf einem Pferd und schüt­zend wie das ver­läss­li­che Wie­gen in den Armen eines lie­ben Men­schen.“ Chan­tal-Fleur Sand­jon, 2024 für ihren Vers­ro­man „Die Son­ne so strah­lend und Schwarz“ aus­ge­zeich­net mit den Deut­schen Jugend­li­te­ra­tur­preis, hält dage­gen: „Ich den­ke nicht viel über das Metrum nach. Was ich sehr viel mache: Ich lese mir die Tex­te vor. Das Laut­vor­le­sen ist für mich die Basis des­sen, wie ich die Gedich­te gestal­te.“ Fazit: Es gebe offen­sicht­lich kein rich­tig oder falsch, sag­te Hei­ke Nie­der, son­dern ob Metrum oder nicht, sei oft ganz ein­fach eine Geschmacks­fra­ge. Im Anschluss zeig­te sie drei eige­ne Gedich­te und berich­te­te, wie sie hier beim Schrei­ben vor­ge­gan­gen war.

Kar­la Mon­tas­ser aus Ber­lin stell­te in ihrem Vor­trag Poe­ti­sche Bil­dung in Deutsch­land die Fra­ge: Wo blei­ben die Sprach­kunst­schu­len? Es gebe zwar in jeder Stadt Musik­schu­len, aber kei­ne ein­zi­ge Sprach­kunst­schu­le. In der außer­schu­li­schen lite­ra­ri­schen Bil­dung fehl­ten zudem noch immer struk­tu­rel­le Ange­bo­te zur prak­ti­schen und krea­ti­ven Ver­tie­fung sprach­be­gab­ter Talen­te, wie sie in der Musik durch Instru­men­tal­un­ter­richt, Orches­ter und Musik­schu­len abge­bil­det sein wür­den. Die weni­gen Ange­bo­te im lite­ra­ri­schen Bereich sei­en oft auf Wett­be­wer­be und Pro­jek­te beschränkt. Eine Poe­sie­schu­le könn­te sich als inter­dis­zi­pli­nä­res Zen­trum für poe­ti­sche Bil­dung ver­ste­hen, das die Kunst der Spra­che in all ihren For­men för­de­re – von klas­si­scher Lyrik über Rap und Hip-Hop bis hin zu digi­ta­ler, kon­kre­ter und visu­el­ler Poe­sie. Der Ansatz ver­bin­de lite­ra­ri­sche Bil­dung mit Medi­en- und Thea­ter­päd­ago­gik, musi­ka­li­scher und künst­le­ri­scher Bil­dung, um kul­tu­rel­le und sozia­le Teil­ha­be zu ermög­li­chen. Die For­ma­te könn­ten res­sour­cen- und lebens­welt­ori­en­tiert sowie trans­kul­tu­rell gedacht wer­den; sie ziel­ten auf Empower­ment und die För­de­rung demo­kra­ti­scher Teil­ha­be. Neben regu­lä­ren Kur­sen und Ein­zel­un­ter­richt set­ze die Poe­sie­schu­le auf offe­ne Werk­stät­ten, Fes­ti­vals, Wett­be­wer­be und Koope­ra­tio­nen, die kul­tu­rel­le Bil­dung und Sprach­kunst mit­ein­an­der ver­bin­den. Zu den wich­tigs­ten For­ma­ten könn­ten Work­shops und Meis­ter­klas­sen mit erfah­re­nen Dichter:innen, trans­kul­tu­rel­le Pro­jek­te und Sprach­ver­mitt­lungs­for­ma­te, digi­ta­le und medi­en­päd­ago­gi­sche For­ma­te, Kol­la­bo­ra­tio­nen mit inter­na­tio­na­len Kul­tur- und Bil­dungs­ein­rich­tun­gen gehö­ren. Der­zeit setzt sich das Netz­werk Lyrik e.V. für ein Zen­trum für Poe­ti­sche Bil­dung auf Bun­des- und Lan­des­ebe­ne ein. Bis­lang sei aller­dings nur im Haus für Poe­sie Ber­lin eine durch­gän­gi­ge Aus­bil­dung von 8–28 Jah­ren mög­lich. In Zukunft müss­ten For­schungs­lü­cken geschlos­sen, Pilot­pro­jek­te für wei­ter­füh­ren­de Schu­len mit Schreib­pro­fil ent­wi­ckelt und Cur­ri­cu­la sowie Kom­pe­tenz­ka­ta­lo­ge erstellt wer­den.

San­dra Nie­buhr-Sie­bert von der Huma­nis­ti­schen Hoch­schu­le Ber­lin arbei­te­te in ihrem Vor­trag Lyrik 2.0 in der Kita die Poten­tia­le form­ge­bun­de­ner Spra­che für die kind­li­che Ent­wick­lung her­aus. Lyrik fin­de sich im Kin­der­all­tag über­all: in Abzähl­ver­sen, Krab­bel­ver­sen, Tisch­sprü­chen, Trost­ver­sen, Knier­ei­tern, Wie­gen­lie­dern, Gedich­ten, Merk­sät­zen, Esels­brü­cken, Bal­la­den. Nie­buhr-Sie­bert mach­te deut­lich, dass erst das poe­ti­sche Prin­zip der Spra­che ihren eigent­li­chen Genuss schen­ke, und dies dadurch, dass es mit der Öko­no­mie der Sinn­pro­duk­ti­on bre­che. Im sprach­äs­the­ti­schen Erle­ben wer­de die sinn­li­che Wahr­neh­mung von einem Medi­um, mit dem wir sonst Infor­ma­tio­nen auf­neh­men und ver­brei­ten, zu einem Pro­zess, der sei­nen Zweck zuvör­derst in sich selbst tra­ge, ver­gleich­bar dem kind­li­chen Spiel. In der sprach­äs­the­ti­schen Emp­fin­dung nun wird das Sprach­sinn­li­che zudem selbst the­ma­ti­siert. Es ent­ste­he eine Auf­merk­sam­keit auf das Gehör­te, das Gese­he­ne oder das Gele­se­ne und ins­be­son­de­re auf das durch Spra­che Emp­fun­de­ne selbst, was wie­der­um selbst­be­stimm­te Räu­me öff­ne. Indem man sich sei­nen Sin­nes­emp­fin­dun­gen zuwen­de, ent­wi­cke­le sich ein Abstand zu all­täg­li­chen, prag­ma­ti­schen infor­ma­ti­ons­be­las­te­ten, fremd­be­stimm­ten Zusam­men­hän­gen und ein frei­es Spiel mit diver­sen Bedeu­tun­gen wird mög­lich. Jeder kogni­ti­ve und damit kate­go­ria­le Zugang zur Spra­che kon­stru­ie­re Erfah­run­gen mit­tels bereits vor­han­de­nen Vor­wis­sens. Sei die­ses Vor­wis­sen nicht vor­han­den oder zugäng­lich, ver­sa­ge kogni­ti­ve Erkennt­nis, nicht aber die sinn­li­che. Sprach­äs­the­ti­sche Erfah­rung schaf­fe also einen Ermög­li­chungs­raum für neue Kate­go­rien; sie ist somit der kate­go­ria­len Erkennt­nis immer vor­ge­schal­tet. Sprach­sinn­li­che Räu­me wie­der­um ermög­li­chen mit­tels lyri­scher Spra­che Frei­heit, Wege in die Mün­dig­keit und Freu­de an und Lust auf die eige­ne Spra­che. Die För­de­rung sprach­sinn­li­cher Erfah­rungs­räu­me hält dem­nach trans­gres­si­ve Räu­me offen, die durch auf Algo­rith­men basie­ren­de Digi­ta­li­tät und selbst­re­fe­ren­zi­el­le KI zuneh­mend ver­engt wür­den. So kon­sti­tu­iert KI ledig­lich das Echo der eige­nen Inten­tio­na­li­tät und sei kein „ech­ter“ Dia­log­part­ner als Gegen­über. Zudem sprä­chen digi­ta­le Räu­me ledig­lich den Seh- und Hör­sinn an, sie könn­ten zwar auf ande­re Sin­nes­er­leb­nis­se refe­rie­ren, die­se aber nicht selbst erzeu­gen.

Timo Brun­ke aus Stutt­gart hat in sei­nem Vor­trag Leib­haf­tig sprach­le­bens­wach – Ein paar Grund­sät­ze, Berich­te und Plä­doy­ers zur Poe­sie­ar­beit mit Kin­dern und Jugend­li­chen ins­be­son­de­re die Lust an der Spra­che durch sinn­li­ches Erle­ben und Sprach­per­for­men her­vor­ge­ho­ben. Als bekann­ter Spo­ken Word Künst­ler und Sprach­di­dak­ti­ker plä­diert Brun­ke dafür, dass es im Deutsch­un­ter­richt zu einem guten Teil ver­spielt zuge­hen dür­fe. Er setzt auf die dem Spiel inhä­ren­te Zweck­frei­heit und meint, dass je zweck­frei­er ein Spiel an der Schu­le gespielt wer­de, des­to erfolg­rei­cher tra­ge es mit­tel­bar zum Lern­erfolg bei. Zudem ver­tritt er die Über­zeu­gung, dass der Sprach­ge­nuss im Men­schen ange­legt sei und ein jeder das ‚Grund­recht‘ auf freie Ent­fal­tung sprach­li­cher Emp­fin­dungs- und Aus­drucks­mög­lich­kei­ten habe.

In ihrem Vor­trag „Die Zukunft ist voll Tech­nik und Licht, Dank künst­li­cher Intel­li­genz so schlicht“? Pro­duk­ti­on, Mate­ria­li­tät und Ver­mark­tung macht Anke Vogel aus Mainz deut­lich, dass Kin­der­ly­rik als Waren­la­bel kaum Beach­tung erfährt. So sei sie für gän­gi­ge Such­ma­schi­nen nicht gut aus­ge­wie­sen und schwer zu fin­den. In Biblio­the­ken oder Buch­lä­den ist sie zudem wenig bis gar nicht aus­ge­stellt. Lyrik, so schluss­fol­gert Vogel, habe ein Image­pro­blem. Gera­de Lyrik aber müs­se ent­deckt wer­den dür­fen. Um zu über­le­ben, brau­che sie Sicht­bar­keit. Mit der digi­ta­len Trans­for­ma­ti­on auf dem Buch­markt erle­be das Kin­der- und Jugend­buch vor allem einen Audio­boom und kon­ver­gie­ren­de Medi­en­um­wel­ten. Ins­ge­samt zei­ge sich der Markt mul­ti­mo­dal und inter­ak­tiv.

Nils Mohl, Lyri­ker und Autor aus Ham­burg, hat sei­nen Vor­trag Mehr Vers als Roman – Wenn das lyri­sche Ich expe­ri­men­tiert genutzt, um über künst­le­ri­sches Schaf­fen zu reflek­tie­ren. Schrei­ben sei für ihn zunächst eine Tätig­keit gewe­sen, um im beschwer­li­chen Berufs­all­tag eines Lager­ar­bei­ters bei Ver­stand zu blei­ben. Er schrieb in Mit­tags­pau­sen kür­ze­re Tex­te, Gedich­te, die aus­sa­hen wie Pro­sa (und umge­kehrt). Er schrieb, zähl­te Sil­ben, expe­ri­men­tier­te mit der Gestal­tung. So sei­en Frag­men­te aus dem All­tag eines Ichs ent­stan­den, das mit Gegen­wart und Wirk­lich­keit hader­te, das sich ver­lo­ren und allein fühl­te. Über Mona­te wuchs dar­aus ein beacht­li­ches Kon­vo­lut und es ent­stand zusam­men mit der Illus­tra­to­rin Regi­na Kehn der viel­fach aus­ge­zeich­ne­te Vers­ro­man: An die, die wir nicht wer­den wol­len: Eine Teen­ager-Sym­pho­nie. Lite­ra­ri­sches Schrei­ben ver­hel­fe, so Mohl, der eige­nen Iden­ti­tät zum Erhalt, es ermög­li­che Über­le­ben.

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