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Porträt

Julius Moses: Humanistischer Gesundheitspolitiker, Opfer des NS-Rassenwahns

Stolperstein Julius Moses
Am 24. September 2022 jährte sich der 80. Todestag von Julius Moses. Er starb im KZ Theresienstadt. Moses war Arzt, sozialdemokratischer Politiker, Mitglied des Reichstages und einer der profiliertesten Gesundheitspolitiker in der Weimarer Republik. Er vertrat humanistische Positionen in der Medizin- und Sozialpolitik. Auch sein Einsatz für ein humanes Strafrecht, für die Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen und eine Wissenschaft, die auf einen gesellschaftlichen Nutzen zielt, belegt seine humanistische Überzeugung.

Moses, 1868 als Sohn eines jüdi­schen Schnei­ders in Posen gebo­ren, stu­diert in Greifs­wald Medi­zin. Ab 1893 – mit einer kur­zen Unter­bre­chung – lebt er in Ber­lin und beginnt dort ab 1902 ver­stärkt publi­zis­tisch und poli­tisch aktiv zu wer­den. Zunächst, in sei­ner „jüdi­schen Pha­se“, wie er sie in der Rück­schau selbst bezeich­net, betä­tigt er sich in jüdi­schen Orga­ni­sa­tio­nen im Sin­ne der jüdi­schen Eman­zi­pa­ti­ons­be­we­gung. Im Zen­trum sei­ner Akti­vi­tä­ten steht der Kampf gegen den, bereits im deut­schen Kai­ser­reich stark ver­brei­te­ten, Anti­se­mi­tis­mus. Schließ­lich kommt er zu dem Schluss, dass die Sozi­al­de­mo­kra­tie die ein­zi­ge poli­ti­sche Kraft ist, die eben­falls kon­se­quent dage­gen ein­steht. Nach Jah­ren der Suche nach sei­ner poli­ti­schen Zuge­hö­rig­keit führt ihn sein Weg über die links­li­be­ra­le „Demo­kra­ti­sche Ver­ei­ni­gung“ etwa 1910 in die SPD. Ein wich­ti­ger Grund dafür ist, dass sowohl der bür­ger­lich domi­nier­te „Cen­tral-Ver­ein deut­scher Staats­bür­ger jüdi­schen Glau­bens“ als auch die Libe­ra­len ihr Klas­sen­in­ter­es­se über den Kampf gegen den Anti­se­mi­tis­mus stel­len. So unter­stüt­zen sie bei Stich­wah­len zum Reichs­tag eher kon­ser­va­ti­ve, anti­se­mi­ti­sche Kan­di­da­ten als sozi­al­de­mo­kra­ti­sche.

Im reli­giö­sen Sin­ne hat für Moses sein Juden­tum wenig Bedeu­tung, jedoch hat er eine posi­ti­ve per­sön­li­che Ein­stel­lung zu sei­nem kul­tu­rel­len jüdi­schen Erbe. Er steht zu sei­ner jüdi­schen Iden­ti­tät. Den Ein­satz für die Belan­ge der Juden will er nicht den „jüdi­schen Pfaf­fen“ über­las­sen. Der Kampf gegen Anti­se­mi­tis­mus bleibt wei­ter­hin eins sei­ner wich­tigs­ten Anlie­gen. In sei­ner Bio­gra­phie im Reichs­tags­hand­buch bezeich­net er sich bewusst als Jude, weist aber gleich­zei­tig auf sei­ne 1910 erschie­ne­ne, heu­te nicht mehr auf­find­ba­re, Schrift „Wider die Pfaf­fen“ hin. Noch vor dem 1. Welt­krieg wird er Mit­glied in einem sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Feu­er­be­stat­tungs­ver­ein, was für reli­giö­se Juden ein Tabu war. Mit gro­ßer Wahr­schein­lich­keit han­del­te es sich um den 1905 gegrün­de­ten Ver­ein der Frei­den­ker für Feu­er­be­stat­tung, der zu den Vor­läu­fer­or­ga­ni­sa­tio­nen des HVD gehört.

Sein Enga­ge­ment für die SPD ver­än­dert auch sein Pri­vat­le­ben. 1913 lernt er Elfrie­de Nemitz, die Toch­ter der sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Poli­ti­ke­rin Anna Nemitz, ken­nen und lie­ben. Da Ger­trud Moritz, mit der er seit 1896 ver­hei­ra­tet ist, nicht in die Schei­dung ein­wil­ligt, lebt er unver­hei­ra­tet mit Elfrie­de Nemitz zusam­men.

Ende des Jah­res 1912 orga­ni­siert Juli­us Moses zusam­men mit dem Sexu­al­re­for­mer Magnus Hirsch­feld und ande­ren eine Vor­trags­rei­he, die sich an Arbeiter*innen wen­det und Auf­klä­rung zu sexu­el­len Fra­gen sowie über Ver­hü­tungs­maß­nah­men anbie­tet. Reli­giö­se und kon­ser­va­ti­ve Krei­se füh­len sich davon pro­vo­ziert und erwir­ken, dass Frau­en der Besuch die­ser Ver­an­stal­tun­gen unter­sagt wird und die Inhal­te beschränkt wer­den. Auch mit der eige­nen Par­tei gerät er in die­sen Fra­gen in Kon­flikt. Moses setzt sich für Gebur­ten­kon­trol­le ein, weil er als Arzt in einem Arbei­ter­vier­tel mit den dor­ti­gen schlech­ten sozia­len Bedin­gun­gen und den dar­aus resul­tie­ren­den gesund­heit­li­chen Fol­gen kon­fron­tiert ist: Er sieht, dass unter die­sen Bedin­gun­gen ein Mehr an Kin­dern das Elend ver­grö­ßert.

Der Rück­gang der Gebur­ten­ra­te in den Arbei­ter­vier­teln war schon eini­ge Jah­re zuvor zu beob­ach­ten gewe­sen, nun machen kon­ser­va­ti­ve Krei­se die SPD direkt dafür ver­ant­wort­lich und sehen Deutsch­lands Welt­gel­tung in Gefahr. Der Par­tei­vor­stand der SPD erklärt dar­auf­hin, dass auch er im natio­na­len Inter­es­se an einer Stei­ge­rung der Gebur­ten­ra­te inter­es­siert sei. Auch die Par­tei­lin­ke teilt die­ses Ziel. Sie argu­men­tiert, dass die Zunah­me der Anzahl der Pro­le­ta­ri­er den Sieg des Sozia­lis­mus beschleu­ni­gen wer­de. Die „Gebär­streik­de­bat­te“ in der SPD beginnt, in deren Ver­lauf Par­tei­füh­rung und Lin­ke erken­nen müs­sen, dass sie an den Bedürf­nis­sen sehr vie­ler Mit­glie­der vor­bei argu­men­tie­ren. Die­se macht es fas­sungs­los, dass ihre Par­tei, eben­so wie kon­ser­va­ti­ve Krei­se, Mili­tärs und die katho­li­sche Kir­che gegen Gebur­ten­kon­trol­le argu­men­tiert.

Als Kriegs­geg­ner gerät Moses auch in der Fra­ge der Hal­tung zum 1. Welt­krieg in Oppo­si­ti­on zur Par­tei­li­nie. Ent­spre­chend gehört er 1917 zu den Grün­dungs­mit­glie­dern der USPD und wird einer ihrer füh­ren­den Köp­fe. Er zieht in deren Vor­stand und 1920 in den Reichs­tag ein.

Nach­dem sich im Herbst 1920 eine Mehr­heit in der USPD für den Bei­tritt zu KPD ent­schie­den hat­te, kehrt er 1922 wie die meis­ten ver­blie­be­nen Mit­glie­der der USPD in die SPD zurück. Auch dort gehört er dem Par­tei­vor­stand an. Er prägt die sozi­al­de­mo­kra­ti­sche Sozi­al- und Gesund­heits­po­li­tik ent­schei­dend. Sein Cre­do ist, dass Gesund­heits- und Sozi­al­po­li­tik untrenn­bar ver­bun­den sei­en. Auch auf dem Gebiet der Wis­sen­schafts­po­li­tik und For­schungs­för­de­rung ist er aktiv.

Bild: Ads/FES (6/FOTA016883)
Die­se Grupp­pen­auf­nah­me von Juli­us Moses (links) und den bei­den SPD-Reichs­par­tei­mit­glie­dern Georg Simon und Richard Lipin­ski (rechts) ent­stand 1925 anläss­lich des Kon­gres­ses der Sozia­lis­ti­schen Arbei­ter-Inter­na­tio­na­le in Mar­seil­le.

Als Reichs­tags­ab­ge­ord­ne­ter, der er bis 1932 bleibt, ent­wi­ckelt Moses zahl­rei­che Initia­ti­ven, die er u.a. in der von ihm her­aus­ge­ge­be­nen Zeit­schrift „Der Kas­sen­arzt“ pro­pa­giert. Die­se lösen hef­ti­ge Debat­ten mit kon­ser­va­ti­ven ärzt­li­chen Stan­des­ver­tre­tern aus. So wirbt Moses nach­drück­lich für den Aus­bau der sozia­len Kran­ken­ver­si­che­rung und eine vor­beu­gen­de Gesund­heits­pfle­ge. Dane­ben setzt er sich für eine star­ke Rol­le des Haus­arz­tes bei der gesund­heit­li­chen Ver­sor­gung und Betreu­ung ein. Er kri­ti­siert eine Medi­zin, die sich auf das Ver­ab­rei­chen von Medi­ka­men­ten und das Ope­rie­ren beschränkt, der es an Mit­ge­fühl und sozia­ler Ver­ant­wor­tung man­gelt, und in der die Ein­kom­men und Stan­des­in­ter­es­sen der Ärz­te die ent­schei­den­de Rol­le spie­len. 1931 macht er in einer Denk­schrift auf die gesund­heit­li­chen Fol­gen der Lang­zeit­ar­beits­lo­sig­keit auf­merk­sam. Alle die­se Pro­ble­me sind bis heu­te aktu­ell.

Als Mit­glied des Reichs­ge­sund­heits­rats wen­det er sich gegen die Euge­nik, die damals auch in ansons­ten fort­schritt­li­chen Krei­sen vie­le Anhän­ger hat­te. Zudem warnt Moses vor der ärzt­li­chen „Expe­ri­men­tier­wut am Men­schen“ und deckt mehr­fach skan­da­lö­se Prak­ti­ken von Ver­su­chen mit Men­schen auf. Weit­rei­chen­de Ver­bo­te gab es damals nicht, sie ent­stan­den erst als Leh­re aus den Ver­bre­chen der NS-Medi­zin. Die­se Ver­bre­chen sieht Moses bereits im Febru­ar 1932 vor­aus: „Der Arzt als Ver­nich­ter, der Arzt als Mör­der!!“, beschreibt er die natio­nal­so­zia­lis­ti­sche Pro­gram­ma­tik für den Gesund­heits­sek­tor. Hef­tig kri­ti­siert er die „Kon­struk­ti­on höhe­rer und nie­de­rer Men­schen­ar­ten“ in der NS-Ideo­lo­gie. In gro­ßer Klar­heit weist er auf die dro­hen­den Gefah­ren einer natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Macht­über­nah­me vor allem für die Juden hin. Sein Bio­graph Hol­ger Böning bezeich­net ihn des­halb als „Pro­phet des Schre­ckens“. Immer wie­der ist Moses Anfein­dun­gen sowohl durch rechts­extre­me als auch durch kon­ser­va­ti­ve Poli­ti­ker, Publi­zis­ten und Ärz­te­ver­tre­ter aus­ge­setzt.

Wäh­rend der NS-Zeit erlebt er Dis­kri­mi­nie­rung und Ver­fol­gung. Bereits Ende März 1933 wird sei­ne Zeit­schrift „Der Kas­sen­arzt“ ver­bo­ten. Er ist nun ohne regel­mä­ßi­ges Ein­kom­men und auf die Unter­stüt­zung durch sei­nen Bru­der und einem Sohn ange­wie­sen. Auf­grund der Nürn­ber­ger Geset­ze muss er 1935 aus der gemein­sa­men Woh­nung mit sei­ner Lebens­ge­fähr­tin aus­zie­hen. Er bleibt den­noch in Deutsch­land, wohl auch, weil sei­ne Lebens­ge­fähr­tin und deren Fami­lie sowie sei­ne sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Freund*innen zu ihm hal­ten. Dazu gehö­ren Pro­mi­nen­te wie Paul Löbe, Reichs­tags­prä­si­dent von 1925 bis 1932 und Loui­se Schrö­der, die 1947 Ober­bür­ger­meis­te­rin von Ber­lin wird. Zu sei­nem 70. Geburts­tag am 2. Juli 1938 stel­len sich über 50 Gratulant*innen ein. Sei­ne Lebens­ge­fähr­tin und der gemein­sa­me Sohn kön­nen nicht dazu gehö­ren, da sie zu ihrer Sicher­heit offi­zi­ell kei­nen Kon­takt mehr zu ihm haben. Tref­fen fin­den nur noch heim­lich statt. Mit der Ein­füh­rung des Juden­sterns wird auch das noch erschwert. Sie kön­nen sich nun nicht mehr gemein­sam öffent­lich zei­gen.

Auf­grund der Aus­gren­zung in der NS-Zeit auf das Jüdisch­sein redu­ziert, gewinnt sein Juden­tum für ihn wie­der eine grö­ße­re Bedeu­tung. Er besucht Syn­ago­gen, fei­ert mit jüdi­schen Freund*innen jüdi­sche Fes­te, tut dies jedoch nicht im reli­giö­sen Sin­ne, son­dern betrach­tet es eher als „jüdi­sches Brauch­tum und Volks­tum“.

Im Juli 1942 depor­tie­ren ihn die NS-Macht­ha­ber nach The­re­si­en­stadt, wo er bald dar­auf an Hun­ger und Ent­kräf­tung ver­stirbt. Sein Grab befin­det sich dort. In Ber­lin erin­nert ein Stol­per­stein vor sei­ner lang­jäh­ri­gen Woh­nung am Bun­des­rats­ufer an ihn.

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