Tröste dich, die Stunden eilen,
Und was all dich drücken mag,
Auch die schlimmste kann nicht weilen,
Und es kommt ein andrer Tag.
In dem ew′ gen Kommen, Schwinden,
Wie der Schmerz liegt auch das Glück,
Und auch heitre Bilder finden
Ihren Weg zu dir zurück.
Harre, hoffe. Nicht vergebens
zählest du der Stunden Schlag:
Wechsel ist das Los des Lebens,
Und – es kommt ein andrer Tag.
(Theodor Fontane)
Anfang des 19. Jahrhunderts nach den Napoleonischen Kriegen waren viele Menschen von Verlust und Trauer betroffen. Die evangelische Kirche suchte nach einem Tag, der ähnlich dem katholischen Allerseelen dem Gedenken an die Toten und dem Trost für die Hinterbliebenen gewidmet war. Und so wurde 1816 der Ewigkeitssonntag eingeführt. Er sollte neben der Erinnerung an die Verstorbenen dem Gedanken an die Ewigkeit gewidmet sein. König Friedrich Wilhelm III. von Preußen, damals als oberster Bischof das landesherrliche Oberhaupt der evangelischen Kirche in Preußen, ordnete an, jeweils am letzten Sonntag des Kirchenjahres, dem letzten Sonntag vor dem 1. Advent, der Verstorbenen zu gedenken. Damit war der „Ewigkeitssonntag“ eingerichtet, wie ihn die evangelische Kirche nannte. Der Begriff „Totensonntag“ hat sich jedoch im allgemeinen Sprachgebrauch durchgesetzt.
Der November wird damit in unserer Tradition ein Monat des Totengedenkens, beginnend mit Allerseelen am 2. November, dem katholischen Gedenktag für die Verstorbenen. Nach dem I. Weltkrieg ist mit dem Volkstrauertag am vorletzten Sonntag des Novembers ein staatlicher Gedenktag hinzugekommen, der primär dem Gedenken an die Kriegsopfer gewidmet ist.
Der Totensonntag dient vor allem der Verstorbenen zu gedenken, die vor nicht langer Zeit verstorben sind und die Erinnerung an sie zu bewahren. In der Einladung der Emmaus-Gemeinde Gelsenkirchen zum heutigen Ewigkeitssonntag heißt es: „Wir vertrauen sie unserem Gott an, von dem wir hoffen, dass er am Ende die Tränen trocknet und unsere Trauer in Freude verwandelt.“
Nun sind seit Einführung des Totensonntags mehr als zweihundert Jahre vergangen. Von den heute Lebenden haben in unserer Kultur wohl viele Menschen den Glauben an ein ewiges Leben verloren. Aber die Erinnerung an die Toten als ein Element des Totensonntags bleibt natürlich bestehen. So sind unsere Gedanken bei lieben Menschen, die noch vor einem Jahr unter uns waren, die dann von uns gegangen sind, die der Tod heimgesucht hat, die er an sich genommen hat, die er aus dem Leben, aus unserer Mitte weggerissen hat, – wie auch immer wir dieses Ereignis beschreiben oder begreifen wollen, das zu trauern uns Anlass gibt. Vielleicht ist unsere Trauer auch abgeschlossen und wir denken in Freude und Dankbarkeit zurück an einen Menschen und sein Leben, mit dem wir verbunden waren.
Woher kommt die Trauer? Es sind hauptsächlich zwei wichtige Gründe für die Trauer nach dem Tod eines geliebten Menschen.
Der eine Grund gilt dem verstorbenen Menschen selbst. Wenn wir an ein Leben nach dem Tod glauben, könnten wir befürchten, dass der oder die Verstorbene es vielleicht nicht gut angetroffen hat, im Jenseits, vielleicht nicht ins Paradies gelangt ist, wie Christen und Muslime es ersehnen, oder vielleicht nicht ins Nirwana der Hinduisten? Haben Verfehlungen zu Lebzeiten dazu geführt, dass das Ziel nicht erreicht wurde? Können wir nachhelfen? Können wir Gaben für den Weg bereitstellen, können wir Fürbitte halten bei Kräften, die über den Zugang zum Paradies oder dem Nirwana entscheiden?
Eine Messe lesen? Kaiser Heinrich der IV. und seine Gemahlin Kunigunde, die vor Tausend Jahren lebten, waren kinderlos. Sie hatten also keine eigenen Nachkommen, die nach ihrem Tod für ihr Seelenheil hätten sorgen können. Da traf es sich gut, dass sie genügend Mittel hatten, durch Stiftung von Klöstern und die Einrichtung des Bistums Bamberg für ausreichend Fürbitte im Himmel zu sorgen. Und die armen Bauern auf dem Land? Sie waren nach wenigen Generationen vergessen und konnten nur hoffen, durch gottesfürchtiges Leben und ausreichend Gebete ihrer Nachkommen rechtzeitig den Sprung ins Paradies zu schaffen. Ja, natürlich musste man sich die Götter menschlich vorstellen, also auch bestechlich: „Der Taler in dem Beutel klingt, die Seele in den Himmel springt”. Dieser Reim aus den Zeiten des Ablasshandels galt nicht nur für die Totenfürsorge, sondern auch für das eigene Leben, als Sterbens- bzw. Todesversicherung.
Seit sie sich über den Tod als Ende des Lebens bewusst geworden waren, haben sich die Menschen Gedanken darüber gemacht, wie es danach weitergehen würde und wie man das Danach günstig beeinflussen könnte. Im Hinduismus etwa ist es das höchste Ziel, im Nirwana wiedergeboren und eins mit der Ewigkeit und dem Absoluten zu werden. Es gibt wichtige Reinigungsrituale, die dem Glauben nach gleichzeitig die Seele reinigen und sie auf die anschließende Reise vorbereiten, bevor der nun überflüssige Körper verbrannt wird. Damit sich die unsterbliche Seele bei diesem Trauerritual entfalten kann, zerschlägt ein Priester den Schädel des Leichnams.
Nicht immer ging es darum, eine „schöne“ Ewigkeit sicherzustellen. Oftmals waren die Menschen auch darauf bedacht, einfach den Geist der Toten aus der materiellen Bindung zu befreien oder Verbindung mit den Toten, also den Vorfahren, zu halten. Verwurzelt in afrikanischen Traditionen findet in Jamaika eine neuntägige Totenwache statt, nachdem ein Mensch gestorben ist. Dem Glauben nach sind diese neun Tage nötig, damit der Geist der verstorbenen Person den Körper verlassen kann. Bei einer zu frühen Beisetzung könne es vorkommen, dass der Geist rachsüchtig und unheilbringend auf der Erde herumspukt. In der neunten Nacht, nach Mitternacht ehren die Anwesenden das frühere Leben des geliebten Menschen, indem sie ausgiebig feiern. Dieses fröhliche Festgelage ist für die Angehörigen sehr wichtig, um sich gebührend zu verabschieden.
Ja, wir sollten dafür sorgen, dass es unseren Toten, also bald auch uns, gut geht.
Ganz allgemein haben die Menschen viele Rituale entwickelt, um ihrer Toten zu gedenken. Dazu gehören in unserer Kultur das Besuchen von Grabstätten, das Anzünden von Kerzen, das Aufstellen von Gedenktafeln oder das Durchführen von speziellen Gottesdiensten. In vielen Teilen der Welt gibt es wie bei uns regelmäßig stattfindende Rituale – unabhängig von einzelnen Todesfällen. So feiern die Menschen in China jedes Jahr im April ihr Totengedenkfest. Zum Ritual gehört, dass die Menschen die Gräber säubern, Totengeld verbrennen und Weihrauchstäbchen entzünden.
Das Gedenken an Verstorbene ist ein tief verwurzelter menschlicher Brauch in vielen Kulturen und Religionen. Auch wenn wir uns nicht um ihr ewiges Leben sorgen, gibt es eine Reihe von Gründen, warum Menschen der Toten gedenken: Es ermöglicht uns, die Erinnerung an sie lebendig zu halten:
- Wir ehren ihre Beiträge zu unserem gemeinsamen Leben, ihr Erbe, das sie uns geistig und materiell hinterlassen haben, die Zeit, die wir mit ihnen verbringen durften.
- Das Nachdenken über die Toten hilft uns, unsere Trauer zu verarbeiten und Trost zu finden.
- Das gemeinsame Gedenken der Verstorbenen bringt uns Lebende zusammen. Die Toten verbinden die Lebenden.
Wir hatten gesagt, es gäbe zwei wesentliche Gründe für unsere Trauer. Auf der einen Seite trauern wir um die Toten, kümmern uns um ihr Seelenheil, ihre Erlösung. Für die unter uns, denen der Gedanke an ein ewiges Leben fremd ist, spielt dieser Grund der Trauer keine Rolle. Selbst unser Bedauern, dass die verstorbene Person kein schönes Leben hatte, zu früh gestorben ist oder zu sehr leiden musste, hilft ihr nicht mehr.
Aber es gibt eben auch den zweiten Grund für unsere Trauer, die Trauer um uns selbst, um unseren Verlust. Warum musste ich das erleben? Was soll werden aus mir, was fange ich an ohne die geliebte Person? Jesus soll auf dem Weg zur Kreuzigung gesagt haben: „Ihr Töchter von Jerusalem, weinet nicht über mich, sondern weinet über euch selbst und über eure Kinder.“ (Lukas-Evangelium) Insbesondere der Tod von geliebten Menschen, von nahen Angehörigen kann ein riesiger Verlust für uns sein oder als solcher von uns empfunden werden. Selbst von höheren Tieren wissen wir, wie sehr sie trauern können.
Wir Menschen müssen mit dem Verlust umgehen, uns an unserer Trauer abarbeiten. Es ist für manchen leicht dahingesagt, dass wir uns von unserer Trauer nicht überwältigen lassen dürfen. Aber besser ist es, die übermäßige Trauer würde uns nichts nutzen, im Gegenteil, sie würde das neue Leben ohne die zuvor so wichtige oder geliebte Person erschweren. Trauernde können sich Hilfe holen, unter Angehörigen, im Freundeskreis, in Trauerrunden mit anderen Betroffenen, aber am Ende sollten sie die Trauer besiegen, das neue Leben annehmen. Friedrich Schiller wird der Spruch zugeordnet „Wohl dem Menschen, wenn er gelernt hat zu ertragen, was er nicht ändern kann und preiszugeben in Würde, was er nicht retten kann.“
Diese Worte betonen die Tugend der Gelassenheit, die Fähigkeit, sich an die Gegebenheiten anzupassen und das Unvermeidliche zu akzeptieren. Es gibt Momente im Leben, in denen wir nicht umhinkommen, Dinge loszulassen und sich von dem zu verabschieden, was nicht mehr gerettet werden kann.
Das Totengedenken hat noch eine weitere Bedeutung für uns. Es ist der Hinweis, dass auch wir selbst sterblich sind. Dieser Gedanke an unseren eigenen Tod, der unvermeidlich auf uns zukommt, mag uns erschrecken. Dabei kann der Schrecken in zwei Richtungen gehen.
Wenn wir gottesfürchtig sind oder Angst vor einem Jenseits haben, stellt sich die Frage, ob wir auf den Tod vorbereitet sind. Haben wir genügend gute Werke getan, haben wir genügend in die nötigen Fürbitten nach unserem Tod investiert? Diejenigen, die nicht an ein Leben nach dem Tod glauben, haben mit diesem Schrecken kein Problem. Doch auch wenn sie nicht gläubig sind, hoffen viele Menschen darauf, dass es nach dem Tod irgendwie weiter gehen könnte. Wir können ihnen hier nicht helfen, können den Gedanken hier nicht weiterverfolgen.
Aber damit ist der Schreck in der anderen Richtung nicht aus der Welt, die Erkenntnis, unser Leben ist endlich. Was bleibt uns? Manche wünschen sich, dass das menschliche Leben künftig nahezu unbegrenzt andauert. Technisch gesehen ist dies derzeit unmöglich. Unsere Körper sind nicht dafür ausgelegt und die Medizin ist längst nicht in der Lage zu einer permanenten Reparatur. Die Liste der bislang unbesiegbaren Krankheiten ist lang. Alterungsprozesse können vorübergehend übertüncht, aber nicht aufgehalten werden. Deswegen denken Transhumanisten darüber nach, das Leben mit mehr und mehr künstlichen Ersatzteilen und künstlicher Intelligenz zu verlängern.
Aber wäre es denn wirklich wünschenswert, ein „ewiges Leben“ zu haben? Ein ewiges Leben wäre die Hölle. Wenn nicht gleichzeitig die Eroberung neuer Welten gelänge, würden die endlichen Ressourcen unseres Planeten zum Beispiel keinen Platz mehr für Kinder bieten. Und Langeweile würde die Herrschaft übernehmen, warnen uns Philosophen. Unsere Leben werden oft durch den Wechsel von Höhen und Tiefen, Freuden und Herausforderungen geprägt. Die begrenzte Dauer unseres Lebens verleiht unseren Erfahrungen einen einzigartigen Wert und eine besondere Intensität. Ein Leben ohne Ende könnte zu einer endlosen Monotonie führen, in der die Freude des Erfahrens durch die Aussicht auf eine endlose Wiederholung verloren geht. In einem endlosen Leben würden Erinnerungen unaufhörlich anwachsen, und die Fähigkeit des Geistes, mit dieser Flut von Informationen umzugehen, könnte überfordert werden. Die Schönheit und Bedeutung bestimmter Erlebnisse würden in der Masse zunehmender Erinnerungen verblassen und bedeutungslos werden. Und da der Mensch mit der Verlängerung des Lebens nicht seine evolutionär bedingten egoistischen Gene ablegen könnte, wäre noch die Frage, wer denn am Ende vom ewigen Leben profitieren würde.
Verlassen wir das Reich der Utopie. Es bleibt der Schreck, dass unser heutiges bestehendes Leben endlich ist, vielleicht von kurzer Dauer. Manche antworten auf diesen Schreck mit Verdrängung: „Was soll’s, ich kann ohnehin nichts daran ändern. Hauptsache, ich muss nicht leiden, bevor ich sterbe.“ Das ist eine absolut legitime Haltung. Doch solange wir nicht danach bestrebt sind, das Leben schnellstmöglich zu verlassen, ist das Leben für uns offensichtlich überwiegend lebenswert. Dazu braucht das Leben keinen Sinn. Es kommt und es geht ohne Aufgabe für uns. Wir müssen unserem Leben auch keinen Sinn geben, aber wir können es: ihm einen Sinn geben, einen Sinn für uns selbst. Was machen wir mit unserer endlichen Zeit auf dieser Erde? Wie möchten wir leben, was möchten wir noch erleben, bevor der Tod uns begegnet? Was ist uns wichtig, wer ist uns wichtig? Was möchten wir ändern, was noch lernen?
Insgesamt kann die Vorbereitung auf den Tod im Leben dazu beitragen, dass wir uns bewusster mit unserer eigenen Endlichkeit auseinandersetzen und uns auf ein würdevolles Ende vorbereiten. Dies ist ein persönlicher und oft emotionaler Prozess. Die Auseinandersetzung mit dem eigenen Sterben zu Lebzeiten kann dazu führen, dass wir unser Leben bewusster annehmen und schätzen. Die Bejahung der eigentlichen Endlichkeit kann zu innerem Frieden führen und Ängste mindern. Offene Gespräche mit Angehörigen oder lieben Menschen über Wünsche, Vorstellungen und Ängste können für alle Beteiligten hilfreich sein.
Und wir können auch Trost finden, wenn wir an unseren eigenen Tod denken. Wir können in den Erinnerungen und Einflüssen, die wir im Leben hinterlassen, eine Art Fortleben sehen. Die Art und Weise, wie wir auf andere Menschen wirken, wie wir in ihren Erinnerungen weiterleben, die Idee, dass die eigenen Handlungen einen positiven Einfluss auf andere haben können, kann Trost spenden. Auch der Kreislauf des Lebens, der Gedanke, dass die Elemente unseres Körpers nach dem Tod wieder in den natürlichen Kreislauf eingehen, kann eine tröstliche Perspektive bieten.
Die Britin Hester Braun formuliert in einer Gedankensammlung zur Sterblichkeit: „Wir alle beeinflussen und verändern das Leben des anderen in einer endlosen Entwicklung. Unser Augenblick vergeht, aber zukünftige Generationen stehen auf unseren Schultern.“
Und ein letzter Gedanke, diesmal von Eugenio Montale, einem italienischen Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger: „Wenn wir sterben, sind wir Zeitgenossen aller anderen, außer den Lebenden”.
Ich wünsche Ihnen allen ein schönes Leben, einst einmal einen schönen Tod und heute noch einen schönen Tag.