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Impulse zur humanistischen Herzensbildung

Die Stoiker und die Philosophie der Liebe

Marcus Aurelius, Bronzestatue vor dem Kapitol im Rom
Marcus Aurelius, Bronzestatue vor dem Kapitol im Rom
Die Wiederentdeckung der Stoiker für eine humanistische Herzensbildung

„Kei­ne [phi­lo­so­phi­sche] Schu­le besitzt mehr Güte und Sanft­mut [als die stoi­sche]; kei­ne bringt den Men­schen mehr Lie­be ent­ge­gen oder schenkt dem Gemein­wohl mehr Beach­tung. Ihr Ziel ist es, nutz­brin­gend zu sein, ande­ren zu hel­fen und sich nicht nur um sich selbst zu sor­gen, son­dern um alle und jeden Ein­zel­nen.“ Sene­ca, Über die Mil­de, 3.3

Wer das Wort Stoi­ker oder sto­isch hört, ver­bin­det damit ver­mut­lich in ers­ter Linie das Bild von Selbst­be­herr­schung, Logik und Emo­ti­ons­lo­sig­keit. Die­se Vor­stel­lung, wie sie mit der Figur des Mr. Spock Ein­zug in die moder­ne Popu­lär­kul­tur gehal­ten hat, fin­det sich in Tei­len auch als Auf­hän­ger eini­ger zeit­ge­nös­si­scher Selbst­hil­fe- und Coa­ching­bü­cher.

Der Gegen­satz zum oben zitier­ten State­ment Sene­cas, eines pro­mi­nen­ten Ver­tre­ters der spä­ten, römi­schen Stoa, könn­te daher nicht grö­ßer sein. Lie­ße sich die stoi­sche Phi­lo­so­phie auf die moder­ne Rezep­ti­on redu­zie­ren, sie wäre in der Tat gänz­lich unge­eig­net, Impul­se für eine Her­zens­bil­dung huma­nis­ti­scher Prä­gung bei­zu­steu­ern. Aus die­sem Grund muss man zunächst das sokra­ti­sche Men­schen­bild ver­ste­hen, dem die Stoi­ker anhin­gen; der Mensch ist, von Natur aus, ein sozia­les und mit der Ver­nunft begab­tes Wesen. Dass nach stoi­scher Les­art dar­in gleich­zei­tig auch sei­ne natür­li­che Bestim­mung liegt, ver­deut­licht fol­gen­des Zitat Mark Aurels, des letz­ten bekann­ten Stoi­kers:

„Der Nut­zen jedes Wesens liegt in dem, was mit sei­ner eige­nen […] Natur über­ein­stimmt. Mei­ne Natur ist die eines ver­nunft­be­gab­ten und sozia­len Wesens. Als Anto­ni­nus ist Rom mei­ne Stadt und mein Vater­land; als Mensch ist es die gan­ze Welt.“ Mark Aurel, Selbst­be­trach­tun­gen, 6.44

Ein ver­nunft­ge­mä­ßes Leben war für die Stoi­ker dabei gleich­be­deu­tend mit dem Stre­ben nach einem tugend­haf­ten Leben. Die Tugen­den, Weis­heit, Gerech­tig­keit, Cou­ra­ge, Mäßi­gung, denen wei­te­re Tugen­den zuge­ord­net waren, wur­den als Ver­voll­komm­nung der mensch­li­chen Ver­nunft ange­se­hen. Ein Leben, in dem der Mensch zur bes­ten Ver­si­on sei­ner selbst her­an­reift, war damit iden­tisch mit dem guten Leben an sich. Dass sich unter den Tugen­den mit der Gerech­tig­keit, Cou­ra­ge und Mäßi­gung gleich drei auf die Gemein­schaft bezo­ge­ne Cha­rak­ter­ei­gen­schaf­ten bzw. Fähig­kei­ten fin­den, ist durch­aus kein Zufall, und es unter­mau­ert Sene­cas Aus­sa­ge vom Anfang, es han­de­le sich bei der stoi­schen Phi­lo­so­phie um eine dem Gemein­we­sen ver­pflich­te­te Lebens­wei­se.

Daher mag es ver­mut­lich über­ra­schen, dass die Stoi­ker im Selbst­er­hal­tungs­trieb bzw. in der Selbst­lie­be sowie der Bin­dung zwi­schen Eltern und ihrem Nach­wuchs den Aus­gangs­punkt der ethi­schen Ent­wick­lung des Men­schen sahen. Das vom Stoi­ker Hiero­cles ent­wor­fe­ne Bild der kon­zen­tri­schen Krei­se gibt davon ein bered­tes Bei­spiel: So zie­hen sich um den inners­ten Kreis des Selbst her­um immer wei­ter wer­den­de Krei­se aus engs­ten Fami­li­en­an­ge­hö­ri­gen, Ver­wand­ten, Freun­den und Bekann­ten, Nach­barn, Mit­bür­gern, Ange­hö­ri­gen der eige­nen Eth­nie bis hin zur gesam­ten Mensch­heit. In sei­nem Aus­gangs­punkt die­ser Oikei­osis (Aneig­nung, „in den eige­nen Haus­halt holen“) ähnelt der Mensch ande­ren Tie­ren, sein Pri­vi­leg ist es jedoch, kraft sei­ner Ver­nunft, den Blick über die ihm ange­bo­re­nen Instink­te hin­aus zu wei­ten.

Die mit zuneh­men­dem Radi­us immer grö­ßer wer­den­de Distanz zu den jewei­li­gen Men­schen und die damit ein­her­ge­hen­de Abnah­me des Wohl­wol­lens ihnen gegen­über zu ver­rin­gern wird somit zur akti­ven Auf­ga­be jedes Ein­zel­nen. Qua­si durch Kon­trak­ti­on der Krei­se, indem bewusst Attri­bu­te und Bezeich­nun­gen näher­ste­hen­der Per­so­nen auf Ent­fern­te­re über­tra­gen wer­den, ver­rin­gert sich auch die emo­tio­na­le Distanz zu ihnen. Es mag viel­leicht befremd­lich wir­ken oder an reli­giö­se Sprech­wei­sen erin­nern, von frem­den Men­schen als Brü­der, Schwes­tern oder Cou­sins zu spre­chen; den­noch ver­mag der stoi­sche Ansatz mög­li­cher­wei­se dadurch zu errei­chen, was moder­nen Ansät­zen zur Erhö­hung der Empa­thie in ihrer Abs­trakt­heit mit­un­ter schwer­fällt. Gleich­zei­tig erin­nert uns das Nar­ra­tiv der Stoa dar­an, dass wir, wie Mark Aurel es aus­drück­te, als Men­schen – unab­hän­gig von Alter, Geschlecht oder Her­kunft – einer ein­zi­gen, welt­um­span­nen­den Gemein­schaft ange­hö­ren.

Ein noch plas­ti­sche­res Bild formt Mark Aurel mit der Aus­sa­ge: „Ich bin eine Glied­ma­ße des gemein­sa­men Kör­pers, geformt von allen ver­nunft­be­gab­ten Wesen.“ (Selbst­be­trach­tun­gen, 7.13) Die­ser Ver­gleich nimmt wohl­wol­len­dem Ver­hal­ten nicht nur den Cha­rak­ter blo­ßer Pflicht­er­fül­lung; statt­des­sen wird das Gut­sein ande­ren gegen­über begrif­fen als gute Tat am eige­nen Wesen, das gleich­sam orga­nisch mit dem der Mit­men­schen ver­bun­den ist.

Obwohl die Stoa ein posi­ti­ves Men­schen­bild ver­tritt und kein Kon­zept von Sün­de kennt, kennt sie den­noch das Kon­zept der Tor­heit. Men­schen ver­hal­ten sich oft töricht, sodass die­se Hal­tun­gen sich nicht auf Knopf­druck ein­stel­len, son­dern ein akti­ves Bemü­hen und Refle­xi­on des Ein­zel­nen vor­aus­set­zen.

Dar­auf, wie die Stoi­ker mit die­sen Schwie­rig­kei­ten und den in Kon­flik­ten auf­tre­ten­den, nega­ti­ven Emo­tio­nen umge­hen, kann im Rah­men die­ses kur­zen Tex­tes zwar nicht näher ein­ge­gan­gen wer­den, den­noch hof­fe ich, mit­hil­fe der vor­ge­stell­ten Bei­spie­le das Inter­es­se für die Stoi­ker und ihre Phi­lo­so­phie geweckt zu haben. Mei­nes Erach­tens bie­tet die Stoa, in einem gewis­sen Rah­men, ein hohes Maß an Anschluss­fä­hig­keit an moder­ne, huma­nis­ti­sche Über­zeu­gun­gen. Dar­über hin­aus lie­fert sie wert­vol­le Impul­se zu der Fra­ge, wie die Umset­zung ideel­ler Grund­sät­ze in die Pra­xis gelebt wer­den kann.

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