Kahl möchte Einzelnen wie Kollektiven mit seinem Humanismus eine ethische Orientierungs- und Sinnperspektive für ein gutes menschliches Leben bieten, in herausfordernden Zeiten und vor dem Hintergrund einer weltlichen Kosmologie und Anthropologie. Auffällig ist, dass er in diesem Buch insbesondere die Bedeutung von Kunstwerken als Zugang zu humanistischen Anschauungen hervorhebt. Acht sehr prägnante Kurzanalysen von „Meisterwerken der bildenden Kunst“ machen ein Drittel des Buches aus. Auch das ist eine willkommene Besonderheit im humanistischen Diskurs, in dem die Kunst doch so manches Mal auf ihre evolutionäre Nützlichkeit oder ein bürgerliches Überbauphänomen reduziert wird.
Kahl interpretiert Albrecht Dürers „Selbstbildnis als Akt“ (ca. 1521) als eine moderne Weise individueller Selbstverständigung, „vornehmlich für Männer“ (S. 114). Es gehe dort um den Aufbruch zur religionsbefreiten Sorge um sich selbst, um Leiblichkeit und Sinnlichkeit, die Gleichrangigkeit von Vernunft und Trieb und nicht zuletzt um Verletzbarkeit. In Frida Kahlos Selbstbildnis „Die gebrochene Säule“ (1944) sieht Kahl unsere existenzielle Ambivalenz verkörpert: einerseits Unfreiheit, Wehrlosigkeit, Schmerz und Trauer und andererseits Freiheit, Würde, Stolz und Kraft. Die gebrochene Säule symbolisiere als ihr „Rückgrat“ Kahlos Selbstbehauptung trotz der ständigen Schmerzen in Folge ihres schrecklichen Verkehrsunfalls mit 18 Jahren, durch den sie ihre Beweglichkeit verloren hatte. Dieses „Meisterwerk des phantastischen Realismus“ sei Stütze und Hilfe auch für die Betrachtenden (S. 119).
Genauso lesenswert sind auch seine Interpretationen von Caspar David Friedrichs „Mönch am Meer“ (1808–1810), Pieter Bruegels „Landschaft mit Sturz des Ikarus“ (ca. 1560), Edvard Munchs „Der Schrei“ (1893), Tizians „Toilette der Venus“ (1555), Max Beckmanns „Odysseus und Kalypso“ (1943) und Max Ernsts „Die Jungfrau züchtigt den Jesusknaben vor drei Zeugen: André Breton, Paul Éluard und dem Maler“ (1926). Kahl beschreibt jeweils Komposition und Farbgebung, nennt Hintergründe und schlägt humanistische Deutungsperspektiven vor. Dies alles macht er auf gut verständliche wie inspirierende Art und Weise, die bei Leserin und Leser weder kunsthistorische Kenntnisse noch besonderes Interesse an Kunst schon voraussetzt. Leider lässt die Bildqualität im Buch es nicht zu, dass jedes beschriebene Detail auch erkennbar ist.
Freuen können sich Leserinnen und Leser weiter auf vier knappe Porträtskizzen von „Persönlichkeiten mit humanistischem Profil“: Bertha von Suttner, Olympe de Gouges, Fritz Bauer und Nelson Mandela. Ein eigenes Kapitel widmet Kahl den aktuellen Debatten um Selbstbestimmung und Sterbehilfe, eingedenk des „relativen“ und „fragmentarischen“ Charakters von Selbstbestimmung und doch beharrend auf der Legitimität des eigenen freien Willens. Auf jeder Seite des Buches tritt die tiefe Menschenfreundlichkeit der Kahlschen Humanismusvariante eindrucksvoll hervor. Ausgehend von der evolutionären Verankerung sowohl kooperativer als auch aggressiver Potenziale versteht er unter Humanismus die Förderung der kooperativen Möglichkeiten des Menschen (S. 2). Es gehe um Wohlergehen und Selbstbehauptung, darum, „die Last und Härte der menschlichen Existenz mildern“ zu helfen“ (S. 5). Er findet ein „abendländisches Humanitätsideal“ schon bei Antigone, der „ersten namentlich bekannten Humanistin“: „Nicht mit zu hassen, mit zu lieben bin ich da“ (S. 3). Zusammenfassend nennt er die vier klassischen Kardinaltugenden als Leitbild eines humanistischen Weltethos: Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit, Mäßigung, nicht ohne die Problematiken solcher Tugendkataloge zumindest anzudeuten.
Den Begriff „Weltethos“ übernimmt Kahl vom katholischen Theologen Hans Küng. Er bejaht u.a. dessen Forderung nach einer notwendigen „Koalition der Glaubenden und Nichtglaubenden“ (S. 151). An dieser Stelle des Buches ist klar, dass Kahls Humanismus gut damit leben kann, dass es Glaubende gibt und weiterhin geben wird. Jedoch macht er sich im Schlussabsatz seines Buches Feuerbachs Ziel zu eigen, aus Gottesfreunden Menschenfreunde, aus Gläubigen Denker und aus Christen ganze Menschen machen zu wollen. Diese etwas einfachen Oppositionen – als ob Gläubige nicht auch nachdenkliche Menschenfreunde sein könnten – passen eigentlich nicht zum Gesamtduktus des Buches und die Missionierungsabsicht scheint auch mit dem vorab bejahten ethischen Koalitionsanliegen zu konfligieren.
Es ist insgesamt beeindruckend, wie Kahl es schafft, mit seinem Buch eine attraktive Einladung auszusprechen, ohne doch die existenziellen und moralischen Nachtseiten menschlichen Lebens zu übergehen oder in einem Beglückungskonzept à la Beratungsliteratur aufzuheben. Allein dafür lohnt die Lektüre. Kahl benennt die humanen Potenziale der Menschen und beschreibt genauso deren Abgründe und Grausamkeiten. „Weltvergnügen“ und „Weltschmerz“ – zusammen mit dem „Weltethos“ Kahls „humanistischer Dreiklang“ – gehören beide zum humanistischen Lebensgefühl.
Wer also Kahls Einladung annimmt, wird dies kaum bereuen. Geboten wird etwas Wertvolles: die spezifische Idee eines guten menschlichen Lebens in dieser Welt, die nicht nur andere Erklärungen liefert – wissenschaftliche statt religiöse, sondern darüber hinaus und primär eine attraktive lebenspraktische Orientierung. Kahls Humanismus soll Menschen helfen, die Herausforderungen ihres Lebens zu bewältigen. Es ist ein Humanismus der ausgeglichenen Gelassenheit, der „Seelenruhe“ der Stoa und auch Epikurs, wo Lust aber vornehmlich die Abwesenheit von Leid ist. „Weltvergnügen“ und „Weltschmerz“ sind dann beide gedämpft. Und vielleicht lohnt es sich hier, auch einen anderen Akzent zu denken. Bei Kahl gibt es keine hohen Ausschläge, weder in Richtung Lust noch in Richtung Leid: Die Freuden und Genüsse des menschlichen Lebens werden eher zurückhaltend angedeutet und die geforderte souveräne Versöhnung mit Vergänglichkeit und Sterblichkeit erscheint recht harmonisch. Seelenruhe eben, und nicht Unruhe der menschlichen Begehren. Aber gehört nicht gerade das leidenschaftliche Erleben von Lust und Freude – nicht nur das wohltemperierte Vergnügen – ganz wesentlich zu einem guten menschlichen Leben dazu? Und bedingen diese Leidenschaften nicht notwendig auch Enttäuschungen, Leid und Trauer, mit denen man sich doch nur dann wirklich versöhnen kann, wenn auch die Spitzen der Leidenschaften gekappt werden? Geliebte Menschen, Dinge und Tätigkeiten: Möchte man sich wirklich damit versöhnen, sie einst für immer verlieren zu müssen? Die Opfer der Weltgeschichte: Kann man sich wirklich damit versöhnen, dass es keine Wiedergutmachung geben wird?
Vielleicht muss man sich auch in humanistischer Perspektive gar nicht damit versöhnen. Womöglich macht es gerade die Leidenschaft menschlichen Lebens aus, sich mit all dem nicht abfinden zu können. Es wäre dies dann ein unversöhnlicher Humanismus, der eben nicht alles bewältigen kann und will. Der seine Lebensfreude nicht nur aus dem Bewusstsein der Endlichkeit des Lebens bezieht, sondern aus der Verweigerung der Versöhnung mit dieser Endlichkeit. Der seinen Mut zum Engagement nicht nur dem Bewusstsein von Ungerechtigkeiten verdankt, sondern der Unversöhnlichkeit mit diesen Ungerechtigkeiten. Ein moderner Humanismus muss nicht befürchten, sein Hedonismus diskreditiere ihn moralisch und seine Unversöhnlichkeit bahne den Weg zur Religion.