Zum neuen Buch von Joachim Kahl

Humanismus – Ruhe oder Unruhe?

Caspar David Friedrich, Der Mönch am Meer
Caspar David Friedrich, Der Mönch am Meer
Der religionskritische Philosoph Joachim Kahl spricht mit seinem neuen Buch eine Einladung zum Humanismus aus. Mit diesem Gestus ist schon einiges über den Inhalt gesagt. Eine Einladung, zumal eine so freundliche wie auf den dann folgenden Seiten, macht wenig Sinn, wenn der Einladende nicht etwas Schönes und Attraktives bereithält. Es kann dann z.B. kaum noch ein solcher Humanismus angeboten werden, dem es ausschließlich um harte politische Interessensvertretung geht, und sicherlich keiner, der mit missionarischem Eifer daherkommt oder eine wissenschaftliche Evidenz anpreist, der man zu folgen habe, sofern man rational sein möchte. Worauf dann also können Leserinnen und Leser sich freuen, wenn sie dieser Einladung folgen?

Kahl möch­te Ein­zel­nen wie Kol­lek­ti­ven mit sei­nem Huma­nis­mus eine ethi­sche Ori­en­tie­rungs- und Sinn­per­spek­ti­ve für ein gutes mensch­li­ches Leben bie­ten, in her­aus­for­dern­den Zei­ten und vor dem Hin­ter­grund einer welt­li­chen Kos­mo­lo­gie und Anthro­po­lo­gie. Auf­fäl­lig ist, dass er in die­sem Buch ins­be­son­de­re die Bedeu­tung von Kunst­wer­ken als Zugang zu huma­nis­ti­schen Anschau­un­gen her­vor­hebt. Acht sehr prä­gnan­te Kurz­ana­ly­sen von „Meis­ter­wer­ken der bil­den­den Kunst“ machen ein Drit­tel des Buches aus. Auch das ist eine will­kom­me­ne Beson­der­heit im huma­nis­ti­schen Dis­kurs, in dem die Kunst doch so man­ches Mal auf ihre evo­lu­tio­nä­re Nütz­lich­keit oder ein bür­ger­li­ches Über­bau­phä­no­men redu­ziert wird.

Kahl inter­pre­tiert Albrecht Dürers „Selbst­bild­nis als Akt“ (ca. 1521) als eine moder­ne Wei­se indi­vi­du­el­ler Selbst­ver­stän­di­gung, „vor­nehm­lich für Män­ner“ (S. 114). Es gehe dort um den Auf­bruch zur reli­gi­ons­be­frei­ten Sor­ge um sich selbst, um Leib­lich­keit und Sinn­lich­keit, die Gleich­ran­gig­keit von Ver­nunft und Trieb und nicht zuletzt um Ver­letz­bar­keit. In Fri­da Kahl­os Selbst­bild­nis „Die gebro­che­ne Säu­le“ (1944) sieht Kahl unse­re exis­ten­zi­el­le Ambi­va­lenz ver­kör­pert: einer­seits Unfrei­heit, Wehr­lo­sig­keit, Schmerz und Trau­er und ande­rer­seits Frei­heit, Wür­de, Stolz und Kraft. Die gebro­che­ne Säu­le sym­bo­li­sie­re als ihr „Rück­grat“ Kahl­os Selbst­be­haup­tung trotz der stän­di­gen Schmer­zen in Fol­ge ihres schreck­li­chen Ver­kehrs­un­falls mit 18 Jah­ren, durch den sie ihre Beweg­lich­keit ver­lo­ren hat­te. Die­ses „Meis­ter­werk des phan­tas­ti­schen Rea­lis­mus“ sei Stüt­ze und Hil­fe auch für die Betrach­ten­den (S. 119).

Genau­so lesens­wert sind auch sei­ne Inter­pre­ta­tio­nen von Cas­par David Fried­richs „Mönch am Meer“ (1808–1810), Pie­ter Brue­gels „Land­schaft mit Sturz des Ika­rus“ (ca. 1560), Edvard Munchs „Der Schrei“ (1893), Tizi­ans „Toi­let­te der Venus“ (1555), Max Beck­manns „Odys­seus und Kalyp­so“ (1943) und Max Ernsts „Die Jung­frau züch­tigt den Jesus­kna­ben vor drei Zeu­gen: André Bre­ton, Paul Éluard und dem Maler“ (1926). Kahl beschreibt jeweils Kom­po­si­ti­on und Farb­ge­bung, nennt Hin­ter­grün­de und schlägt huma­nis­ti­sche Deu­tungs­per­spek­ti­ven vor. Dies alles macht er auf gut ver­ständ­li­che wie inspi­rie­ren­de Art und Wei­se, die bei Lese­rin und Leser weder kunst­his­to­ri­sche Kennt­nis­se noch  beson­de­res Inter­es­se an Kunst schon vor­aus­setzt. Lei­der lässt die Bild­qua­li­tät im Buch es nicht zu, dass jedes beschrie­be­ne Detail auch erkenn­bar ist.  

Freu­en kön­nen sich Lese­rin­nen und Leser wei­ter auf vier knap­pe Por­trät­skiz­zen von „Per­sön­lich­kei­ten mit huma­nis­ti­schem Pro­fil“: Ber­tha von Sutt­ner, Olym­pe de Gou­ges, Fritz Bau­er und Nel­son Man­de­la. Ein eige­nes Kapi­tel wid­met Kahl den aktu­el­len Debat­ten um Selbst­be­stim­mung und Ster­be­hil­fe, ein­ge­denk des „rela­ti­ven“ und „frag­men­ta­ri­schen“ Cha­rak­ters von Selbst­be­stim­mung und doch behar­rend auf der Legi­ti­mi­tät des eige­nen frei­en Wil­lens. Auf jeder Sei­te des Buches tritt die tie­fe Men­schen­freund­lich­keit der Kahl­schen Huma­nis­mus­va­ri­an­te ein­drucks­voll her­vor. Aus­ge­hend von der evo­lu­tio­nä­ren Ver­an­ke­rung sowohl koope­ra­ti­ver als auch aggres­si­ver Poten­zia­le ver­steht er unter Huma­nis­mus die För­de­rung der koope­ra­ti­ven Mög­lich­kei­ten des Men­schen (S. 2). Es gehe um Wohl­erge­hen und Selbst­be­haup­tung, dar­um, „die Last und Här­te der mensch­li­chen Exis­tenz mil­dern“ zu hel­fen“ (S. 5). Er fin­det ein „abend­län­di­sches Huma­ni­täts­ide­al“ schon bei Anti­go­ne, der „ers­ten nament­lich bekann­ten Huma­nis­tin“: „Nicht mit zu has­sen, mit zu lie­ben bin ich da“ (S. 3). Zusam­men­fas­send nennt er die vier klas­si­schen Kar­di­nal­tu­gen­den als Leit­bild eines huma­nis­ti­schen Welt­ethos: Klug­heit, Gerech­tig­keit, Tap­fer­keit, Mäßi­gung, nicht ohne die Pro­ble­ma­ti­ken sol­cher Tugend­ka­ta­lo­ge zumin­dest anzu­deu­ten.

Den Begriff „Welt­ethos“ über­nimmt Kahl vom katho­li­schen Theo­lo­gen Hans Küng. Er bejaht u.a. des­sen For­de­rung nach einer not­wen­di­gen „Koali­ti­on der Glau­ben­den und Nicht­glau­ben­den“ (S. 151). An die­ser Stel­le des Buches ist klar, dass Kahls Huma­nis­mus gut damit leben kann, dass es Glau­ben­de gibt und wei­ter­hin geben wird. Jedoch macht er sich im Schluss­ab­satz sei­nes Buches Feu­er­bachs Ziel zu eigen, aus Got­tes­freun­den Men­schen­freun­de, aus Gläu­bi­gen Den­ker und aus Chris­ten gan­ze Men­schen machen zu wol­len. Die­se etwas ein­fa­chen Oppo­si­tio­nen – als ob Gläu­bi­ge nicht auch nach­denk­li­che Men­schen­freun­de sein könn­ten – pas­sen eigent­lich nicht zum Gesamt­duk­tus des Buches und die Mis­sio­nie­rungs­ab­sicht scheint auch mit dem vor­ab bejah­ten ethi­schen Koali­ti­ons­an­lie­gen zu kon­f­li­gie­ren.   

Joa­chim Kahl: „Huma­nis­mus – Eine Ein­la­dung”. Tec­tum; 176 S.; € 26,-; ISBN: 978–3828845978

Es ist ins­ge­samt beein­dru­ckend, wie Kahl es schafft, mit sei­nem Buch eine attrak­ti­ve Ein­la­dung aus­zu­spre­chen, ohne doch die exis­ten­zi­el­len und mora­li­schen Nacht­sei­ten mensch­li­chen Lebens zu über­ge­hen oder in einem Beglü­ckungs­kon­zept à la Bera­tungs­li­te­ra­tur auf­zu­he­ben. Allein dafür lohnt die Lek­tü­re. Kahl benennt die huma­nen Poten­zia­le der Men­schen und beschreibt genau­so deren Abgrün­de und Grau­sam­kei­ten. „Welt­ver­gnü­gen“ und „Welt­schmerz“ – zusam­men mit dem „Welt­ethos“ Kahls „huma­nis­ti­scher Drei­klang“ – gehö­ren bei­de zum huma­nis­ti­schen Lebens­ge­fühl.

Wer also Kahls Ein­la­dung annimmt, wird dies kaum bereu­en. Gebo­ten wird etwas Wert­vol­les: die spe­zi­fi­sche Idee eines guten mensch­li­chen Lebens in die­ser Welt, die nicht nur ande­re Erklä­run­gen lie­fert – wis­sen­schaft­li­che statt reli­giö­se, son­dern dar­über hin­aus und pri­mär eine attrak­ti­ve lebens­prak­ti­sche Ori­en­tie­rung. Kahls Huma­nis­mus soll Men­schen hel­fen, die Her­aus­for­de­run­gen ihres Lebens zu bewäl­ti­gen. Es ist ein Huma­nis­mus der aus­ge­gli­che­nen Gelas­sen­heit, der „See­len­ru­he“ der Stoa und auch Epi­kurs, wo Lust aber vor­nehm­lich die Abwe­sen­heit von Leid ist. „Welt­ver­gnü­gen“ und „Welt­schmerz“ sind dann bei­de gedämpft. Und viel­leicht lohnt es sich hier, auch einen ande­ren Akzent zu den­ken. Bei Kahl gibt es kei­ne hohen Aus­schlä­ge, weder in Rich­tung Lust noch in Rich­tung Leid: Die Freu­den und Genüs­se des mensch­li­chen Lebens wer­den eher zurück­hal­tend ange­deu­tet und die gefor­der­te sou­ve­rä­ne Ver­söh­nung mit Ver­gäng­lich­keit und Sterb­lich­keit erscheint recht har­mo­nisch. See­len­ru­he eben, und nicht Unru­he der mensch­li­chen Begeh­ren. Aber gehört nicht gera­de das lei­den­schaft­li­che Erle­ben von Lust und Freu­de – nicht nur das wohl­tem­pe­rier­te Ver­gnü­gen – ganz wesent­lich zu einem guten mensch­li­chen Leben dazu? Und bedin­gen die­se Lei­den­schaf­ten nicht not­wen­dig auch Ent­täu­schun­gen, Leid und Trau­er, mit denen man sich doch nur dann wirk­lich ver­söh­nen kann, wenn auch die Spit­zen der Lei­den­schaf­ten gekappt wer­den? Gelieb­te Men­schen, Din­ge und Tätig­kei­ten: Möch­te man sich wirk­lich damit ver­söh­nen, sie einst für immer ver­lie­ren zu müs­sen? Die Opfer der Welt­ge­schich­te: Kann man sich wirk­lich damit ver­söh­nen, dass es kei­ne Wie­der­gut­ma­chung geben wird?

Viel­leicht muss man sich auch in huma­nis­ti­scher Per­spek­ti­ve gar nicht damit ver­söh­nen. Womög­lich macht es gera­de die Lei­den­schaft mensch­li­chen Lebens aus, sich mit all dem nicht abfin­den zu kön­nen. Es wäre dies dann ein unver­söhn­li­cher Huma­nis­mus, der eben nicht alles bewäl­ti­gen kann und will. Der sei­ne Lebens­freu­de nicht nur aus dem Bewusst­sein der End­lich­keit des Lebens bezieht, son­dern aus der Ver­wei­ge­rung der Ver­söh­nung mit die­ser End­lich­keit. Der sei­nen Mut zum Enga­ge­ment nicht nur dem Bewusst­sein von Unge­rech­tig­kei­ten ver­dankt, son­dern der Unver­söhn­lich­keit mit die­sen Unge­rech­tig­kei­ten. Ein moder­ner Huma­nis­mus muss nicht befürch­ten, sein Hedo­nis­mus dis­kre­di­tie­re ihn mora­lisch und sei­ne Unver­söhn­lich­keit bah­ne den Weg zur Reli­gi­on.

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