Aus der Ethik eine Religion machen – dieser Buchtitel macht neugierig. Neugierig vor allem wegen seiner vielleicht sogar beabsichtigten Zweideutigkeit. Neugierig wohl auch deshalb, ob hier nicht ein Missverständnis vorliegt. Aber bei der Lektüre wird man feststellen, dass dieses Postulat im seinerzeitigen Verständnis von Religion begründet ist. Dem Urheber, dem Soziologen Ferdinand Tönnies, war es ein Anliegen, im gesellschaftlichen und privaten Leben (Moral, Kultur, Schule) Ethik an Stelle von Religion zu setzen und keine neue Religion zu begründen.
Der heutige organisierte Humanismus in Deutschland gründet sich, so meint man, aus zwei Quellen: den Freireligiösen und den Freidenkern. Doch es gibt eine dritte Quelle, die fast völlig und zu Unrecht in Vergessenheit geraten ist: Die Deutsche Gesellschaft für ethische Kultur (DGEK); gegründet im Oktober 1892 und im Januar 1937 durch Selbstauflösung geendet.
Der nun vorliegende Band des Kulturwissenschaftlers Horst Groschopp und des Historikers Eckhard Müller zeichnet erstmals die Geschichte dieser Organisation und ihrer Zeitschrift nach und stellt ihre wichtigsten Akteure vor. Die DGEK erlangte aber zu keiner Zeit die Bedeutung, die ähnliche Organisationen in Großbritannien und den USA hatten. Auch blieb ihre Mitgliederzahl sehr klein und beschränkte sich im Kern doch nur auf den Berliner Raum. Die Mitglieder und Funktionäre kamen aus gutbürgerlichen Kreisen: Akademiker, Freiberufler und Unternehmer – in bedeutendem Maße waren es säkularisierte Juden. Bemerkenswert für einen deutschen Verein in der Wilhelminischen Zeit ist die große Zahl von Frauen in Vorstandsämtern. Wohl nicht zuletzt deshalb setzten sich die DGEK und ihre Protagonisten für Menschenrechte, Humanität, Emanzipation (nicht nur der Frauen, sondern auch der jüdischen Mitbürger) und Pazifismus ein.
Die Autoren gehen ausführlich auf zwei wichtige Richtungsentscheidungen ein: 1895 ging es um die Abkehr von sozialistischen Ambitionen ihrer Hauptgründer mit folgender zunehmender Distanz zur Bebel’schen SPD.
Wie die Freireligiösen und die Freidenker setzte sich die DGEK für eine wissenschaftlich fundierte Weltanschauung ein. Im Gegensatz zu den anderen wollte sie aber bewusst keine Weltanschauungsorganisation sein. Sie setzte ihren Schwerpunkt hingegen auf ein soziales Reformprogramm (siehe „Humanismus muss praktisch sein oder er ist keiner“). Ihre Mitglieder gründeten und unterhielten daher u. a. öffentliche Lesehallen und Sozial-Beratungsstellen. Das war 1899 der Hintergrund für die zweite Richtungsentscheidung.
Und der Kern dieser Kontroverse existiert im organisierten deutschen Humanismus immer noch: „Kann eine Organisation ein radikales weltanschauliches Programm zur Gesellschaftsveränderung haben und zugleich von diesem Staat geldliche und sonstige Fördermittel nehmen?“ (S. 142). Oder anders: Will man wirklich selbständiger, unabhängiger Verein sein oder nicht doch lieber die Privilegien einer K.d.ö.R. genießen?
Ein besonderer Wert dieser Publikation bilden der Abdruck von 13 Dokumenten, darunter eine namentliche Auflistung der Hauptvorstände von 1892 bis 1926 (S. 210–285), sowie eine Archiv- und Quellenstudie plus Bibliographie (S. 289–338).

Horst Groschopp, Eckhard Müller: Aus der Ethik eine Religion machen. Der praktische Humanismus einer sozialliberalen Kulturbewegung.
Alibri Verlag, Aschaffenburg 2024
350 Seiten, 34 €
ISBN: 978–3‑86569–397‑6
Der Beitrag erschien zuerst in der Humanistischen Rundschau | Ausgabe 3/2024. Wir danken den Humanisten Baden-Württemberg für die freundliche Genehmigung zur Zweitveröffentlichung.