Deutsche Gesellschaft für ethische Kultur

Eine ethische Kultur anstelle von Religionen

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Ferdinand-Tönnies-Denkmal im Schlosspark in Husum. Der Soziologe gehörte 1892 zu den Gründern der Deutschen Gesellschaft für ethische Kultur.
Die Deutsche Gesellschaft für ethische Kultur wurde im Oktober 1892 gegründet. Der Band „Aus der Ethik eine Religion machen. Der praktische Humanismus einer sozialliberalen Kulturbewegung“ des Kulturwissenschaftlers Horst Groschopp und des Historikers Eckhard Müller zeichnet erstmals die Geschichte dieser Organisation und ihrer Zeitschrift nach und stellt ihre wichtigsten Akteure vor.

Aus der Ethik eine Reli­gi­on machen – die­ser Buch­ti­tel macht neu­gie­rig. Neu­gie­rig vor allem wegen sei­ner viel­leicht sogar beab­sich­tig­ten Zwei­deu­tig­keit. Neu­gie­rig wohl auch des­halb, ob hier nicht ein Miss­ver­ständ­nis vor­liegt. Aber bei der Lek­tü­re wird man fest­stel­len, dass die­ses Pos­tu­lat im sei­ner­zei­ti­gen Ver­ständ­nis von Reli­gi­on begrün­det ist. Dem Urhe­ber, dem Sozio­lo­gen Fer­di­nand Tön­nies, war es ein Anlie­gen, im gesell­schaft­li­chen und pri­va­ten Leben (Moral, Kul­tur, Schu­le)  Ethik an Stel­le von Reli­gi­on zu set­zen und kei­ne neue Reli­gi­on zu begrün­den.

Der heu­ti­ge orga­ni­sier­te Huma­nis­mus in Deutsch­land grün­det sich, so meint man, aus zwei Quel­len: den Frei­re­li­giö­sen und den Frei­den­kern. Doch es gibt eine drit­te Quel­le, die fast völ­lig und zu Unrecht in Ver­ges­sen­heit gera­ten ist: Die Deut­sche Gesell­schaft für ethi­sche Kul­tur (DGEK); gegrün­det im Okto­ber 1892 und im Janu­ar 1937 durch Selbst­auf­lö­sung geen­det.

Der nun vor­lie­gen­de Band des Kul­tur­wis­sen­schaft­lers Horst Gro­schopp und des His­to­ri­kers Eck­hard Mül­ler zeich­net erst­mals die Geschich­te die­ser Orga­ni­sa­ti­on und ihrer Zeit­schrift nach und stellt ihre wich­tigs­ten Akteu­re vor. Die DGEK erlang­te aber zu kei­ner Zeit die Bedeu­tung, die ähn­li­che Orga­ni­sa­tio­nen in Groß­bri­tan­ni­en und den USA hat­ten. Auch blieb ihre Mit­glie­der­zahl sehr klein und beschränk­te sich im Kern doch nur auf den Ber­li­ner Raum. Die Mit­glie­der und Funk­tio­nä­re kamen aus gut­bür­ger­li­chen Krei­sen: Aka­de­mi­ker, Frei­be­ruf­ler und Unter­neh­mer – in bedeu­ten­dem Maße waren es säku­la­ri­sier­te Juden. Bemer­kens­wert für einen deut­schen Ver­ein in der Wil­hel­mi­ni­schen Zeit ist die gro­ße Zahl von Frau­en in Vor­stands­äm­tern. Wohl nicht zuletzt des­halb setz­ten sich die DGEK und ihre Prot­ago­nis­ten für Men­schen­rech­te, Huma­ni­tät, Eman­zi­pa­ti­on (nicht nur der Frau­en, son­dern auch der jüdi­schen Mit­bür­ger) und Pazi­fis­mus ein.

Die Autoren gehen aus­führ­lich auf zwei wich­ti­ge Rich­tungs­ent­schei­dun­gen ein: 1895 ging es um die Abkehr von sozia­lis­ti­schen Ambi­tio­nen ihrer Haupt­grün­der mit fol­gen­der zuneh­men­der Distanz zur Bebel’schen SPD.

Wie die Frei­re­li­giö­sen und die Frei­den­ker setz­te sich die DGEK für eine wis­sen­schaft­lich fun­dier­te Welt­an­schau­ung ein. Im Gegen­satz zu den ande­ren woll­te sie aber bewusst kei­ne Welt­an­schau­ungs­or­ga­ni­sa­ti­on sein. Sie setz­te ihren Schwer­punkt hin­ge­gen auf ein sozia­les Reform­pro­gramm (sie­he „Huma­nis­mus muss prak­tisch sein oder er ist kei­ner“). Ihre Mit­glie­der grün­de­ten und unter­hiel­ten daher u. a. öffent­li­che Lese­hal­len und Sozi­al-Bera­tungs­stel­len. Das war 1899 der Hin­ter­grund für die zwei­te Rich­tungs­ent­schei­dung.

Und der Kern die­ser Kon­tro­ver­se exis­tiert im orga­ni­sier­ten deut­schen Huma­nis­mus immer noch: „Kann eine Orga­ni­sa­ti­on ein radi­ka­les welt­an­schau­li­ches Pro­gramm zur Gesell­schafts­ver­än­de­rung haben und zugleich von die­sem Staat geld­li­che und sons­ti­ge För­der­mit­tel neh­men?“ (S. 142). Oder anders: Will man wirk­lich selb­stän­di­ger, unab­hän­gi­ger Ver­ein sein oder nicht doch lie­ber die Pri­vi­le­gi­en einer K.d.ö.R. genie­ßen?

Ein beson­de­rer Wert die­ser Publi­ka­ti­on bil­den der Abdruck von 13 Doku­men­ten, dar­un­ter eine nament­li­che Auf­lis­tung der Haupt­vor­stän­de von 1892 bis 1926 (S. 210–285), sowie eine Archiv- und Quel­len­stu­die plus Biblio­gra­phie (S. 289–338).

Horst Gro­schopp, Eck­hard Mül­ler: Aus der Ethik eine Reli­gi­on machen. Der prak­ti­sche Huma­nis­mus einer sozi­al­li­be­ra­len Kul­tur­be­we­gung. 
Ali­bri Ver­lag, Aschaf­fen­burg 2024
350 Sei­ten, 34 €
ISBN: 978–3‑86569–397‑6


Der Bei­trag erschien zuerst in der Huma­nis­ti­schen Rund­schau | Aus­ga­be 3/2024. Wir dan­ken den Huma­nis­ten Baden-Würt­tem­berg für die freund­li­che Geneh­mi­gung zur Zweit­ver­öf­fent­li­chung.

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