1. Wissen wir Bescheid?
Viele der verantwortlichen Politiker*innen zeigten sich zumindest zu Beginn der Corona-Pandemie erstaunlich vorsichtig und skeptisch. Sie gaben nicht vor, über Lage und notwendige Maßnahmen genau Bescheid zu wissen und das war wohltuend. Bei einer ganzen Reihe von Intellektuellen, Gesellschaftskritiker*innen und auch Wissenschaftler*innen klang und klingt das bis heute deutlich anders. Manche fühlen sich in ihren sozialen und ökologischen Kritiken der letzten Jahre durch Corona vollends bestätigt und hoffen, dass man nun endlich auf sie hört. Selbsternannte „Trend- und Zukunftsforscher*innen“ beschwören die „Tiefenkrise“ als Chance zur Umkehr. Globalisierungskritiker*innen von rechts und links erinnern selbstgewiss an ihre Klagen über Vernetzung und Auslagerung der Produktion, die die nationale Souveränität beschränken. Exemplarisch sicher auch der Virologe Alexanders Kekulé im April bei Anne Will auf die Frage nach den Symptomen von Corona: „Jeder von uns wird in den nächsten Wochen Personen in seinem Umfeld haben, die diese Symptome zeigen“. Nicht zuletzt zeugen Proteste gegen die Eindämmungsmaßnahmen – bis hin zu den diversen Verschwörungserzählungen – oftmals weniger von berechtigter Kritik als vielmehr von der Liebe zum eigenen Durchblick. Und sollte sich herausstellen, die Maßnahmen waren überzogen, unnötig oder ihr Preis zu hoch, dann werden wir vermutlich eine Epidemie derjenigen bekommen, die sagen: „Habe ich euch doch gleich gesagt“.
Aber konnten wir das im März, April oder Mai wirklich mit Sicherheit wissen? Rechtfertigt unser Wissensstand zu Corona die Begleitung der Pandemie durch Bescheidwisserei und Rechthaberei?
Die Pandemie und der Umgang damit belegen doch eher, wie wenig wir wissen. Woher kommt das Virus? Wie verbreitet es sich genau? Wer erkrankt wie stark und warum? Wie hoch ist die Zahl der Infizierten tatsächlich? Wie hoch entsprechend die wirkliche Sterberate? Wie viele sind schon immun? Wer von den Opfern ist nicht nur mit, sondern auch durch Corona gestorben? Welche Wirkung hatte der Lockdown? Welche Neben- und Spätfolgen verursachen die Maßnahmen?
Ein wenig humanistische Skepsis scheint also nahegelegt. Humanismus sollte fremdeln mit den Rechthaber*innen und Besserwisser*innen. Und so bleibt auch dies eine Vermutung: Die Maßnahmen zur Bekämpfung der Virusausbreitung waren wohl aus ethischer Vorsicht und politischer Verantwortung heraus gerechtfertigt. Nicht aber aufgrund von Evidenz, sondern aufgrund von Unwissenheit und Unsicherheit über die wirkliche Bedrohungslage samt angstmachender Bilder aus anderen Ländern.
2. Kann Solidarität wichtiger sein als Freiheit?
Skepsis ist stets auch dann angebracht, wenn die große Solidarität der Landsleute gerühmt und beschworen wird. Dabei war es durchaus erstaunlich, wie diszipliniert in den ersten Tagen und Wochen des Lockdowns in Deutschland die Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen eingehalten wurden. Aber geschah dies aus Sorge um die Anderen, die Älteren und Kranken? Oder aus Angst, wohlverstandenem Eigeninteresse und zähneknirschend? Und wie viele nicht mitgemacht haben, mehr oder weniger unbemerkt, ist auch nicht klar. An das Einkaufsverhalten muss erst recht nicht erinnert werden. Aber auf der anderen Seite: eine ganze Reihe von Menschen, die ihre ihnen durchaus schwerfallende Selbstbeschränkung mit dem Wunsch begründeten, sich solidarisch verhalten zu wollen, und zahlreiche öffentliche und private Solidaritätsbezeugungen, bis hin zur neuen Achtung für die Leistungen spezifisch betroffener Berufsgruppen.
Man muss das nun nicht zu einer ethischen Meisterleistung stilisieren. Und doch lässt sich kaum abstreiten, dass in diesen Tagen so mancher und so manchem die gelebte Humanität wichtiger waren als die temporäre Einschränkung der persönlichen Freiheitsrechte. Es ist nicht auszuschließen, dass gesellschaftliche Solidarität hierzulande beigetragen hat zur Eindämmung des Infektionsgeschehens, zur Vermeidung eines Zusammenbruchs des Gesundheitssystems und sogenannter Triage-Fälle auf Intensivstationen. Und genau das dürfte auch „humanistisch“ sein: dass im Zweifels- und Konfliktfall die Verwundbarkeit des anderen mehr zählen kann als die eigene Freiheit, dass Einschränkungen für alle begründet sein können, wenn auch nur eine Teilgruppe besonders gefährdet sein mag.
3. Gibt es in Deutschland eine Scheu, ethische Grundsatzfragen zu diskutieren?
„Konsequenter Humanismus: Menschenleben dürfen nicht gegeneinander aufgerechnet werden“, so der Titel eines Artikels in der Neuen Zürcher Zeitung vom 1. April 2020. Der Sozial- und Rechtsphilosoph Dietmar von der Pfordten rechtfertigt darin die Einschränkungen der Grundrechte mit dem grundgesetzlich gebotenen Schutz des menschlichen Lebens. Er warnt vor einer Gegenrechnung der Neben- und Spätfolgen der Corona-Maßnahmen und der bewussten Inkaufnahme von Infektionen samt Todesfällen bei den Risikopersonen, um Herdenimmunität zu erreichen. Dabei fährt er mit dem Hinweis auf die NS-Euthanasie durchaus schwere Geschütze auf. In der Wochenzeitung Die Zeit erscheint am 7. Mai zu diesem Thema ein „Gedankenaustausch“ von Jürgen Habermas und Klaus Günther, der alles andere als kontrovers ist und ebenfalls einer Folgenabwägung widerspricht.
Kritik an den Corona-Maßnahmen, die offen eine Folgenabwägung einklagt, hat es dagegen schwer. Dabei geht es ihr oft gar nicht nur um Freiheitsrechte und ökonomische Folgen, sondern ebenfalls um die Gefährdung von Menschenleben: durch aufgeschobene Operationen, Arztbesuche oder Vorsorgeuntersuchungen; durch erhöhte Selbsttötungsgefahr oder häusliche Gewalt und Bewegungsmangel; durch fehlende Möglichkeiten, den eigenen Lebensunterhalt zu verdienen oder durch fehlende Medikamente oder Nahrungsmittel in ärmeren Ländern. Hinzu kommt die kritische Anfrage, ob man demgegenüber nicht Ausmaß und Folgen von Corona übertreiben würde: Wegen der vielen Toten im Straßenverkehr, durch Alkohol oder Nikotin, durch Krankenhauskeime oder Grippewellen, würde ja auch niemand so viel Aufhebens machen.
Das ist ethisch und politisch ein prekäres Feld und man wird es sich dabei nicht so einfach machen können wie der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer mit seiner Aussage, „wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären“. Allerdings lässt sich der Eindruck auch nicht völlig vermeiden, dass es in Deutschland eine gewisse Scheu gibt, solch ethische Grundsatzfragen – Prinzipienethik versus Utilitarismus – offen zu debattieren. Vielleicht sogar eine gerechtfertigte Scheu: Womöglich gibt es Akteure, die umstandslos den Tod von ein paar mehr oder weniger Menschen in Kauf nehmen würden, wenn das ihren Geschäften und Bedürfnissen dienlich wäre. Eine moderne humanistische Ethik sollte dennoch keine Scheu haben, die ethischen Grundsatzfragen zu klären: Es gibt heute Humanist*innen, die sich auf Prinzipienethik und solche, die sich auf den Utilitarismus berufen, ein einfaches Entweder-oder dürfte der Komplexität nicht gerecht werden.
4. Was vermag Wissenschaft?
Die Corona-Pandemie hat die enorme Relevanz der Wissenschaften für politische Entscheidungsprozesse aufgedeckt. Zugleich aber auch ihre Grenzen. Der bayrische Ministerpräsident Markus Söder hatte sich gewünscht, dass die Virolog*innen sich gemeinsam in einen Raum setzen sollten, um sich endlich über die Einschätzung der Situation sowie geeignete Maßnahmen zu einigen. Es gibt aber selten, vielleicht nie, nur eine wissenschaftliche Meinung. Der Virologe Christian Drosten hatte darum gebeten, unbedingt auch u. a. Psychologinnen, Sozial- und Kulturwissenschaftler in den Beratungen hinzuzuziehen. Die Wissenschaften bestehen eben nicht nur aus den Naturwissenschaften. Politiker*innen machten wiederholt deutlich, dass Wissenschaft allein nicht direkt zu Entscheidungen führt, sondern dass auf ihrer Grundlage Entscheidungsprozesse stattfinden, in die dann zusätzlich weltanschauliche, politische und ethische Ansichten und Abwägungen einfließen müssen.
Aus humanistischer Perspektive sind nicht nur die Potenziale der Wissenschaften zu betonen. Wenn humanistische Konzepte heute Wissenschaft überhöhen und ihre Grenzen nicht nüchtern mit einbeziehen, dann verstärken sie ungewollt eine aktuelle politische Gefahr: dass Menschen sich von Wissenschaften abwenden und stattdessen dubiosen Weltanschauungen oder Verschwörungserzählungen zuwenden, weil sie aufgrund überzogener Erwartungen vom Pluralismus sowie der Irrtumsanfälligkeit von Wissenschaften enttäuscht sind.
5. Wie gefährlich sind Verschwörungserzählungen?
Man kann „Verschwörungserzählungen“ statt „Verschwörungstheorien“ sagen, wenn man betonen möchte, dass „Theorie“ einen höheren wissenschaftlichen Anspruch hat als die meisten sich im Umlauf befindlichen sogenannten „Verschwörungstheorien“. Und man kann begrifflich bei „Verschwörungstheorien“ bleiben, wenn man „Theorie“ gerade bewusst nicht mit einem solchen Anspruch belasten will. Man kann von „Verschwörungsmärchen“ sprechen, wenn man dabei nicht ihre eigentümliche Mischung aus wahren und erfundenen Elementen verkennt. Wie dem auch sei: Verschwörungserzählungen sind historisch nichts Neues. Und Verschwörungen auch nicht.
Anhänger*innen von Verschwörungserzählungen sind oft resistent gegen Selbstreflexion: Außerordentlich kritisch gegenüber dem Mainstream, den Institutionen, den Regierungen usw. geben sie sich als besonders aufmerksame und kritische Bürger*innen aus, ohne doch diese kritische Aufmerksamkeit auch der Herkunft ihrer eigenen Ansichten und Quellen angedeihen zu lassen. Man darf bei uns an den größten Quatsch und die dümmsten Geschichten glauben. Das ist durch Meinungsfreiheit gedeckt. Aber aus humanistischer Sicht reicht es nicht aus, nur die Meinungsfreiheit zu verteidigen, man muss auch den Wert der Meinung verteidigen. Es geht sonst zu sehr darum, dass man eine Meinung haben darf, und zu wenig darum, wie man eine seriöse Meinung bildet. Die Meinung wird entwertet, wenn man sie auf das bloße Haben reduziert. Eine Meinung zu haben, ist leicht. Deshalb hat man immer auch gleich zu allem eine Meinung. So entsteht Meinungsüberschuss und ein Mangel an Nachdenklichkeit. Wie kommen wir eigentlich zu einer gut begründeten Meinung? Durch Lebenserfahrung, durch andere, durch Wissenschaft? Eine Meinung ist wertvoll, man sollte sie nicht immer gleich verschleudern.