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Solidarität und ethische Grundsatzfragen

Was lässt sich aus humanistischer Perspektive zu Corona sagen?

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Spielplatz mit Absperrband
Spielplatz mit Absperrband

Beitragsbild: Pixabay/Carola68

Corona ist nicht nur ein Virus. Neben neuen Ausbrüchen von Bescheidwisserei und Verschwörungserzählungen erleben wir auch ansteckende Debatten über Wissenschaft und Solidarität sowie eine Scheu, ethische Grundsatzfragen offen zu diskutieren. Was lässt sich aus humanistischer Perspektive dazu sagen?

1. Wissen wir Bescheid?

Vie­le der ver­ant­wort­li­chen Politiker*innen zeig­ten sich zumin­dest zu Beginn der Coro­na-Pan­de­mie erstaun­lich vor­sich­tig und skep­tisch. Sie gaben nicht vor, über Lage und not­wen­di­ge Maß­nah­men genau Bescheid zu wis­sen und das war wohl­tu­end. Bei einer gan­zen Rei­he von Intel­lek­tu­el­len, Gesellschaftskritiker*innen und auch Wissenschaftler*innen klang und klingt das bis heu­te deut­lich anders. Man­che füh­len sich in ihren sozia­len und öko­lo­gi­schen Kri­ti­ken der letz­ten Jah­re durch Coro­na voll­ends bestä­tigt und hof­fen, dass man nun end­lich auf sie hört. Selbst­er­nann­te „Trend- und Zukunftsforscher*innen“ beschwö­ren die „Tief­en­kri­se“ als Chan­ce zur Umkehr. Globalisierungskritiker*innen von rechts und links erin­nern selbst­ge­wiss an ihre Kla­gen über Ver­net­zung und Aus­la­ge­rung der Pro­duk­ti­on, die die natio­na­le Sou­ve­rä­ni­tät beschrän­ken. Exem­pla­risch sicher auch der Viro­lo­ge Alex­an­ders Kekulé im April bei Anne Will auf die Fra­ge nach den Sym­pto­men von Coro­na: „Jeder von uns wird in den nächs­ten Wochen Per­so­nen in sei­nem Umfeld haben, die die­se Sym­pto­me zei­gen“. Nicht zuletzt zeu­gen Pro­tes­te gegen die Ein­däm­mungs­maß­nah­men – bis hin zu den diver­sen Ver­schwö­rungs­er­zäh­lun­gen – oft­mals weni­ger von berech­tig­ter Kri­tik als viel­mehr von der Lie­be zum eige­nen Durch­blick. Und soll­te sich her­aus­stel­len, die Maß­nah­men waren über­zo­gen, unnö­tig oder ihr Preis zu hoch, dann wer­den wir ver­mut­lich eine Epi­de­mie der­je­ni­gen bekom­men, die sagen: „Habe ich euch doch gleich gesagt“.

Aber konn­ten wir das im März, April oder Mai wirk­lich mit Sicher­heit wis­sen? Recht­fer­tigt unser Wis­sens­stand zu Coro­na die Beglei­tung der Pan­de­mie durch Bescheid­wis­se­rei und Recht­ha­be­rei?

Die Pan­de­mie und der Umgang damit bele­gen doch eher, wie wenig wir wis­sen. Woher kommt das Virus? Wie ver­brei­tet es sich genau? Wer erkrankt wie stark und war­um? Wie hoch ist die Zahl der Infi­zier­ten tat­säch­lich? Wie hoch ent­spre­chend die wirk­li­che Ster­be­ra­te? Wie vie­le sind schon immun? Wer von den Opfern ist nicht nur mit, son­dern auch durch Coro­na gestor­ben? Wel­che Wir­kung hat­te der Lock­down? Wel­che Neben- und Spät­fol­gen ver­ur­sa­chen die Maß­nah­men?

Ein wenig huma­nis­ti­sche Skep­sis scheint also nahe­ge­legt. Huma­nis­mus soll­te frem­deln mit den Rechthaber*innen und Besserwisser*innen. Und so bleibt auch dies eine Ver­mu­tung: Die Maß­nah­men zur Bekämp­fung der Virus­aus­brei­tung waren wohl aus ethi­scher Vor­sicht und poli­ti­scher Ver­ant­wor­tung her­aus gerecht­fer­tigt. Nicht aber auf­grund von Evi­denz, son­dern auf­grund von Unwis­sen­heit und Unsi­cher­heit über die wirk­li­che Bedro­hungs­la­ge samt angst­ma­chen­der Bil­der aus ande­ren Län­dern.

2. Kann Solidarität wichtiger sein als Freiheit?

Skep­sis ist stets auch dann ange­bracht, wenn die gro­ße Soli­da­ri­tät der Lands­leu­te gerühmt und beschwo­ren wird. Dabei war es durch­aus erstaun­lich, wie dis­zi­pli­niert in den ers­ten Tagen und Wochen des Lock­downs in Deutsch­land die Kon­takt- und Aus­gangs­be­schrän­kun­gen ein­ge­hal­ten wur­den. Aber geschah dies aus Sor­ge um die Ande­ren, die Älte­ren und Kran­ken? Oder aus Angst, wohl­ver­stan­de­nem Eigen­in­ter­es­se und zäh­ne­knir­schend? Und wie vie­le nicht mit­ge­macht haben, mehr oder weni­ger unbe­merkt, ist auch nicht klar. An das Ein­kaufs­ver­hal­ten muss erst recht nicht erin­nert wer­den. Aber auf der ande­ren Sei­te: eine gan­ze Rei­he von Men­schen, die ihre ihnen durch­aus schwer­fal­len­de Selbst­be­schrän­kung mit dem Wunsch begrün­de­ten, sich soli­da­risch ver­hal­ten zu wol­len, und zahl­rei­che öffent­li­che und pri­va­te Soli­da­ri­täts­be­zeu­gun­gen, bis hin zur neu­en Ach­tung für die Leis­tun­gen spe­zi­fisch betrof­fe­ner Berufs­grup­pen.

Man muss das nun nicht zu einer ethi­schen Meis­ter­leis­tung sti­li­sie­ren. Und doch lässt sich kaum abstrei­ten, dass in die­sen Tagen so man­cher und so man­chem die geleb­te Huma­ni­tät wich­ti­ger waren als die tem­po­rä­re Ein­schrän­kung der per­sön­li­chen Frei­heits­rech­te. Es ist nicht aus­zu­schlie­ßen, dass gesell­schaft­li­che Soli­da­ri­tät hier­zu­lan­de bei­getra­gen hat zur Ein­däm­mung des Infek­ti­ons­ge­sche­hens, zur Ver­mei­dung eines Zusam­men­bruchs des Gesund­heits­sys­tems und soge­nann­ter Tria­ge-Fäl­le auf Inten­siv­sta­tio­nen. Und genau das dürf­te auch „huma­nis­tisch“ sein: dass im Zwei­fels- und Kon­flikt­fall die Ver­wund­bar­keit des ande­ren mehr zäh­len kann als die eige­ne Frei­heit, dass Ein­schrän­kun­gen für alle begrün­det sein kön­nen, wenn auch nur eine Teil­grup­pe beson­ders gefähr­det sein mag.

3. Gibt es in Deutschland eine Scheu, ethische Grundsatzfragen zu diskutieren?

„Kon­se­quen­ter Huma­nis­mus: Men­schen­le­ben dür­fen nicht gegen­ein­an­der auf­ge­rech­net wer­den“, so der Titel eines Arti­kels in der Neu­en Zür­cher Zei­tung vom 1. April 2020. Der Sozi­al- und Rechts­phi­lo­soph Diet­mar von der Pford­ten recht­fer­tigt dar­in die Ein­schrän­kun­gen der Grund­rech­te mit dem grund­ge­setz­lich gebo­te­nen Schutz des mensch­li­chen Lebens. Er warnt vor einer Gegen­rech­nung der Neben- und Spät­fol­gen der Coro­na-Maß­nah­men und der bewuss­ten Inkauf­nah­me von Infek­tio­nen samt Todes­fäl­len bei den Risi­ko­per­so­nen, um Her­den­im­mu­ni­tät zu errei­chen. Dabei fährt er mit dem Hin­weis auf die NS-Eutha­na­sie durch­aus schwe­re Geschüt­ze auf. In der Wochen­zei­tung Die Zeit erscheint am 7. Mai zu die­sem The­ma ein „Gedan­ken­aus­tausch“ von Jür­gen Haber­mas und Klaus Gün­ther, der alles ande­re als kon­tro­vers ist und eben­falls einer Fol­gen­ab­wä­gung wider­spricht.

Kri­tik an den Coro­na-Maß­nah­men, die offen eine Fol­gen­ab­wä­gung ein­klagt, hat es dage­gen schwer. Dabei geht es ihr oft gar nicht nur um Frei­heits­rech­te und öko­no­mi­sche Fol­gen, son­dern eben­falls um die Gefähr­dung von Men­schen­le­ben: durch auf­ge­scho­be­ne Ope­ra­tio­nen, Arzt­be­su­che oder Vor­sor­ge­un­ter­su­chun­gen; durch erhöh­te Selbst­tö­tungs­ge­fahr oder häus­li­che Gewalt und Bewe­gungs­man­gel; durch feh­len­de Mög­lich­kei­ten, den eige­nen Lebens­un­ter­halt zu ver­die­nen oder durch feh­len­de Medi­ka­men­te oder Nah­rungs­mit­tel in ärme­ren Län­dern. Hin­zu kommt die kri­ti­sche Anfra­ge, ob man dem­ge­gen­über nicht Aus­maß und Fol­gen von Coro­na über­trei­ben wür­de: Wegen der vie­len Toten im Stra­ßen­ver­kehr, durch Alko­hol oder Niko­tin, durch Kran­ken­haus­kei­me oder Grip­pe­wel­len, wür­de ja auch nie­mand so viel Auf­he­bens machen.

Das ist ethisch und poli­tisch ein pre­kä­res Feld und man wird es sich dabei nicht so ein­fach machen kön­nen wie der Tübin­ger Ober­bür­ger­meis­ter Boris Pal­mer mit sei­ner Aus­sa­ge, „wir ret­ten in Deutsch­land mög­li­cher­wei­se Men­schen, die in einem hal­ben Jahr sowie­so tot wären“. Aller­dings lässt sich der Ein­druck auch nicht völ­lig ver­mei­den, dass es in Deutsch­land eine gewis­se Scheu gibt, solch ethi­sche Grund­satz­fra­gen – Prin­zi­pi­en­ethik ver­sus Uti­li­ta­ris­mus – offen zu debat­tie­ren. Viel­leicht sogar eine gerecht­fer­tig­te Scheu: Womög­lich gibt es Akteu­re, die umstands­los den Tod von ein paar mehr oder weni­ger Men­schen in Kauf neh­men wür­den, wenn das ihren Geschäf­ten und Bedürf­nis­sen dien­lich wäre. Eine moder­ne huma­nis­ti­sche Ethik soll­te den­noch kei­ne Scheu haben, die ethi­schen Grund­satz­fra­gen zu klä­ren: Es gibt heu­te Humanist*innen, die sich auf Prin­zi­pi­en­ethik und sol­che, die sich auf den Uti­li­ta­ris­mus beru­fen, ein ein­fa­ches Ent­we­der-oder dürf­te der Kom­ple­xi­tät nicht gerecht wer­den.

4. Was vermag Wissenschaft?

Die Coro­na-Pan­de­mie hat die enor­me Rele­vanz der Wis­sen­schaf­ten für poli­ti­sche Ent­schei­dungs­pro­zes­se auf­ge­deckt. Zugleich aber auch ihre Gren­zen. Der bay­ri­sche Minis­ter­prä­si­dent Mar­kus Söder hat­te sich gewünscht, dass die Virolog*innen sich gemein­sam in einen Raum set­zen soll­ten, um sich end­lich über die Ein­schät­zung der Situa­ti­on sowie geeig­ne­te Maß­nah­men zu eini­gen. Es gibt aber sel­ten, viel­leicht nie, nur eine wis­sen­schaft­li­che Mei­nung. Der Viro­lo­ge Chris­ti­an Dros­ten hat­te dar­um gebe­ten, unbe­dingt auch u. a. Psy­cho­lo­gin­nen, Sozi­al- und Kul­tur­wis­sen­schaft­ler in den Bera­tun­gen hin­zu­zu­zie­hen. Die Wis­sen­schaf­ten bestehen eben nicht nur aus den Natur­wis­sen­schaf­ten. Politiker*innen mach­ten wie­der­holt deut­lich, dass Wis­sen­schaft allein nicht direkt zu Ent­schei­dun­gen führt, son­dern dass auf ihrer Grund­la­ge Ent­schei­dungs­pro­zes­se statt­fin­den, in die dann zusätz­lich welt­an­schau­li­che, poli­ti­sche und ethi­sche Ansich­ten und Abwä­gun­gen ein­flie­ßen müs­sen.

Aus huma­nis­ti­scher Per­spek­ti­ve sind nicht nur die Poten­zia­le der Wis­sen­schaf­ten zu beto­nen. Wenn huma­nis­ti­sche Kon­zep­te heu­te Wis­sen­schaft über­hö­hen und ihre Gren­zen nicht nüch­tern mit ein­be­zie­hen, dann ver­stär­ken sie unge­wollt eine aktu­el­le poli­ti­sche Gefahr: dass Men­schen sich von Wis­sen­schaf­ten abwen­den und statt­des­sen dubio­sen Welt­an­schau­un­gen oder Ver­schwö­rungs­er­zäh­lun­gen zuwen­den, weil sie auf­grund über­zo­ge­ner Erwar­tun­gen vom Plu­ra­lis­mus sowie der Irr­tums­an­fäl­lig­keit von Wis­sen­schaf­ten ent­täuscht sind.

5. Wie gefährlich sind Verschwörungserzählungen?

Man kann „Ver­schwö­rungs­er­zäh­lun­gen“ statt „Ver­schwö­rungs­theo­rien“ sagen, wenn man beto­nen möch­te, dass „Theo­rie“ einen höhe­ren wis­sen­schaft­li­chen Anspruch hat als die meis­ten sich im Umlauf befind­li­chen soge­nann­ten „Ver­schwö­rungs­theo­rien“. Und man kann begriff­lich bei „Ver­schwö­rungs­theo­rien“ blei­ben, wenn man „Theo­rie“ gera­de bewusst nicht mit einem sol­chen Anspruch belas­ten will. Man kann von „Ver­schwö­rungs­mär­chen“ spre­chen, wenn man dabei nicht ihre eigen­tüm­li­che Mischung aus wah­ren und erfun­de­nen Ele­men­ten ver­kennt. Wie dem auch sei: Ver­schwö­rungs­er­zäh­lun­gen sind his­to­risch nichts Neu­es. Und Ver­schwö­run­gen auch nicht.

Anhänger*innen von Ver­schwö­rungs­er­zäh­lun­gen sind oft resis­tent gegen Selbst­re­fle­xi­on: Außer­or­dent­lich kri­tisch gegen­über dem Main­stream, den Insti­tu­tio­nen, den Regie­run­gen usw. geben sie sich als beson­ders auf­merk­sa­me und kri­ti­sche Bürger*innen aus, ohne doch die­se kri­ti­sche Auf­merk­sam­keit auch der Her­kunft ihrer eige­nen Ansich­ten und Quel­len ange­dei­hen zu las­sen. Man darf bei uns an den größ­ten Quatsch und die dümms­ten Geschich­ten glau­ben. Das ist durch Mei­nungs­frei­heit gedeckt. Aber aus huma­nis­ti­scher Sicht reicht es nicht aus, nur die Mei­nungs­frei­heit zu ver­tei­di­gen, man muss auch den Wert der Mei­nung ver­tei­di­gen. Es geht sonst zu sehr dar­um, dass man eine Mei­nung haben darf, und zu wenig dar­um, wie man eine seriö­se Mei­nung bil­det. Die Mei­nung wird ent­wer­tet, wenn man sie auf das blo­ße Haben redu­ziert. Eine Mei­nung zu haben, ist leicht. Des­halb hat man immer auch gleich zu allem eine Mei­nung. So ent­steht Mei­nungs­über­schuss und ein Man­gel an Nach­denk­lich­keit. Wie kom­men wir eigent­lich zu einer gut begrün­de­ten Mei­nung? Durch Lebens­er­fah­rung, durch ande­re, durch Wis­sen­schaft? Eine Mei­nung ist wert­voll, man soll­te sie nicht immer gleich ver­schleu­dern.

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