Die Corona-Pandemie war gewissermaßen eine angekündigte Krise. 2003 gab es SARS. Anfang Januar 2013 überreichte die Bundesregierung dem Bundestag den Experten-„Bericht zur Risikoanalyse im Bevölkerungsschutz 2012“ mit einem Schwerpunkt „Pandemie durch Virus Modi-SARS“. Dort wurde eine durch ein hypothetisches, mit dem SARS-CoV vergleichbares Virus hervorgerufene Pandemie recht realistisch modelliert. Trotzdem wurde der Umbau der Gesundheitssysteme unter ökonomischem Diktat fortgesetzt, unter anderem durch den Abbau von (Pflege-)Personal und die Installation fragiler globaler Lieferketten für medizinisches Gerät, Material und Medikamente zulasten lokaler, regionaler, nationaler und europäischer Produktions- und Lagerkapazitäten.
Der Klimawandel gehört ebenfalls zu den angekündigten Krisen: Die ersten weltweit wahrgenommenen, dringlichen, wissenschaftlich begründeten Warnungen sind bald 50 Jahre alt. Auch alles andere als brandneu ist, dass das Einbringen von Giften und Müll in die Umwelt die biologischen Systeme gefährdet; Mikroplastik zum Beispiel ist inzwischen in den ozeanischen Sedimenten global nachgewiesen. Ebenfalls seit vielen Jahren sehr gut dokumentiert ist das rasante weltweite Artensterben, das unter anderem auf unsere Art der Lebensmittelproduktion und die industrielle Übernutzung der Natur zurückzuführen ist. Ganze Lebensräume für Pflanzen und Tiere verschwinden oder werden auf eine Größenordnung reduziert, die ihnen die Erfüllung ihrer komplexen Ökosystem-Funktionen nicht mehr erlaubt. Das Tempo all dieser menschengemachten Entwicklungen ist inzwischen derart hoch, dass viele Arten, die zur Anpassung an veränderte Umweltbedingungen viel längere Zeiträume benötigen, schlichtweg aussterben.
Und wir sollten Wirtschaftskrisen nicht vergessen: die sogenannte Finanzkrise 2008 und die sich anbahnende erneute systemische Krise des Kapitalismus, auf die Corona wie ein Katalysator wirkt. Unglaubliche Summen werden jetzt bewegt, um die angeschlagenen Ökonomien zu retten – und, wie sich bereits abzeichnet, meistens ohne verbundene Kurskorrekturen in Richtung Ressourcenschonung, Nachhaltigkeit und so weiter. Üblicherweise sind solche „Rettungspakete“ auch riesige, letztlich aus Individualsteuern und aus Einsparungen bei der sozialen Infrastruktur gespeiste Umverteilungsmaschinen hin zu den großen Vermögen (auch wenn durchaus nicht unerhebliche Mittel für Arbeitende, Mieter, Kleingewerbetreibende und weitere freigesetzt wurden).
Als Europäer sollten wir auch bedenken: Die „Drillings-Pandemien“ von Corona, Armut sowie Klimawandel und Umweltzerstörung treffen große Teile des Globalen Südens erheblich stärker als den Globalen Norden. Hunger, Durst und Krankheit als Folgen von Armut sind in vielen afrikanischen, aber auch asiatischen Ländern allgegenwärtig. Trotz seiner niedrigen CO₂-Emissionen im Vergleich zu anderen Ländern droht Bangladesch aufgrund des ansteigenden Meeresspiegels (als Klimawandelfolge) im Meer zu versinken, weshalb Millionen Menschen in einer absehbaren Zukunft zu Geflüchteten werden. Und vor dem Virus sind eben nicht alle gleich; Gesundheit ist auch eine soziale Frage. All dies sind keine fernen Probleme. Sie fordern unsere Empathie heraus, sie erhöhen den Migrationsdruck innerhalb der betroffenen Länder und in Richtung Europa, sie stellen unser ökonomisches Handeln in und gegenüber diesen Ländern in Frage und fordern Antworten – von uns.
Humanistische Ethik – Humanistische Interventionen
So viele Krisen. Sind wir noch zu retten? Oder besser: Können wir uns noch retten? Für Humanisten ergibt diese Frage wenig Sinn. Wie optimistisch oder pessimistisch wir individuell auch gestrickt sind, so werden wir nie die Hoffnung auf und das Bemühen um eine lebenswerte Zukunft aufgeben. Die Corona-Krise hat auch die anderen Krisen (Klima, Umwelt, Wirtschaft) zusätzlich beleuchtet: Im Grunde gibt es keinen Mangel an wissenschaftlicher Erkenntnis, sondern an daraus abgeleitetem, entschlossenem Handeln. Mehr Menschen als zuvor ahnen oder erkennen die Zusammenhänge zwischen diesen Krisen und den Zusammenhang der diversen Krisen mit unserer Wirtschaftsweise und stellen sich vielleicht erstmals der Frage nach einem Systemwandel – in einzelnen Sektoren oder „im Großen und Ganzen“. Daraus ergeben sich Anknüpfungspunkte für humanistische Interventionen – im persönlichen als auch im beruflichen Umfeld, in Gruppen, Vereinen, Verbänden, Organisationen, in beziehungsweise gegenüber der Politik. Jede*r nach den jeweils eigenen Voraussetzungen, Möglichkeiten, Bedingungen. Die letzte Ausgabe der diesseits zeigte im Rahmen des Schwerpunktes „AKTIVISMUS – Humanismus, der sich einmischt“ interessante und vielfältige Beispiele humanistischer Intervention.
Auch unter Humanisten ist durchaus umstritten, welche Handlungsmöglichkeiten dem einzelnen Menschen als Individuum mit welcher Reichweite, mit welcher Wirkungsmacht zur Verfügung stehen, und welche moralische Verantwortung für sein Handeln oder Unterlassen ihn trifft. Nikil Mukerji und Kollegen arbeiten an der Ludwig-Maximilians-Universität München zu Themen wie „Ethik des Klimawandels“ und kommen bei ihren Forschungen zu dem Ergebnis, dass nicht dem Individuum (mangels kausaler Kontrolle) sondern vor allem normativ strukturierten Gemeinschaften eine moralische Verantwortung für ihr Handeln zuzuschreiben sei und sie deshalb auch zur Verantwortung zu ziehen seien – zum Beispiel für ihren Beitrag zum Klimawandel. „Der ethische Diskurs über den Klimawandel sollte sich stärker auf mächtige gesellschaftliche Gruppen konzentrieren“, schreibt Nikil Mukerji in einem FAZ-Artikel [FAZ, 25.09.2019, „Zur Ethik des Klimawandels – Warum der Einzelne zu entlasten ist“].
Wirkung entfalten
Sicher, der Einzelne kann versuchen, sein Verhalten mit Vorstellungen von Nachhaltigkeit, Ressourcenschonung etc. in Einklang zu bringen. Unter den aktuellen Rahmenbedingungen ist das individuell jedoch kaum zu schaffen, und selbst wenn, wäre der persönliche Einfluss auf solch große Prozesse nicht messbar. „Meine Alltagspraxis ist in eine Struktur eingebaut, die mich in Richtung Zerstörerseite drückt“, erläutert die Klimapolitik-Expertin Maja Göpel erfrischend unakademisch, wie es nur in einem Interview möglich ist: „Ich glaube, viele Verbote würden sehr viele Menschen jetzt einfach mal befreien. Dieses schlechte Gewissen an der Kasse tilgen, wenn ich weiß, ich muss nicht immer mit meinem Smartphone alles erst mal scannen, um zu gucken, ob das Produkt jetzt das Allerschlimmste ist. Oder zu wissen, dass nicht nur ich mich einschränke, sondern dass es alle tun“ [taz FUTURZWEI Ausgabe 10, 2019].
Vieles verweist darauf, dass wir gesellschaftliche Wirksamkeit erst in kooperativer Praxis, in Gruppen, Initiativen, Organisationen und Bewegungen entfalten können. Und dass wir Regeln brauchen: neue. Auch Verbote – denn die können unter Umständen zugleich Gebote beziehungsweise eine positive Orientierung und Raumöffnung für das Neue abbilden. So verstandene Verbote können auch konsensual herbeigeführt werden, als in Regelwerk gegossene Übereinkunft darüber, was Vergangenheit und was Zukunft sein soll.
Ein Systemwandel (zum Beispiel im Sinne von Nachhaltigkeitstransformation), selbst nur in einem Teilbereich, muss verlässlich mit sozialer Absicherung verbunden sein, sonst ist er nicht durchsetzungsfähig. Für die gesellschaftliche Akzeptanz muss er demokratisch organisiert sein. Demokratisch-prozessuale Herleitung ist auch erforderlich, um der Okkupation solcher Wandelprozesse durch Partikularinteressen vorzubeugen. Im Rahmen der Routinen parlamentarisch-repräsentativer Demokratie allein kann dies nicht gelingen. Menschen müssen sich in solchen Transformationsprozessen mit ihren Erwartungen, Hoffnungen, Ängsten und auch mit ihrer Expertise (ihren Erfahrungen, ihrem Wissen) wiederfinden. Maja Göpel betont im genannten Interview, wie wichtig es sei, „die regionale oder die lokale Ebene zu stärken, weil ich glaube, dass die Kategorie der Selbstwirksamkeit für Menschen ganz zentral ist. Dieses Gefühl von: Ich kann gestalten, ich habe Einfluss darauf, mein Leben in die Hand zu nehmen – und ich kann mich auch darauf verlassen, dass die Menschen gar nicht so selbstversessen sind, die neben mir wohnen, sondern dass wir auch Dinge zusammen machen können.“
Die riesigen Dimensionen der globalen Krisen können Menschen verzweifeln lassen oder (aus unterschiedlichen Motiven) verleiten, dieses Geschehen zu verdrängen, zu bagatellisieren, zu leugnen. Verzweiflung, Verdrängung oder Leugnung sind jedoch keine hilfreichen Optionen – „Status quo“ ist vorbei.
Als Humanisten können wir uns gegenseitig und andere Menschen darin unterstützen, den krisenhaften Entwicklungen sowohl emotional als auch rational angemessen zu begegnen – indem wir zum Beispiel der emotionalen Betroffenheit den analytischen Blick zur Seite stellen, die Mechanismen unserer Informationsaneignung und Meinungsbildung hinterfragen, der Wissenschaft eine Lanze brechen, eine demokratische und kritisch-solidarische Debattenkultur in der Gesellschaft stärken und für wirkungsvolles Handeln unser kreatives Potenzial entfalten. Wir werden Bündnisse eingehen und alle Bühnen nutzen müssen; die Straßen und soziale Medien gehören dazu. Weit über die Angebote des institutionellen Humanismus hinaus müssen wir praktisch sein. „Humanistische Werte haben nur dann Bedeutung, wenn sie umgesetzt werden; wenn sie bestimmen, wie wir entscheiden und wie wir unser Leben gestalten“, schreibt James Croft, Humanist und Antirassismus-Aktivist in den USA, der sich unter anderem in der Black Lives Matter-Bewegung engagiert [diesseits Ausgabe 126]. Deshalb: In Zeiten globaler Krisen muss Humanismus mehr denn je interventionistischer Humanismus sein.