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Triage: Ethische Kategorien der Priorisierung

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OP Operation Chirurgie Krankenhaus

Beitragsbild: Sasin Tipchai/ Pixabay

In „Wen rette ich – und wenn ja, wie viele?“ behandelt der Philosoph Adriano Mannino die Triage aus medizinischer, ethischer, rechtlicher und gesundheitsökonomischer Perspektive. Die ethische Legitimität der Triage-Kriterien, deren Begründung sowie mögliche Gewichtung werden umfassend diskutiert. Anschließend wird die rechtliche Dimension dargestellt, vor allem in Hinblick auf das Alterskriterium und die Ex-Post-Triage, die nachträgliche Depriorisierung von Patient*innen. Das Schlusskapitel stellt die Fragen der Verteilungsgerechtigkeit in den gesellschaftlichen Zusammenhang einer Makro-Triage: Wie können Ressourcen in Krisen und Katastrophen global gerecht verteilt werden? Wir veröffentlichen mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Reclam Verlages einen leicht editierten Auszug des Buches.

Wir begeg­nen häu­fig der Situa­ti­on, dass ein hohes Pati­en­ten­auf­kom­men auf begrenz­te medi­zi­ni­sche Res­sour­cen trifft. Auch im Nor­mal­fall ver­fü­gen Kran­ken­häu­ser nur über eine begrenz­te Anzahl an Ärzt*innen, Pfle­ge­kräf­ten und sta­tio­nä­ren Bet­ten, so dass die Patient*innen vor- bezie­hungs­wei­se nach­ran­gig behan­delt wer­den müs­sen. Im Gegen­satz zum Kata­stro­phen­fall kön­nen im Nor­mal­fall jedoch meist alle Patient*innen berück­sich­tigt wer­den.

Dies gilt aller­dings nicht für alle Berei­che der Medi­zin: In der Trans­plan­ta­ti­ons­me­di­zin bei­spiels­wei­se herrscht übli­cher­wei­se ein Man­gel an Spen­der­or­ga­nen, so dass nicht alle Patient*innen ver­sorgt bzw. geret­tet wer­den kön­nen. Die Fra­ge nach der ethisch ver­tret­ba­ren Prio­ri­sie­rung knap­per medi­zi­ni­scher Hil­fe­leis­tun­gen ist also kei­nes­wegs neu. Im Ange­sicht des dro­hen­den Kol­lap­ses der Kran­ken­häu­ser durch eine nicht mehr bewäl­tig­ba­re Zahl von Covid-Intensivpatient*innen hat sich die­se Fra­ge dem öffent­li­chen Dis­kurs jedoch mit uner­war­te­ter Dring­lich­keit gestellt.

Wäh­rend der ers­ten Wel­le (im April 2020) setz­te sich der Jour­na­list und Essay­ist Flo­ri­an-Felix Weyh exten­siv mit den mög­li­chen Aus­wahl­ver­fah­ren und ‑kri­te­ri­en aus­ein­an­der, die im Fal­le eines Mas­sen­an­drangs an Patient*innen her­an­ge­zo­gen wer­den könn­ten, und ließ ver­schie­de­ne Expert*innen zu Wort kom­men. Die fol­gen­den Aus­füh­run­gen schlie­ßen an die von Weyh dis­ku­tier­ten Kon­tro­ver­sen an und stel­len die gän­gi­gen Tria­ge-Ver­fah­ren und ‑Kri­te­ri­en zunächst im Über­blick vor, um im Anschluss deren Legi­ti­mi­tät zu dis­ku­tie­ren.

Ein ers­tes Ver­fah­ren beruht auf dem Prin­zip »First Come, First Ser­ved« (FCFS): Die Patient*innen wer­den ent­spre­chend der Abfol­ge ihrer Anmel­dung behan­delt; wer zuerst erscheint, ist zuerst an der Rei­he. Im Gegen­satz zur Kata­stro­phen­me­di­zin hat sich FCFS in der Nor­mal­me­di­zin umfas­send eta­bliert. Wenn aus­rei­chend Res­sour­cen vor­han­den sind und der gesam­te Bedarf gedeckt wer­den kann, ergibt die­ses Kri­te­ri­um unmit­tel­bar Sinn. Denn unter der Vor­aus­set­zung, dass letzt­lich jede Per­son behan­delt wer­den kann, liegt es nahe, ohne Ver­zug mit der Arbeit zu begin­nen, sobald der ers­te Pati­ent ein­trifft.

Die Rechts­wis­sen­schaft­le­rin Eli­sa Hoven gibt jedoch zu beden­ken, dass FCFS auf den Zufall abstel­le, da der Zeit­punkt, zu dem sich die Patient*innen jeweils anmel­den, zufäl­lig sei. Die­ser Zufalls­aspekt ist es jedoch, der häu­fig gera­de als Stär­ke eines ande­ren Aus­wahl­ver­fah­rens ange­führt wird, näm­lich des Los­ver­fah­rens. Muss bei­spiels­wei­se ent­schie­den wer­den, wer von zwei oder mehr Per­so­nen das ein­zi­ge noch ver­füg­ba­re Beatmungs­ge­rat erhält, teilt das Los­ver­fah­ren jeder Per­son die glei­che Chan­ce auf die medi­zi­ni­sche Res­sour­ce zu. Das sei des­halb gerecht, meint der Straf­recht­ler Tonio Wal­ter, weil wir mit dem Zufalls­prin­zip unab­hän­gig von spe­zi­fi­schen Merk­ma­len der Per­son ent­schei­den. Wenn die medi­zi­ni­sche Res­sour­ce an sich schon nicht auf­ge­teilt wer­den kann […], dann wenigs­tens die Chan­ce dar­auf, die Res­sour­ce zu erhal­ten, was den glei­chen Respekt aus­drü­cke, den wir einer jeden Per­son schul­den.

[…] Sowohl FCFS als auch das Los­ver­fah­ren schnei­den jedoch dann schlecht ab, wenn bei Res­sour­cen­knapp­heit (auch) mög­lichst vie­le Men­schen­le­ben geret­tet wer­den sol­len. Gesetzt den Fall, eine Ärz­tin muss ein Beatmungs­ge­rät ent­we­der einem Covid-Pati­en­ten zutei­len, der mit Behand­lung gute Hei­lungs­chan­cen hat, oder aber einem ande­ren Pati­en­ten, der wahr­schein­lich auch dann ster­ben wird, wenn er das Beatmungs­ge­rät erhält. Wird letz­te­rer durch ein Los­ver­fah­ren aus­ge­wählt, wer­den wahr­schein­lich bei­de Pati­en­ten ster­ben. Wird dage­gen der ers­te­re aus­ge­wählt, ste­hen die Chan­cen gut, dass zumin­dest eine Per­son über­lebt.

Aus die­sem Grund gewann das Kri­te­ri­um der Hei­lungs­chan­ce bzw. der kurz­fris­ti­gen Erfolgs­pro­gno­se beson­ders im Kata­stro­phen­kon­text an Bedeu­tung. Nach einem bis heu­te gän­gi­gen Tria­ge-Pro­ze­de­re wer­den die Patient*innen ent­spre­chend in vier Prio­ri­täts­grup­pen ein­ge­teilt:

  • 1. Höchs­te Prio­ri­tät kommt dabei jenen Patient*innen zu, die mit der Behand­lung eine gute oder zumin­dest intak­te Über­le­bens­chan­ce haben, ohne Behand­lung jedoch fast sicher ster­ben wer­den.
  • 2. Zweit­ran­gig behan­delt wer­den Patient*innen, die auch ohne Behand­lung eine rela­tiv gute Über­le­bens­wahr­schein­lich­keit haben, die mit Behand­lung aber noch deut­lich ver­bes­sert wer­den kann.
  • 3. Zeit­wei­lig nicht behan­delt wer­den Patient*innen, die nur leich­te Schä­den auf­wei­sen und auch ohne Behand­lung eine gute Pro­gno­se haben, sowie
  • 4. Patient*innen, die auch mit Behand­lung höchst­wahr­schein­lich ster­ben wer­den.

Die­ses Ver­fah­ren soll sicher­stel­len, dass die medi­zi­ni­schen Res­sour­cen dort zum Ein­satz kom­men, wo sie am ehes­ten wir­ken wer­den, so dass die Anzahl der geret­te­ten Leben maxi­miert wird.

Rela­tiv zu einem vier­ten mög­li­chen Prio­ri­sie­rungs­kri­te­ri­um, näm­lich der Anzahl der geret­te­ten Lebens­jah­re, ist jedoch auch das genann­te Pro­ze­de­re inef­fi­zi­ent. Haben bei­spiels­wei­se eine 30-jäh­ri­ge und eine 85-jäh­ri­ge Pati­en­tin die glei­che kurz­fris­ti­ge Erfolgs­pro­gno­se, teilt das Pro­ze­de­re bei­de in die­sel­be Prio­ri­täts­grup­pe ein. Bei der 30-Jäh­ri­gen kön­nen im Fal­le einer voll­stän­di­gen Gene­sung aber noch 50 bis 60 Lebens­jah­re auf dem Spiel ste­hen, wäh­rend der 85-Jäh­ri­gen nur weni­ge Jah­re oder Mona­te blei­ben wer­den. Ent­spre­chend haben sich man­che Stim­men […] für die Berück­sich­ti­gung der ver­blei­ben­den Lebens­jah­re aus­ge­spro­chen. Auch euro­päi­sche medi­zi­ni­sche Gesell­schaf­ten […] haben die­ses Kri­te­ri­um in ihre Emp­feh­lun­gen auf­ge­nom­men, als die ers­te Covid-Wel­le eine Tria­ge erzwang. Weil das Kri­te­ri­um – iso­liert betrach­tet – aber alte sowie jun­ge vor­er­krank­te bzw. behin­der­te Men­schen benach­tei­ligt, ist es auf hef­ti­gen Wider­spruch gesto­ßen. […] Ein fünf­tes Kri­te­ri­um stellt die Sys­tem­re­le­vanz des jewei­li­gen Pati­en­ten dar: »Ret­tet die Ret­ter!« Ist etwa das Leben einer Ärz­tin gefähr­det, von deren Gene­sung bzw. Arbeit vie­le wei­te­re Leben abhän­gen, erscheint ihre Prio­ri­sie­rung durch­aus sinn­voll. Das Kri­te­ri­um der Sys­tem­re­le­vanz ist also auch ein Effi­zi­enz­kri­te­ri­um: Die Ret­tung der Ärz­tin maxi­miert die Anzahl der ins­ge­samt geret­te­ten Leben […]. Zugleich kann die Prio­ri­sie­rung als Kom­pen­sa­ti­on dafür ver­stan­den wer­den, dass die Ärz­tin womög­lich ihre Gesund­heit ris­kiert, um ande­re zu ret­ten. Per­so­nen, die unter hohem Risi­ko sys­tem­re­le­van­te Arbeit leis­ten, konn­ten als Behand­lungs­grup­pe all­ge­mein prio­ri­siert wer­den.

Adria­no Man­ni­no: Wen ret­te ich – und wenn ja, wie vie­le? Über Tria­ge und Ver­tei­lungs­ge­rech­tig­keit.

Dit­zin­gen: Reclam 2021
120 Sei­ten
ISBN: 978–3‑15–014068‑0

Bei exis­ten­zi­el­len Ent­schei­dun­gen, die von medi­zi­ni­schen Insti­tu­tio­nen und ihren Vertreter*innen getrof­fen wer­den, sind letzt­lich auch Kri­te­ri­en der Trans­pa­renz und Umsetz­bar­keit von gro­ßer Bedeu­tung. Kla­re Kri­te­ri­en die­nen sowohl den Entscheidungsträger*innen als auch den Patient*innen und ihren Ange­hö­ri­gen, die sich ver­ge­wis­sern kön­nen, dass alles mit (ge)rechten Din­gen zugeht. Ein trans­pa­ren­tes Sys­tem ermög­licht auch die öffent­li­che Dis­kus­si­on und – gege­be­nen­falls – die Revi­si­on der Kri­te­ri­en, soll­ten Gerech­tig­keits­de­fi­zi­te ent­deckt wer­den.

In der Trans­plan­ta­ti­ons­me­di­zin hat sich zur gerech­ten Ver­tei­lung der knap­pen Orga­ne ein Punk­te­sys­tem aus­ge­bil­det: Je mehr Punk­te eine Pati­en­tin erreicht, des­to höher ihr Platz auf der War­te­lis­te. Die ent­spre­chen­den Kri­te­ri­en sind trans­pa­rent und wer­den gesetz­lich gere­gelt, sind also auch demo­kra­tisch legi­ti­miert. Ein Tria­ge-Gesetz exis­tiert dage­gen nicht. Vom Bei­spiel der Organ­ver­ga­be kön­nen wir eben­falls ler­nen, dass Kri­te­ri­en wie die fünf oben skiz­zier­ten sich nicht gegen­sei­tig aus­schlie­ßen müs­sen. Um in kom­ple­xen Ent­schei­dungs­si­tua­tio­nen zu einem ethisch gerecht­fer­tig­ten Urteil zu gelan­gen, sind in aller Regel meh­re­re Gesichts­punk­te zu berück­sich­ti­gen. Selbst wenn man in einem Kata­stro­phen­fall die Ent­schei­dungs­re­geln not­ge­drun­gen auch sim­pel und gut prak­ti­ka­bel hal­ten muss, bleibt es trotz­dem wich­tig, die Viel­zahl und Viel­falt ethi­scher Kri­te­ri­en nicht aus dem Blick zu ver­lie­ren und Unsi­cher­hei­ten ein­zu­räu­men. Auch die teils mas­si­ven Mei­nungs­ver­schie­den­hei­ten zwi­schen Indi­vi­du­en, wis­sen­schaft­li­chen Dis­zi­pli­nen, Insti­tu­tio­nen und Staa­ten zei­gen an, dass hier erheb­li­che ethi­sche Unsi­cher­heit besteht. In medi­zin­ethi­schen bzw. ‑recht­li­chen Fra­gen lie­gen ins­be­son­de­re die aka­de­mi­sche Ethik, die Juris­te­rei, die Gesund­heits­öko­no­mie und die Medi­zin oft im Mei­nungs­streit. Das­sel­be gilt für die Geset­ze ver­schie­de­ner Staa­ten, die sich alle­samt als demo­kra­ti­sche Rechts­staa­ten ver­ste­hen und bestrebt sind, medi­zin­ethi­sche Fra­gen aus der Per­spek­ti­ve der Men­schen­wür­de und der Grund­rech­te zu klä­ren.

Die­se Unei­nig­keit und Unsi­cher­heit gilt es anzu­er­ken­nen, ohne einem unge­recht­fer­tig­ten Rela­ti­vis­mus anheim­zu­fal­len, der ethi­sche Refle­xi­on sub­jek­ti­viert. In den Natur­wis­sen­schaf­ten etwa besteht in man­chen Fra­gen auch gro­ße Unei­nig­keit und Unsi­cher­heit, ohne dass wir des­halb ver­sucht wären, ent­spre­chen­de Rela­ti­vis­men zu ver­tre­ten. Zu einem trag­fä­hi­gen Umgang mit exis­ten­zi­el­len Ent­schei­dungs­si­tua­tio­nen kön­nen wir nur dann fin­den, wenn wir die ethi­sche Debat­te fort­füh­ren und dabei stets auch mit unse­rer eige­nen Fehl­bar­keit rech­nen. Wo Fehl­bar­keit besteht, kön­nen Feh­ler gemacht wer­den; und wo Feh­ler gemacht wer­den kön­nen, ist nicht alles sub­jek­tiv. Ethi­sche Erkennt­nis – d. h. Feh­ler­kor­rek­tur – ist indi­vi­du­ell und gesell­schaft­lich mög­lich, wenn auch nicht garan­tiert.

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