Wir begegnen häufig der Situation, dass ein hohes Patientenaufkommen auf begrenzte medizinische Ressourcen trifft. Auch im Normalfall verfügen Krankenhäuser nur über eine begrenzte Anzahl an Ärzt*innen, Pflegekräften und stationären Betten, so dass die Patient*innen vor- beziehungsweise nachrangig behandelt werden müssen. Im Gegensatz zum Katastrophenfall können im Normalfall jedoch meist alle Patient*innen berücksichtigt werden.
Dies gilt allerdings nicht für alle Bereiche der Medizin: In der Transplantationsmedizin beispielsweise herrscht üblicherweise ein Mangel an Spenderorganen, so dass nicht alle Patient*innen versorgt bzw. gerettet werden können. Die Frage nach der ethisch vertretbaren Priorisierung knapper medizinischer Hilfeleistungen ist also keineswegs neu. Im Angesicht des drohenden Kollapses der Krankenhäuser durch eine nicht mehr bewältigbare Zahl von Covid-Intensivpatient*innen hat sich diese Frage dem öffentlichen Diskurs jedoch mit unerwarteter Dringlichkeit gestellt.
Während der ersten Welle (im April 2020) setzte sich der Journalist und Essayist Florian-Felix Weyh extensiv mit den möglichen Auswahlverfahren und ‑kriterien auseinander, die im Falle eines Massenandrangs an Patient*innen herangezogen werden könnten, und ließ verschiedene Expert*innen zu Wort kommen. Die folgenden Ausführungen schließen an die von Weyh diskutierten Kontroversen an und stellen die gängigen Triage-Verfahren und ‑Kriterien zunächst im Überblick vor, um im Anschluss deren Legitimität zu diskutieren.
Ein erstes Verfahren beruht auf dem Prinzip »First Come, First Served« (FCFS): Die Patient*innen werden entsprechend der Abfolge ihrer Anmeldung behandelt; wer zuerst erscheint, ist zuerst an der Reihe. Im Gegensatz zur Katastrophenmedizin hat sich FCFS in der Normalmedizin umfassend etabliert. Wenn ausreichend Ressourcen vorhanden sind und der gesamte Bedarf gedeckt werden kann, ergibt dieses Kriterium unmittelbar Sinn. Denn unter der Voraussetzung, dass letztlich jede Person behandelt werden kann, liegt es nahe, ohne Verzug mit der Arbeit zu beginnen, sobald der erste Patient eintrifft.
Die Rechtswissenschaftlerin Elisa Hoven gibt jedoch zu bedenken, dass FCFS auf den Zufall abstelle, da der Zeitpunkt, zu dem sich die Patient*innen jeweils anmelden, zufällig sei. Dieser Zufallsaspekt ist es jedoch, der häufig gerade als Stärke eines anderen Auswahlverfahrens angeführt wird, nämlich des Losverfahrens. Muss beispielsweise entschieden werden, wer von zwei oder mehr Personen das einzige noch verfügbare Beatmungsgerat erhält, teilt das Losverfahren jeder Person die gleiche Chance auf die medizinische Ressource zu. Das sei deshalb gerecht, meint der Strafrechtler Tonio Walter, weil wir mit dem Zufallsprinzip unabhängig von spezifischen Merkmalen der Person entscheiden. Wenn die medizinische Ressource an sich schon nicht aufgeteilt werden kann […], dann wenigstens die Chance darauf, die Ressource zu erhalten, was den gleichen Respekt ausdrücke, den wir einer jeden Person schulden.
[…] Sowohl FCFS als auch das Losverfahren schneiden jedoch dann schlecht ab, wenn bei Ressourcenknappheit (auch) möglichst viele Menschenleben gerettet werden sollen. Gesetzt den Fall, eine Ärztin muss ein Beatmungsgerät entweder einem Covid-Patienten zuteilen, der mit Behandlung gute Heilungschancen hat, oder aber einem anderen Patienten, der wahrscheinlich auch dann sterben wird, wenn er das Beatmungsgerät erhält. Wird letzterer durch ein Losverfahren ausgewählt, werden wahrscheinlich beide Patienten sterben. Wird dagegen der erstere ausgewählt, stehen die Chancen gut, dass zumindest eine Person überlebt.
Aus diesem Grund gewann das Kriterium der Heilungschance bzw. der kurzfristigen Erfolgsprognose besonders im Katastrophenkontext an Bedeutung. Nach einem bis heute gängigen Triage-Prozedere werden die Patient*innen entsprechend in vier Prioritätsgruppen eingeteilt:
- 1. Höchste Priorität kommt dabei jenen Patient*innen zu, die mit der Behandlung eine gute oder zumindest intakte Überlebenschance haben, ohne Behandlung jedoch fast sicher sterben werden.
- 2. Zweitrangig behandelt werden Patient*innen, die auch ohne Behandlung eine relativ gute Überlebenswahrscheinlichkeit haben, die mit Behandlung aber noch deutlich verbessert werden kann.
- 3. Zeitweilig nicht behandelt werden Patient*innen, die nur leichte Schäden aufweisen und auch ohne Behandlung eine gute Prognose haben, sowie
- 4. Patient*innen, die auch mit Behandlung höchstwahrscheinlich sterben werden.
Dieses Verfahren soll sicherstellen, dass die medizinischen Ressourcen dort zum Einsatz kommen, wo sie am ehesten wirken werden, so dass die Anzahl der geretteten Leben maximiert wird.
Relativ zu einem vierten möglichen Priorisierungskriterium, nämlich der Anzahl der geretteten Lebensjahre, ist jedoch auch das genannte Prozedere ineffizient. Haben beispielsweise eine 30-jährige und eine 85-jährige Patientin die gleiche kurzfristige Erfolgsprognose, teilt das Prozedere beide in dieselbe Prioritätsgruppe ein. Bei der 30-Jährigen können im Falle einer vollständigen Genesung aber noch 50 bis 60 Lebensjahre auf dem Spiel stehen, während der 85-Jährigen nur wenige Jahre oder Monate bleiben werden. Entsprechend haben sich manche Stimmen […] für die Berücksichtigung der verbleibenden Lebensjahre ausgesprochen. Auch europäische medizinische Gesellschaften […] haben dieses Kriterium in ihre Empfehlungen aufgenommen, als die erste Covid-Welle eine Triage erzwang. Weil das Kriterium – isoliert betrachtet – aber alte sowie junge vorerkrankte bzw. behinderte Menschen benachteiligt, ist es auf heftigen Widerspruch gestoßen. […] Ein fünftes Kriterium stellt die Systemrelevanz des jeweiligen Patienten dar: »Rettet die Retter!« Ist etwa das Leben einer Ärztin gefährdet, von deren Genesung bzw. Arbeit viele weitere Leben abhängen, erscheint ihre Priorisierung durchaus sinnvoll. Das Kriterium der Systemrelevanz ist also auch ein Effizienzkriterium: Die Rettung der Ärztin maximiert die Anzahl der insgesamt geretteten Leben […]. Zugleich kann die Priorisierung als Kompensation dafür verstanden werden, dass die Ärztin womöglich ihre Gesundheit riskiert, um andere zu retten. Personen, die unter hohem Risiko systemrelevante Arbeit leisten, konnten als Behandlungsgruppe allgemein priorisiert werden.
Adriano Mannino: Wen rette ich – und wenn ja, wie viele? Über Triage und Verteilungsgerechtigkeit.
Ditzingen: Reclam 2021
120 Seiten
ISBN: 978–3‑15–014068‑0
Bei existenziellen Entscheidungen, die von medizinischen Institutionen und ihren Vertreter*innen getroffen werden, sind letztlich auch Kriterien der Transparenz und Umsetzbarkeit von großer Bedeutung. Klare Kriterien dienen sowohl den Entscheidungsträger*innen als auch den Patient*innen und ihren Angehörigen, die sich vergewissern können, dass alles mit (ge)rechten Dingen zugeht. Ein transparentes System ermöglicht auch die öffentliche Diskussion und – gegebenenfalls – die Revision der Kriterien, sollten Gerechtigkeitsdefizite entdeckt werden.
In der Transplantationsmedizin hat sich zur gerechten Verteilung der knappen Organe ein Punktesystem ausgebildet: Je mehr Punkte eine Patientin erreicht, desto höher ihr Platz auf der Warteliste. Die entsprechenden Kriterien sind transparent und werden gesetzlich geregelt, sind also auch demokratisch legitimiert. Ein Triage-Gesetz existiert dagegen nicht. Vom Beispiel der Organvergabe können wir ebenfalls lernen, dass Kriterien wie die fünf oben skizzierten sich nicht gegenseitig ausschließen müssen. Um in komplexen Entscheidungssituationen zu einem ethisch gerechtfertigten Urteil zu gelangen, sind in aller Regel mehrere Gesichtspunkte zu berücksichtigen. Selbst wenn man in einem Katastrophenfall die Entscheidungsregeln notgedrungen auch simpel und gut praktikabel halten muss, bleibt es trotzdem wichtig, die Vielzahl und Vielfalt ethischer Kriterien nicht aus dem Blick zu verlieren und Unsicherheiten einzuräumen. Auch die teils massiven Meinungsverschiedenheiten zwischen Individuen, wissenschaftlichen Disziplinen, Institutionen und Staaten zeigen an, dass hier erhebliche ethische Unsicherheit besteht. In medizinethischen bzw. ‑rechtlichen Fragen liegen insbesondere die akademische Ethik, die Juristerei, die Gesundheitsökonomie und die Medizin oft im Meinungsstreit. Dasselbe gilt für die Gesetze verschiedener Staaten, die sich allesamt als demokratische Rechtsstaaten verstehen und bestrebt sind, medizinethische Fragen aus der Perspektive der Menschenwürde und der Grundrechte zu klären.
Diese Uneinigkeit und Unsicherheit gilt es anzuerkennen, ohne einem ungerechtfertigten Relativismus anheimzufallen, der ethische Reflexion subjektiviert. In den Naturwissenschaften etwa besteht in manchen Fragen auch große Uneinigkeit und Unsicherheit, ohne dass wir deshalb versucht wären, entsprechende Relativismen zu vertreten. Zu einem tragfähigen Umgang mit existenziellen Entscheidungssituationen können wir nur dann finden, wenn wir die ethische Debatte fortführen und dabei stets auch mit unserer eigenen Fehlbarkeit rechnen. Wo Fehlbarkeit besteht, können Fehler gemacht werden; und wo Fehler gemacht werden können, ist nicht alles subjektiv. Ethische Erkenntnis – d. h. Fehlerkorrektur – ist individuell und gesellschaftlich möglich, wenn auch nicht garantiert.