In der Auseinandersetzung mit der Selbstbestimmung des Lebensendes prallen nicht nur konträre traditionelle gesellschaftliche Einstellungen, divergierende religiöse Ansichten, philosophische Fragestellungen sowie ethische, medizinische und vor allem natürlich auch juristische Ansichten aufeinander. Es geht hierbei auch um Aspekte wie Individualität und kollektive Verantwortung, die die dringend notwendige Diskussion um den richtigen Umgang mit den Fragen nach Zeitpunkt und Art der eigenen Sterblichkeit mitunter derart überlagern und emotionalisieren, dass viele Menschen auch weiterhin das tun, was sie schon immer getan haben: sich der notwendigen Teilhabe verweigern und hoffen, dass dieser Krug doch bitte an ihnen vorübergehen möge.
Dies kommt nicht von ungefähr und fällt letztlich auch leicht, weil sie dem Menschen dabei hilft, das evolutionäre Paradoxon seiner individuellen Existenz – das Fehlen einer rationalen Handlungsstrategie für den letzten Schritt im vollen Bewusstsein der eigenen Endlichkeit – zu verdrängen und die Verantwortung hierüber an den Zufall (das Schicksal?) bzw. das gesellschaftliche Kollektiv abzugeben.
Aber was, wenn auch das Kollektiv an dieser Aufgabe scheitert? Was, wenn die Gesellschaft unter dem Einfluss religiöser, ethischer, medizinischer und juristischer Strömungen pro forma zwar einwandfreie Detaillösungen anbietet und immer neue Strategien entwickelt, um Erkrankungen zu verhindern, vorzubeugen und zu behandeln, nur um dann letzten Endes doch an der Unausweichlichkeit des Todes und der mit der geforderten Selbstbestimmung verbundenen gesamtgesellschaftlichen Herausforderung zu zerbrechen?
Fehlausrichtung der Medizin?
Warum pfuschen wir der Natur tagtäglich mit allem, was wir können und haben, ins Handwerk und beeinflussen künstlich den natürlichen Verlauf von Krankheiten und Unfällen, nur um am Ende – also dann, wenn es zu dem entscheidenden Akt kommt, der einer medizinischen Hilfe bedürfte – die Hände in den Schoß zu legen und uns auf das Begleiten des unabwendbar schicksalhaften Verlaufs zu beschränken?
Vielleicht erklärt sich dieses Dilemma durch eine der grundsätzlichen (Fehl-)Ausrichtungen der modernen Medizin: Diese definiert sich vor allem darüber, was sie alles gegen Dinge tun kann, die das Leben eines Menschen qualitativ beeinträchtigen oder quantitativ bedrohen – doch nur sehr wenig für die Dinge, die ein gutes Leben ausmachen. Die Absurdität einer auf die Behandlung des faktisch eingetretenen Schadens fokussierenden Medizin wird den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts schon lange nicht mehr gerecht. Gesetzliche Krankenversicherungen, die die Übernahme präventiv wirkender Gesundheitsmaßnahmen verweigern und sich diesbezüglich hinter pseudorationalisierenden Nutzenanalysen verstecken, verkennen die entscheidenden Aufgaben der Gesundheitsfürsorge unserer Zeit.
Ein gutes, ein gehaltvolles, ein lustvolles und bejahendes Leben ist eben sehr viel mehr als nur die Abwesenheit von körperlicher Krankheit und seelischem Leid; es ist nicht nur die objektivierbare Aneinanderreihung und Sammlung von Lebenszeit, krankheits- und beschwerdefreien Tagen und die Erfüllung individueller, familiärer, beruflicher oder gesellschaftlicher Erwartungen, sondern ergibt sich einzig und allein als das subjektive Ergebnis einer individuellen Bilanzierung.
In den Ausführungen zum Urteil gegen den § 217 hat das BVerfG genau dieses Recht auf Individualität unterstrichen und verdeutlicht, dass das Ergebnis einer derartigen Bilanzierung von Dritten auch dann zu akzeptieren ist, wenn es negativ ausfällt und (rational bzw. objektiv) nicht nachvollzogen werden kann. Das, was das Leben in der Summe all seiner Komponenten letztlich ausmacht, das, was wir als lebenswert empfinden, all das definiert sich ausschließlich aus der jeweiligen subjektiven Sicht des Einzelnen. Es bedarf keiner kritischen Begutachtung, keiner gesellschaftlichen, religiösen oder wie auch immer sonst gearteten Billigung, sondern ausschließlich der Toleranz und der Achtung der Entscheidungen Einzelner.
Eine Entscheidung trifft man immer
Gesellschaft und Gesetzgeber sind also gefordert, die für solche individuellen Entscheidungen notwendigen Rahmenbedingungen zu schaffen. Und jeder einzelne Mensch ist gefordert, für sich zu klären, welchen Weg er wie und wann gehen bzw. ob er die Gestaltung seines Lebensendes aktiv mitgestalten oder passiv erdulden möchte. Der individuellen Auseinandersetzung mit dieser Frage kann (und darf) man sich, mehr oder weniger lange entziehen. Letztendlich trifft man jedoch auch mit dieser passiven Haltung eine Entscheidung, die genauso zu akzeptieren ist, wie die hinsichtlich des Wunsches nach einer aktiv(er)en Einflussnahme auf Zeitpunkt und Umstand des eigenen Ablebens.
Dame Cicely Saunders, die „Grande Dame der Palliativmedizin“, hat mit Ihrer Forderung „dem Leben nicht mehr Tage, sondern den Tagen mehr Leben zu geben“ für diese subjektive Bilanzierung eine entscheidende Hilfestellung gegeben. Leider wird dieser Anspruch gerade in der modernen Palliativmedizin auf die Linderung von krankheitsbedingtem körperlichem Leid und objektivierbarem Siechtum reduziert, wohingegen Würde, Selbstbestimmung und Autonomie als individuell entscheidende Faktoren von körperlicher und seelischer Lebensqualität vernachlässigt bzw. im palliativmedizinischen Kontext gerne relativiert werden.
Viele der mit der Lebensendphase verbundenen Symptome und Beschwerden können heute schmerz- und palliativmedizinisch gelindert und die mit der Lebensendlichkeit verbundenen Ängste rationalisiert bzw. spirituell begleitet werden. Doch würdevoll ist das Sterben nur in den wenigsten Fällen – zumindest aus Sicht Betroffener. Warum der Mensch sich anmaßt, das mit fortgeschrittener Krankheit verbundene Leid bei seinen tierischen Weggefährten durch die Gnade eines medikamentös induzierten „Einschläferns“ zu lindern, sich selbst aber dem launischen Schicksal des natürlichen Verlaufs aussetzt, lässt sich in unserem sonst recht liberal aufgestellten Land nur durch die traditionell starke Einflussnahme christlicher Religionen erklären.
Selbst- vs. Fremdbestimmung
Zunehmend wird in Deutschland der Wunsch nach einem selbstbestimmten Lebensende bei Palliativpatienten in der unmittelbaren Lebensendphase und zum Teil auch bei Menschen mit einer absehbar lebenslimitierenden, aber akut noch nicht lebensbedrohlichen Erkrankung, gesellschaftlich diskutiert. Doch entsprechende Überlegungen von anderweitig nicht lebensbedrohlich (aber eben auch unbehandelbar) chronisch kranken oder gar gesunden Menschen werden in der Gesellschaft unverändert nicht akzeptiert, im Gegenteil: Betroffenen wird angesichts derartiger Vorstellungen gerne eine psychiatrische Störung mit entsprechender Einschränkung der freien Verantwortlichkeit und unzureichender Einsicht in die Tragweite ihrer Entscheidung unterstellt.
Dabei hat das BVerfG in seinem wegweisenden Urteil vom Februar 2020 auch exakt zu diesem Punkt Stellung bezogen und formuliert, „dass ein umfassendes Recht auf selbstbestimmtes Sterben […] in jeder Phase der menschlichen Existenz“ besteht und „dieses Recht nicht auf fremddefinierte Situationen, wie schwere und unheilbare Krankheitszustände oder bestimmte Lebens- und Krankheitsphasen, beschränkt sein“ darf.
In diesem Kontext ist das Wort „selbstbestimmt“ zentral, denn der Gesetzgeber wird vom BVerfG „berechtigt sicherzustellen, dass die Entscheidung zum Suizid ernsthaft und dauerhaft ist sowie frei und autonom getroffen wird“, um Fremdeinwirkung auszuschließen und der Gefahr der Fremdbestimmung des Wertes eines Lebens (insbesondere hinsichtlich der hier besonderen geschichtlichen Verantwortung Deutschlands) einen notwendigen Riegel vorzuschieben.
Vor diesem Hintergrund eröffnen sich durch das Urteil des BVerfG für viele Menschen mit schwerwiegenden, kurativ nicht behandelbaren chronischen Erkrankungen und entsprechenden Einschränkungen der körperlichen wie seelischen Lebensqualität sowie schweren Einschränkungen der aktiven Teilhabe am privaten, beruflichen, gesellschaftlichen und sozialen Leben nun durchaus neue Perspektiven auf das Ergebnis ihrer individuellen Lebensbilanzierung zu antworten.
Debatte um Selbstbestimmung erfordert breite(re) Teilhabe
Angesichts der fundamentalen Bedeutung der durch das Urteil des BVerfG so prominent ins Bewusstsein gerückten Selbstbestimmungsdebatte verwundert die geringe aktive Teilhabe derjenigen, die es betrifft: der allgemeinen Öffentlichkeit. Statt breiter, offener gesellschaftlicher Diskussionen erleben wir Stellvertreterdebatten zwischen Angehörigen verschiedener Professionen. Juristen, Ethiker, Mediziner, Politiker, Geistliche, Polizisten und viele andere mehr melden sich zu Wort und geben kund, wie aus dieser oder jener Sicht die vom BVerfG geforderte Verpflichtung aller staatlichen Gewalt zu Achtung und Schutz der Selbstbestimmung (auch über den Tod hinaus) als Ausdruck der unantastbaren Menschenwürde entsprechend §1 des Grundgesetzes verstanden und formal ausgestaltet werden müsse.
Verschiedene Entwürfe und Vorschläge werden derzeit als Grundlage für ein neues Gesetzgebungsverfahren diskutiert. Keiner von ihnen wird die notwendige aktive Teilhabe aller Teile der Gesellschaft und den wichtigen Diskurs ersetzen, den es in Familien und Beziehungen mit Verwandten, Freunden und Bekannten offen zu führen gilt – wenn wir die sich aus dem Urteil des BVerfG ergebenden Forderungen ernst nehmen wollen.