Ausgerechnet das Land der beiden mRNA-Impfstoffentwickler*innnen Özlem Türeci und Uğur Şahin ist ein Land der Impfmuffel? Die Impfskepsis ist vom Standpunkt des praktischen Humanismus, der sowohl auf kritischem, rationalem Denken als auch auf Empathie und Solidarität beruht, unbegreiflich.
Zunächst einmal zum Aspekt der Wissenschaft, der Rationalität. Humanist*innen verbindet die Leidenschaft für das wissenschaftliche Erforschen der Welt. Neugier und kritisches Denken erweitern den Horizont der Menschheit und jedes einzelnen Menschen. Integraler Bestandteil des Humanismus ist daher die Orientierung am jeweiligen bestgesicherten Wissen der Zeit, ist das Bemühen, Entscheidungen aus den verfügbaren evidenzbasierten wissenschaftlichen Erkenntnissen abzuleiten. Und zur Impffrage besagt der wissenschaftliche Konsens eindeutig: Impfen schützt! – Sowohl den einzelnen Geimpften als auch die Gesellschaft.
Ja, der Impfstoff wurde in Rekordzeit entwickelt. Und doch gab es keinen Rabatt in Sicherheitsfragen vor der Zulassung. Darüber hinaus gab es noch nie Impfstoffe, deren Sicherheit und Nebenwirkungen so sorgfältig beobachtet wurden wie die Corona-Impfstoffe. Schlicht, weil noch nie so viele Menschen in so kurzer Zeit geimpft wurden. Das schafft eine nie dagewesene statistische Evidenz, um auch seltenste Nebenwirkungen überhaupt zu entdecken. Nein, Langzeitfolgen sind nicht zu befürchten. Was sich nicht binnen sechs Wochen nach der Impfung zeigt, zeigt sich auch nicht sechs Monate, geschweige denn sechs Jahre nach der Impfung.
Ja, Geimpfte können sich trotz Impfung infizieren, können trotz Impfung erkranken, können trotz Impfung andere anstecken. Doch die Viruslast ist bei infizierten Geimpften deutlich niedriger, der Krankheitsverlauf milder. In Abwandlung von Bill Clinton möchte man ausrufen: It’s the statistic, stupid! – Das macht es vielleicht auch so abstrakt. Für manche leider zu abstrakt? Doch die Impfung schützt, die Zahlen sind eindeutig. Tragische Ausnahmen gibt es, aber sie fallen im Vergleich nicht ins Gewicht. Die Statistik schlägt die Anekdote.
All das sollte inzwischen hinlänglich bekannt und allgemein anerkannt sein, ist es aber nicht. Obwohl anerkannte, seriöse Wissenschaftler*innen und Wissenschaftsvermittler*innen wie Sandra Ciesek, Christian Drosten, Mai Thi Nguyen-Kim oder Harald Lesch alle notwendigen Informationen aktuell und gut verständlich bereitstellen, folgen andere doch lieber den verworrenen Thesen von Schiffmann, Wodarg, Bhakdi und Co.
Dieser ernüchternde Befund führt uns zu einer wichtigen Erkenntnis: Zur kritischen Rationalität, die nicht nur Humanist*innen für sich in Anspruch nehmen, gehört in der praktischen Umsetzung heutzutage in besonderem Maße die Medienkompetenz. Es ist erstaunlich, wie viele und welche Menschen diesbezüglich ein erschreckendes Defizit aufweisen. In der Pandemiebekämpfung fällt uns diese mangelnde Medienkompetenz eines Gutteils der Bevölkerung schmerzhaft auf die Füße. Medienkompetenz als humanistische Kernkompetenz darf daher nicht unterschätzt werden. Denn wer bereits bei Auswahl und Beurteilung der Medien danebenliegt, wird zwangsläufig zu fehlerhaften Schlussfolgerungen, auch für das eigene Handeln, gelangen.
Zum ethischen Aspekt
Natürlich beantwortet die Wissenschaft nicht alle Fragen und löst nicht alle Probleme. Sie hat in unserer Weltanschauung eine wertvolle und hervorgehobene Orientierungsfunktion, jedoch keine ausschließliche und letztgültige. Konstituierend für den Humanismus ist vielmehr die Ethik. Und die humanistische Ethik zeichnet sich aus durch die Betonung der Freiheit, der persönlichen wie der politischen, auf der einen Seite und auf der anderen Seite der Solidarität, der gelebten Empathie, der Verantwortung gegenüber anderen, insbesondere schwächeren Mitgliedern unserer Gesellschaft. In diesem Spannungsfeld Freiheit – Verantwortung – Rationalität bewegen wir uns immer, doch selten ist dies so deutlich wie in der Corona-Pandemie.
Eine Binsenweisheit lautet: Die Freiheit des Einzelnen gilt nicht schrankenlos. Sie endet dort, wo Freiheit und körperliche Unversehrtheit anderer betroffen sind. Für humanistisch gesinnte Menschen ist es eine Selbstverständlichkeit, dass Freiheit immer mit Verantwortung einhergeht. Anderenfalls würde sie abgleiten in Narzissmus und Rücksichtslosigkeit. Einen Menschen, der seine persönliche Selbstbestimmung ohne jede Abwägung für wichtiger hält als das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit seiner Mitmenschen, wird man schwerlich als Humanisten bezeichnen können, sondern wohl eher als Egoisten.
Ein Schlüsselwort in diesem Kontext ist das der Abwägung. Eine solche ist auch unter dem humanistischen Aspekt selbstverständlich legitim. Niemand verlangt, dass man sein Leben gibt oder auch nur ein hohes Risiko für sein Leben oder seine Gesundheit eingeht, um anderen zu helfen. Aber davon kann vorliegend ja auch keine Rede sein. Im Gegenteil: Die Impfung beinhaltet sogar nachweisbar einen eigenen Vorteil für den Impfwilligen, da die Impfung deutlich weniger Risiken birgt als eine Corona-Erkrankung. Hinzu kommt, dass die Impfung sicher, kostenlos und mittlerweile ohne größeren bürokratischen Aufwand verfügbar ist. Die Belastung des Einzelnen ist also überschaubar.
Auf der anderen Seite stehen zuvorderst die Interessen derjenigen, die aus gesundheitlichen Gründen selbst nicht geimpft werden können oder die wegen einer Grunderkrankung möglicherweise nicht so gut auf die Impfung ansprechen – und folglich besonders gefährdet sind. Zu der aktuell nicht impfbaren Personengruppe gehören zudem alle Kleinkinder unter fünf Jahren. Bei den 5- bis 11-Jährigen liegt die Impfquote noch bei unter 20 Prozent (Stand April 2022), insofern gehören auch mehr als 80 Prozent dieser Personengruppe zum Kreis der Schutzbedürftigen. Zudem sind auch die Freiheitseinschränkungen aufgrund der Pandemieschutzbedingungen in die Abwägung mit einzubeziehen. Diese betreffen die gesamte Gesellschaft, insbesondere die Wirtschaft, Bildungs- und Kultureinrichtungen. Je höher die Impfquote, umso eher können diese uns alle belastenden Freiheitsbeschränkungen fallen.
Die Frage, ob man sich impfen lassen soll oder nicht, ist – wie die obige Abwägung zeigt – keine rein private Frage. Alle, die sich nicht impfen lassen, obwohl keine medizinischen Gründe dagegensprechen, verhalten sich unsolidarisch und belasten die Allgemeinheit.
Schließlich ist es jedem Menschen zu wünschen, dass er im Falle eines Herzinfarkts oder eines schweren Verkehrsunfalls schnellstmöglich in das nächstgelegene Krankenhaus gebracht und intensiv-medizinisch behandelt, dass er im Falle einer Krebsdiagnose ohne Verzögerung operiert werden kann, damit sich der Krebs nicht weiter ausbreitet. Auch wenn die aktuelle Omikron-Variante statistisch zu milderen Krankheitsverläufen führt als vorangegangene Virus-Varianten, so bleibt die Vermeidung der Überlastung des Gesundheitssystems weiterhin ein ernstzunehmender Aspekt. Überdies kann nicht ausgeschlossen werden, dass uns im weiteren Verlauf dieses Jahres eine neue, wieder letalere Variante heimsucht. Wir sollten dann wirklich gewappnet sein.
Gemäß der Verantwortungsethik von Max Weber trägt jeder die Verantwortung für die voraussehbaren Folgen seines Handelns. Die Folgen der grundlosen Impfverweigerung sind voraussehbar und sie sind dramatisch! Mehr als zwei Jahre Pandemie sind genug, 132.000 Corona-Tote sind mehr als genug!
Nimmt man das Konzept des Humanismus im Allgemeinen und das des praktischen Humanismus im Besonderen ernst, sollte man über den vollen Impfschutz verfügen. Die Entscheidung für die Impfung sollte dabei einer intrinsischen Motivation folgen, nicht einer extrinsischen infolge einer staatlichen Impfpflicht. Zudem sollten Humanist*innen in der Impfdebatte klar Position beziehen für die kritische Rationalität und gegen das allgegenwärtige Verschwörungsgeraune, für die Solidarität mit den Schwächsten der Gesellschaft und gegen den die eigene Selbstbestimmung verabsolutierenden Egoismus.