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Plädoyer für eine kritische Rationalität

Impfen: Wissenschaftlich geboten … und ethisch auch!

Beitragsbild: Mat Napo/ Unsplash

Warum Impfen für Humanist*innen eine Selbstverständlichkeit sein sollte. Ein Plädoyer.

Aus­ge­rech­net das Land der bei­den mRNA-Impfstoffentwickler*innnen Özlem Türe­ci und Uğur Şahin ist ein Land der Impf­muf­fel? Die Impf­skep­sis ist vom Stand­punkt des prak­ti­schen Huma­nis­mus, der sowohl auf kri­ti­schem, ratio­na­lem Den­ken als auch auf Empa­thie und Soli­da­ri­tät beruht, unbe­greif­lich.

Zunächst ein­mal zum Aspekt der Wis­sen­schaft, der Ratio­na­li­tät. Humanist*innen ver­bin­det die Lei­den­schaft für das wis­sen­schaft­li­che Erfor­schen der Welt. Neu­gier und kri­ti­sches Den­ken erwei­tern den Hori­zont der Mensch­heit und jedes ein­zel­nen Men­schen. Inte­gra­ler Bestand­teil des Huma­nis­mus ist daher die Ori­en­tie­rung am jewei­li­gen best­ge­si­cher­ten Wis­sen der Zeit, ist das Bemü­hen, Ent­schei­dun­gen aus den ver­füg­ba­ren evi­denz­ba­sier­ten wis­sen­schaft­li­chen Erkennt­nis­sen abzu­lei­ten. Und zur Impf­fra­ge besagt der wis­sen­schaft­li­che Kon­sens ein­deu­tig: Imp­fen schützt! – Sowohl den ein­zel­nen Geimpf­ten als auch die Gesell­schaft.

Ja, der Impf­stoff wur­de in Rekord­zeit ent­wi­ckelt. Und doch gab es kei­nen Rabatt in Sicher­heits­fra­gen vor der Zulas­sung. Dar­über hin­aus gab es noch nie Impf­stof­fe, deren Sicher­heit und Neben­wir­kun­gen so sorg­fäl­tig beob­ach­tet wur­den wie die Coro­na-Impf­stof­fe. Schlicht, weil noch nie so vie­le Men­schen in so kur­zer Zeit geimpft wur­den. Das schafft eine nie dage­we­se­ne sta­tis­ti­sche Evi­denz, um auch sel­tens­te Neben­wir­kun­gen über­haupt zu ent­de­cken. Nein, Lang­zeit­fol­gen sind nicht zu befürch­ten. Was sich nicht bin­nen sechs Wochen nach der Imp­fung zeigt, zeigt sich auch nicht sechs Mona­te, geschwei­ge denn sechs Jah­re nach der Imp­fung.

Ja, Geimpf­te kön­nen sich trotz Imp­fung infi­zie­ren, kön­nen trotz Imp­fung erkran­ken, kön­nen trotz Imp­fung ande­re anste­cken. Doch die Virus­last ist bei infi­zier­ten Geimpf­ten deut­lich nied­ri­ger, der Krank­heits­ver­lauf mil­der. In Abwand­lung von Bill Clin­ton möch­te man aus­ru­fen: It’s the sta­tis­tic, stu­pid! – Das macht es viel­leicht auch so abs­trakt. Für man­che lei­der zu abs­trakt? Doch die Imp­fung schützt, die Zah­len sind ein­deu­tig. Tra­gi­sche Aus­nah­men gibt es, aber sie fal­len im Ver­gleich nicht ins Gewicht. Die Sta­tis­tik schlägt die Anek­do­te.

All das soll­te inzwi­schen hin­läng­lich bekannt und all­ge­mein aner­kannt sein, ist es aber nicht. Obwohl aner­kann­te, seriö­se Wissenschaftler*innen und Wissenschaftsvermittler*innen wie San­dra Cie­sek, Chris­ti­an Dros­ten, Mai Thi Nguy­en-Kim oder Harald Lesch alle not­wen­di­gen Infor­ma­tio­nen aktu­ell und gut ver­ständ­lich bereit­stel­len, fol­gen ande­re doch lie­ber den ver­wor­re­nen The­sen von Schiff­mann, Wodarg, Bhak­di und Co.

Die­ser ernüch­tern­de Befund führt uns zu einer wich­ti­gen Erkennt­nis: Zur kri­ti­schen Ratio­na­li­tät, die nicht nur Humanist*innen für sich in Anspruch neh­men, gehört in der prak­ti­schen Umset­zung heut­zu­ta­ge in beson­de­rem Maße die Medi­en­kom­pe­tenz. Es ist erstaun­lich, wie vie­le und wel­che Men­schen dies­be­züg­lich ein erschre­cken­des Defi­zit auf­wei­sen. In der Pan­de­mie­be­kämp­fung fällt uns die­se man­geln­de Medi­en­kom­pe­tenz eines Gut­teils der Bevöl­ke­rung schmerz­haft auf die Füße. Medi­en­kom­pe­tenz als huma­nis­ti­sche Kern­kom­pe­tenz darf daher nicht unter­schätzt wer­den. Denn wer bereits bei Aus­wahl und Beur­tei­lung der Medi­en dane­ben­liegt, wird zwangs­läu­fig zu feh­ler­haf­ten Schluss­fol­ge­run­gen, auch für das eige­ne Han­deln, gelan­gen.

Zum ethischen Aspekt

Natür­lich beant­wor­tet die Wis­sen­schaft nicht alle Fra­gen und löst nicht alle Pro­ble­me. Sie hat in unse­rer Welt­an­schau­ung eine wert­vol­le und her­vor­ge­ho­be­ne Ori­en­tie­rungs­funk­ti­on, jedoch kei­ne aus­schließ­li­che und letzt­gül­ti­ge. Kon­sti­tu­ie­rend für den Huma­nis­mus ist viel­mehr die Ethik. Und die huma­nis­ti­sche Ethik zeich­net sich aus durch die Beto­nung der Frei­heit, der per­sön­li­chen wie der poli­ti­schen, auf der einen Sei­te und auf der ande­ren Sei­te der Soli­da­ri­tät, der geleb­ten Empa­thie, der Ver­ant­wor­tung gegen­über ande­ren, ins­be­son­de­re schwä­che­ren Mit­glie­dern unse­rer Gesell­schaft. In die­sem Span­nungs­feld Frei­heit – Ver­ant­wor­tung – Ratio­na­li­tät bewe­gen wir uns immer, doch sel­ten ist dies so deut­lich wie in der Coro­na-Pan­de­mie.

Eine Bin­sen­weis­heit lau­tet: Die Frei­heit des Ein­zel­nen gilt nicht schran­ken­los. Sie endet dort, wo Frei­heit und kör­per­li­che Unver­sehrt­heit ande­rer betrof­fen sind. Für huma­nis­tisch gesinn­te Men­schen ist es eine Selbst­ver­ständ­lich­keit, dass Frei­heit immer mit Ver­ant­wor­tung ein­her­geht. Ande­ren­falls wür­de sie abglei­ten in Nar­ziss­mus und Rück­sichts­lo­sig­keit. Einen Men­schen, der sei­ne per­sön­li­che Selbst­be­stim­mung ohne jede Abwä­gung für wich­ti­ger hält als das Recht auf Leben und kör­per­li­che Unver­sehrt­heit sei­ner Mit­men­schen, wird man schwer­lich als Huma­nis­ten bezeich­nen kön­nen, son­dern wohl eher als Ego­is­ten.

Ein Schlüs­sel­wort in die­sem Kon­text ist das der Abwä­gung. Eine sol­che ist auch unter dem huma­nis­ti­schen Aspekt selbst­ver­ständ­lich legi­tim. Nie­mand ver­langt, dass man sein Leben gibt oder auch nur ein hohes Risi­ko für sein Leben oder sei­ne Gesund­heit ein­geht, um ande­ren zu hel­fen. Aber davon kann vor­lie­gend ja auch kei­ne Rede sein. Im Gegen­teil: Die Imp­fung beinhal­tet sogar nach­weis­bar einen eige­nen Vor­teil für den Impf­wil­li­gen, da die Imp­fung deut­lich weni­ger Risi­ken birgt als eine Coro­na-Erkran­kung. Hin­zu kommt, dass die Imp­fung sicher, kos­ten­los und mitt­ler­wei­le ohne grö­ße­ren büro­kra­ti­schen Auf­wand ver­füg­bar ist. Die Belas­tung des Ein­zel­nen ist also über­schau­bar.

Auf der ande­ren Sei­te ste­hen zuvor­derst die Inter­es­sen der­je­ni­gen, die aus gesund­heit­li­chen Grün­den selbst nicht geimpft wer­den kön­nen oder die wegen einer Grund­er­kran­kung mög­li­cher­wei­se nicht so gut auf die Imp­fung anspre­chen – und folg­lich beson­ders gefähr­det sind. Zu der aktu­ell nicht impf­ba­ren Per­so­nen­grup­pe gehö­ren zudem alle Klein­kin­der unter fünf Jah­ren. Bei den 5- bis 11-Jäh­ri­gen liegt die Impf­quo­te noch bei unter 20 Pro­zent (Stand April 2022), inso­fern gehö­ren auch mehr als 80 Pro­zent die­ser Per­so­nen­grup­pe zum Kreis der Schutz­be­dürf­ti­gen. Zudem sind auch die Frei­heits­ein­schrän­kun­gen auf­grund der Pan­de­mie­schutz­be­din­gun­gen in die Abwä­gung mit ein­zu­be­zie­hen. Die­se betref­fen die gesam­te Gesell­schaft, ins­be­son­de­re die Wirt­schaft, Bil­dungs- und Kul­tur­ein­rich­tun­gen. Je höher die Impf­quo­te, umso eher kön­nen die­se uns alle belas­ten­den Frei­heits­be­schrän­kun­gen fal­len.

Die Fra­ge, ob man sich imp­fen las­sen soll oder nicht, ist – wie die obi­ge Abwä­gung zeigt – kei­ne rein pri­va­te Fra­ge. Alle, die sich nicht imp­fen las­sen, obwohl kei­ne medi­zi­ni­schen Grün­de dage­gen­spre­chen, ver­hal­ten sich unso­li­da­risch und belas­ten die All­ge­mein­heit.

Schließ­lich ist es jedem Men­schen zu wün­schen, dass er im Fal­le eines Herz­in­farkts oder eines schwe­ren Ver­kehrs­un­falls schnellst­mög­lich in das nächst­ge­le­ge­ne Kran­ken­haus gebracht und inten­siv-medi­zi­nisch behan­delt, dass er im Fal­le einer Krebs­dia­gno­se ohne Ver­zö­ge­rung ope­riert wer­den kann, damit sich der Krebs nicht wei­ter aus­brei­tet. Auch wenn die aktu­el­le Omi­kron-Vari­an­te sta­tis­tisch zu mil­de­ren Krank­heits­ver­läu­fen führt als vor­an­ge­gan­ge­ne Virus-Vari­an­ten, so bleibt die Ver­mei­dung der Über­las­tung des Gesund­heits­sys­tems wei­ter­hin ein ernst­zu­neh­men­der Aspekt. Über­dies kann nicht aus­ge­schlos­sen wer­den, dass uns im wei­te­ren Ver­lauf die­ses Jah­res eine neue, wie­der leta­le­re Vari­an­te heim­sucht. Wir soll­ten dann wirk­lich gewapp­net sein.

Gemäß der Ver­ant­wor­tungs­ethik von Max Weber trägt jeder die Ver­ant­wor­tung für die vor­aus­seh­ba­ren Fol­gen sei­nes Han­delns. Die Fol­gen der grund­lo­sen Impf­ver­wei­ge­rung sind vor­aus­seh­bar und sie sind dra­ma­tisch! Mehr als zwei Jah­re Pan­de­mie sind genug, 132.000 Coro­na-Tote sind mehr als genug!

Nimmt man das Kon­zept des Huma­nis­mus im All­ge­mei­nen und das des prak­ti­schen Huma­nis­mus im Beson­de­ren ernst, soll­te man über den vol­len Impf­schutz ver­fü­gen. Die Ent­schei­dung für die Imp­fung soll­te dabei einer intrin­si­schen Moti­va­ti­on fol­gen, nicht einer extrin­si­schen infol­ge einer staat­li­chen Impf­pflicht. Zudem soll­ten Humanist*innen in der Impf­de­bat­te klar Posi­ti­on bezie­hen für die kri­ti­sche Ratio­na­li­tät und gegen das all­ge­gen­wär­ti­ge Ver­schwö­rungs­ge­rau­ne, für die Soli­da­ri­tät mit den Schwächs­ten der Gesell­schaft und gegen den die eige­ne Selbst­be­stim­mung ver­ab­so­lu­tie­ren­den Ego­is­mus.

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