Suche
Umstrittene Suizid-Dienste mit neuen Mitteln

Humanes Sterben in Eigenregie – aber „vollautonom“?

| von
Demonstration in Arnheim, Niederlande, Juni 2024 – Dr. Philip Nitschke rechts im Bild

Beitragsbild: Fiona Steward/Exit-International

Ein viel diskutierter Suizidbehälter namens Sarco, der kürzlich in der Schweiz vorgestellt wurde, fand auch in Deutschland Beachtung. Initiator ist Dr. Philip Nitschke (77), Gründer der weltweit tätigen Organisation Exit International. Auch die sogenannte „Letzte-Wille-Pille“, die zeitweilig von einer niederländischen Genossenschaft angeboten und inzwischen zurückgezogen wurde, war von ihm initiiert. Diese Genossenschaft für über 70-Jährige hat sich eng vernetzt mit anderen Organisationen (für Senioren sowie deren Kinder und Angehörige). Als gemeinsames Ziel gilt, ein Lebensende mit individuell würdig gestaltetem Tod zu ermöglichen, durch jeweils unterschiedliche Ansätze. Eine ergebnisoffene Beratung mit „offenem Ohr“ ist zentral eingebunden – vielleicht ein humanistisches Zukunftsmodell?

Der aus­tra­li­sche Arzt Phil­ip Nit­sch­ke (77) wohnt inzwi­schen in den Nie­der­lan­den, gemein­sam mit sei­ner eben­falls aus Aus­tra­li­en stam­men­den Lebens­part­ne­rin und Mit­strei­te­rin Fio­na Ste­wart (58). Auf dem Foto ist er – rechts mit rotem Hals­tuch – auf einer Demons­tra­ti­on in Arn­heim neben Demons­tran­ten der Senio­ren­ko­ope­ra­ti­ve CLW (Coöpe­ra­tie Laats­te wil) zu sehen. Auf den Trans­pa­ren­ten steht der Slo­gan: „Baas over eigen ster­ven“ (Baas = Boss, über­setzt auch: Regie über das eige­ne Ster­ben). CLW for­dert die zukünf­ti­ge Zulas­sung eines zuver­läs­si­gen „Mit­tel X“ zumin­dest für über 75-jäh­ri­ge Frei­tod­wil­li­ge und möch­te damit den Weg berei­ten zu einem „voll­au­to­no­men“ Lebens­en­de. Dies mag zunächst erstau­nen, da in den Nie­der­lan­den ja sowohl Tötung auf Ver­lan­gen als auch Sui­zid­hil­fe bei uner­träg­li­chem Lei­den (dort all­ge­mein „Eutha­na­sie“ genannt) bereits seit 2001 erlaubt ist – aller­dings nur, wenn sie von einem Arzt oder einer Ärz­tin durch­ge­führt wer­den! Die dort gel­ten­de Eutha­na­sie­ge­setz­ge­bung ver­bie­tet zudem (eben­falls anders als in Deutsch­land), Men­schen, sofern sie nicht schwerst­krank sind, bei der Her­bei­füh­rung ihres eige­nen Todes zu hel­fen. 

Nicht-medizinische Suizidmethoden und entbürokratisierte Nutzung

Die­se Rege­lung reicht den CLW-Akti­vis­ten heu­te längst nicht mehr. Ihr Ziel ist genau das­sel­be wie das Ziel des mis­sio­na­risch enga­gier­ten Dr. Phil­ip Nit­sch­ke und sei­ner Orga­ni­sa­ti­on Exit Inter­na­tio­nal – die kei­nes­falls zu ver­wech­seln ist mit namens­ähn­li­chen eta­blier­ten Ster­be­hil­fe­ver­ei­nen, zu denen kei­ne Ver­bin­dung besteht. Viel­mehr in Oppo­si­ti­on zu die­sen Ster­be­hil­fe­ver­ei­nen geht es Nit­sch­ke und sei­nen Mit­strei­ten­den dar­um, neue Sui­zid­me­tho­den nahe­zu kos­ten­los und regu­lie­rungs­frei anzu­bie­ten und zumin­dest für Frei­tod­wil­li­ge ab einem gewis­sen Alter unbü­ro­kra­tisch nutz­bar zu machen: ohne (ver­schrei­bungs­pflich­ti­ge) Medi­ka­men­te, ohne ärzt­li­che Assis­tenz, ohne den nöti­gen Rechts­bei­stand, ohne die Ver­mitt­lung durch her­kömm­li­che Orga­ni­sa­tio­nen zum Huma­nen Ster­ben oder zur Sui­zid­hil­fe, ohne dort bei vor­aus­ge­setz­ter Ver­eins­mit­glied­schaft zu zah­len­der Sum­me (von 4.000 Euro auf­wärts) für einen dann erst ermög­lich­ten selbst­be­stimm­ten Tod.

In der vor zwölf Jah­ren gegrün­de­ten nie­der­län­di­sche Koope­ra­ti­ve CLW sind knapp 30.000 Fördermitglieder/Unterstützende und Orga­ni­sier­te v.a. in den loka­len Klein­grup­pen regis­triert (hoch­ge­rech­net auf die deut­sche Bevöl­ke­rungs­zahl wären das ca. 150.000). Als ein­deu­ti­ge Agen­da gilt eine „voll­au­to­no­me Rou­te“ („Boss des eige­nen Ster­bens“) für frei­ver­ant­wort­li­che Men­schen im Senio­ren­al­ter, die eine even­tu­el­le zukünf­ti­ge Selbst­tö­tung in Erwä­gung zie­hen – in der Regel für spä­ter ein­mal dann auf­grund von Lebens­s­att­heit (oft nach einer als gelun­gen bewer­te­ten Bio­gra­fie), von Erkran­kung oder Behin­de­rung, emp­fun­de­ner Ver­ein­sa­mung, ratio­na­ler Bilan­zie­rung oder begrün­de­ter Angst vor schwe­rer Pfle­ge­be­dürf­tig­keit und Demenz. Dafür möch­ten sie genos­sen­schaft­lich orga­ni­siert Vor­sor­ge tref­fen – auch zwecks aktu­el­lem Erhalt einer mög­lichst nicht wei­ter von Zukunfts­sor­gen getrüb­ten Lebens­qua­li­tät.

Es wäre unan­ge­mes­sen, von CLW als einer blo­ßen „Rent­ner-Trup­pe“ aus­zu­ge­hen, son­dern es han­delt sich eher um eine pro­fes­sio­nell geführ­te Orga­ni­sa­ti­on von Kadern mit akti­vis­ti­schem Selbst­hil­fe-Ver­ständ­nis: Sie haben als Koope­ra­ti­ve eini­ge (pri­vat sich zusam­men­fin­den­de) Bestell­grup­pen für ein che­misch töd­lich wir­ken­des „Mit­tel X“ orga­ni­siert, füh­ren Ver­an­stal­tun­gen und Demons­tra­tio­nen durch, üben poli­ti­schen Druck auch durch Gerichts­ver­fah­ren aus, hal­ten grö­ße­re hybri­de Dele­gier­ten­ver­samm­lun­gen ab. Tref­fen in klei­nen Krei­sen zu sechs bis acht Per­so­nen sol­len dem offen­her­zi­gen Erfah­rungs­aus­tausch, dem Ken­nen­ler­nen, der Gesel­lig­keit oder zu guter Letzt auch der Sui­zid­an­lei­tung mit Hil­fe von Infor­ma­ti­ons­ma­te­ria­li­en die­nen.

Netzwerk in den Niederlanden für humanes Lebensende und guten Tod

Als ihr Anlie­gen ergän­zen­de, „ver­wand­te“ Orga­ni­sa­tio­nen wer­den auf der CLW-Inter­net­sei­te genannt: die NVVE (Nie­der­län­di­sche Ver­ei­ni­gung für frei­wil­li­ges Lebens­en­de), eine Stif­tung für Ster­be­be­glei­tung (als hos­piz­li­che Alter­na­ti­ve zu ärzt­li­cher Eutha­na­sie und Sui­zid), eine Stif­tung des Psych­ia­ters Bou­de­wi­jn Cha­b­ot, der Huma­nis­tisch Ver­bond (Pro­jekt „Letz­te Lebens­pha­se“ des nie­der­län­di­schen Huma­nis­ti­schen Ver­ban­des) sowie eine Stif­tung namens De Ein­der. Letz­te­re hat ein ganz spe­zi­el­les Kon­zept ent­wi­ckelt: Ver­mit­telt wer­den an belie­bi­gen Gesprächs­or­ten Bera­ter und Bera­te­rin­nen in selbst­stän­di­ger Tätig­keit, die ein­schlä­gi­ge Fra­gen beant­wor­ten kön­nen und dabei für alle per­sön­li­chen Anlie­gen und Umstän­de ein „offe­nes Ohr“ haben. Sie füh­ren die ihnen anver­trau­te Auf­ga­be selbst­stän­dig aus, wobei die Hil­fe­su­chen­den mit ihnen über anfal­len­de Kos­ten­er­stat­tun­gen jeweils Ver­ein­ba­run­gen tref­fen.

Die fach­li­che und ethi­sche Qua­li­fi­ka­ti­on der Bera­ter und Bera­te­rin­nen wird laut De Ein­der durch Schu­lun­gen, The­men­ta­ge, Inter- und Super­vi­si­on geför­dert, auf­recht­erhal­ten sowie bestän­dig ver­tieft. Jede zu ver­mit­teln­de Per­son habe eine Ver­ein­ba­rung zu unter­zeich­nen, wonach sie sich ver­pflich­tet, die Sorg­falts­kri­te­ri­en der Stif­tung und deren aus­führ­li­che Betreu­ungs­stan­dards ein­zu­hal­ten. Die­se wer­den für Inter­es­sen­ten und mög­li­che Kli­en­ten auf der Web­site von De Ein­der fol­gen­der­ma­ßen auf den Punkt gebracht: „Ziel der Bera­tung durch die Bera­te­rin oder den Bera­ter ist es, im Gespräch mit Ihnen als Hil­fe­su­chen­der zu einer wohl­über­leg­ten Ent­schei­dung und einer mög­lichst sorg­fäl­ti­gen Umset­zung zu gelan­gen. In wel­che Rich­tung die­se Ent­schei­dung letzt­end­lich gehen wird und wann dies der Fall sein wird, liegt also ganz bei Ihnen als Hil­fe­su­chen­dem.“

Ange­bo­ten wer­den im Netz­werk der ver­wand­ten Orga­ni­sa­tio­nen auch Infor­ma­tio­nen über den frei­wil­li­gen Ver­zicht auf Essen und Trin­ken, wie dies etwa im Huma­nis­ti­schen Ver­band (in den Nie­der­lan­den und teils beim Huma­nis­ti­schen Ver­band Deutsch­lands, sie­he „Ster­be­fas­ten“ zum selbst­be­stimm­ten Lebens­en­de) der Fall ist, ange­rei­chert mit ver­schie­de­nen Vor­sor­ge­mög­lich­kei­ten wie Patienten‑, Freitod‑, Not­fall- oder Betreu­ungs­ver­fü­gun­gen.

Vergabe von „friedlicher Suizidpille“ in den Niederlanden gerichtlich gestoppt

Alle von der CLW als (hier ja ledig­lich nicht-ärzt­li­che!) Koope­ra­ti­ons­part­ner auf­ge­führ­ten Orga­ni­sa­tio­nen haben eine gemein­sa­me Grund­hal­tung: Das Recht auf Leben bedeu­tet nicht eine Pflicht zum Leben. Viel­mehr habe jeder Mensch das Recht – unter Ach­tung des glei­chen Rechts sei­ner Mit­men­schen – gemäß eige­ner Vor­stel­lun­gen von Wür­de auch über den Wert und die Dau­er sei­nes Lebens zu bestim­men. Aller­dings haben Ver­ant­wort­li­che der CLW mit ihrem „Mit­tel X“ zur „voll­au­to­no­men“ Selbst­tö­tung auch in den Nie­der­lan­den den Bogen über­spannt und wur­den nun gericht­lich aus­ge­bremst.

Was­ser­lös­li­ches Sui­zid­mit­tel

Eröff­net wor­den war ein Gerichts­ver­fah­ren gegen zwei ihrer ehe­ma­li­gen Vor­stands­vor­sit­zen­den und fünf wei­te­re Mit­glie­der. Nur die bei­den erst­ge­nann­ten wur­den im Juni (auf Bewäh­rung) ver­ur­teilt, wobei es vor dem Gerichts­ge­bäu­de mehr­fa­che Stö­run­gen mit Sire­nen und Sprech­chö­ren gab (der auto­no­me Bilanz­sui­zid im Alter dürf­te eine Anhän­ger­schaft haben, wel­che die Mehr­heit der nie­der­län­di­schen Gesell­schaft umfasst). Dabei fiel das Straf­maß deut­lich mil­der aus als von der Staats­an­walt­schaft gefor­dert und die CLW als Orga­ni­sa­ti­on selbst war gar nicht Gegen­stand des Ver­fah­rens. Der etwas kom­pli­zier­te Vor­wurf gegen die Ange­klag­ten lau­te­te, eine dies­be­züg­lich legal unzu­läs­sig agie­ren­de Koope­ra­ti­ve zum orga­ni­sier­ten Ver­trieb des töd­lich wir­ken­den Natri­um­sal­zes der Stick­stoff­was­ser­stoff-Säu­re (Natri­um­a­zit NaN3 = „Mit­tel X“) gebil­det und ange­führt zu haben. Dies geht aus der Urteils­be­grün­dung zur vier­mo­na­ti­gen Bewäh­rungs­stra­fe gegen Jos van Wijk her­vor, den Grün­der und frü­he­ren Vor­sit­zen­den der CLW. Sowohl von den bei­den Ver­ur­teil­ten als auch von Sei­ten der Staats­an­walt­schaft wur­de auf Beru­fung ver­zich­tet.

Die Ärz­te­zei­tung vom 4. Juli berich­te­te über den Gerichts­fall. Dem­nach hät­ten ein Mann und eine Frau im Ren­ten­al­ter den Ver­kauf von „min­des­tens ein­tau­send Dosen oder noch mehr samt aller damit ver­bun­de­nen Risi­ken“ an lebens­mü­de Men­schen ermög­licht, wie ein Gericht in Arn­heim befand. Meh­re­re Emp­fän­ger des als „Mit­tel X“ bezeich­ne­ten Prä­pa­rats (auch „die fried­li­che Pil­le“ genannt) hät­ten sich laut Ermitt­lungs­er­geb­nis und Beweis­auf­nah­me auch tat­säch­lich damit umge­bracht. Dar­un­ter sei­en „ver­letz­li­che, rela­tiv jun­ge Men­schen, deren Todes­wunsch nicht völ­lig bestän­dig gewe­sen zu sein schien“, habe der Rich­ter erklärt.

Relativ leichte Bestellbarkeit von Mittel X für ca. 50 Euro

Das Gericht hat­te geur­teilt, die Koope­ra­ti­ve CLW habe zwar ille­ga­len Han­del mit dem Sui­zid­mit­tel Natri­um­azid ermög­licht, dabei aber für ihre Füh­rungs­per­so­nen als erheb­lich straf­min­dernd erkannt: das Ide­al der Auto­no­mie („ide­al of kee­ping the end of life in your own con­trol“) war vor­der­grün­dig – sie wären kei­ne „Händ­ler des Todes“ gewe­sen. Aber: Jos van Wijk als Vor­stand hät­te mehr dafür sor­gen kön­nen und müs­sen, der unkon­trol­lier­ten infor­mel­len Ver­brei­tung von Natri­um­azid (mit bei­gefüg­ter Gebrauchs­an­wei­sung) Ein­halt zu gebie­ten.

Auch für deut­sche Emp­fän­ger war bis­her der Erhalt von „Mit­tel X“ (offen­bar legal in belie­bi­ger Quan­ti­tät) je 0,05 kg Sodium Acid (Sodium ist die eng­li­sche Bezeich­nung für Natri­um) für 38,23 Euro plus tax (Steu­er) und ship­ment (Ver­sand) mög­lich. Das heißt also zu höchs­tens 1 % der Sum­me, die für Sui­zid­hil­fe-Leis­tun­gen von Mit­glie­dern der drei ein­schlä­gi­gen Ver­ei­ne hier­zu­lan­de zu zah­len wäre (an Digni­tas Deutsch­land, Ver­ein Ster­be­hil­fe oder Deut­sche Gesell­schaft für Huma­nes Ster­ben). Es han­delt sich bei „Mit­tel X“ nicht um Medi­ka­ment und de fac­to auch nicht um eine Pil­le. Das in Was­ser auf­zu­lö­sen­de Pul­ver – als dem Zyan­ka­li (= Kali­um­cya­nid) ähn­li­che Sub­stanz – ist nach Ein­nah­me sofort unab­wend­bar töd­lich und wur­de für ein (eini­ger­ma­ßen) huma­nes Ende offen­bar erprobt, wie von CLW bezüg­lich sei­ner Wir­kungs­wei­se aus­führ­lich dar­ge­stellt. Dem­nach bil­de Natri­um­azid nur mit Säu­ren ein gefähr­li­ches Gas und sei aus­schließ­lich in Kon­takt mit Metall explo­siv, hin­ge­gen basisch (in Was­ser auf­ge­löst) geschmacks­neu­tral und auch für Begleit­per­so­nen völ­lig unge­fähr­lich.

Natri­um­azid ist – laut ver­trau­li­cher Infor­ma­ti­on der Autorin – nicht nur in den Nie­der­lan­den rela­tiv leicht bestell­bar gewe­sen: näm­lich unter Anga­be einer Unter­neh­mer-Steu­er­num­mer bei einer pol­ni­schen Fir­ma – Info­quel­le zu deren Adres­se: Nit­sch­kes Forum. Bereits 2011 erschien die deut­sche Über­set­zung des Hand­buchs „The peaceful pill“ unter dem in Deutsch­land ver­käuf­li­chen Titel „Die fried­li­che Pil­le“ – Her­aus­ge­ber: Exit Inter­na­tio­nal, Autoren: Dr. Phil­ip Nit­sch­ke und Dr. Fio­na Ste­wart, die im Vor­wort beto­nen: „Die fried­li­che Pil­le rich­tet sich an alte und unheil­bar kran­ke Men­schen (sowie deren Fami­li­en). … Als Autoren ist uns durch­aus bewusst, dass ein gewis­ses Risi­ko besteht, die­ses Buch könn­te auch in die Hän­de von Men­schen gelan­gen, die nicht zur Ziel­grup­pe gehö­ren. … Aber Alte und Kran­ke haben es ein­fach ver­dient, Zugang zu den hier bereit­ge­stell­ten Infor­ma­tio­nen zu erhal­ten.“

Umstrittene Provokation für eine schöne neue Welt?

Nach­dem nun gegen zwei füh­ren­de Köp­fe ihrer Bewe­gung Bewäh­rungs­stra­fen ver­hängt wor­den sind, wol­len die Akti­vis­ten der nie­der­län­di­schen Koope­ra­ti­ve CLW auf strikt lega­lem Wege für eine libe­ra­le­re Gesetz­ge­bung wei­ter­kämp­fen. Dem­ge­gen­über macht der ehe­ma­li­ge Arzt und seit Jahr­zehn­ten inter­na­tio­nal agie­ren­de Ster­be­hil­fe­ak­ti­vist Phil­ip Nit­sch­ke, der auch als „Dr. Tod“ bezeich­net wird, wei­ter­hin spek­ta­ku­lär auf sich auf­merk­sam. Er tauch­te am 17. Juli in Zürich bei der Prä­sen­ta­ti­on einer umstrit­te­nen Sui­zid­kap­sel auf, deren Ideen­ge­ber und Mit­ge­stal­ter er ist. Bei dem von ihm (in Anleh­nung an den anti­ken Sar­ko­phag) genann­ten „Sar­co“ han­delt es sich um eine aus Plas­tik, Metall und reich­lich Ple­xi­glas astro­nau­tisch anmu­ten­de Kon­struk­ti­on mit Gas­be­häl­ter für Stick­stoff an der Unter­sei­te, das meis­te davon im 3D-Ver­fah­ren ent­wi­ckelt, was den Sar­co welt­weit rela­tiv ein­fach und kos­ten­güns­tig repli­zier­bar machen soll.

Die etwa tru­hen­gro­ße Kap­sel kann leicht zu jedem belie­bi­gen Ort trans­por­tiert wer­den, also auch in die Natur oder eine gewohn­te Umge­bung. Die Sui­zi­den­ten kön­nen sich bequem ein wenig auf­recht dort hin­ein­le­gen, der Glas­de­ckel, der den Blick auch zum Him­mel frei­ge­ben kann, wird luft­dicht ver­schlos­sen. Mit einem Knopf­druck setzt die ster­be­wil­li­ge Per­son das Ein­strö­men des Stick­stoffs in Gang, also in ja gefor­der­ter eige­ner Tat­herr­schaft. Der Gas­aus­tausch geschieht sehr schnell, ein fried­li­cher Tod soll in weni­gen Minu­ten ein­tre­ten. Nit­sch­ke hat­te das­sel­be Ver­fah­ren vor Jah­ren bereits als einen über den Kopf zu zie­hen­den Sui­zid-Plas­tik­beu­tel ent­wi­ckelt, in den der Stick­stoff (oder Heli­um als eben­so soge­nann­tes iner­tes Gas) mit­tels Schlauchs gelei­tet wur­de.

Der Mensch braucht Sau­er­stoff zum Leben, aber Luft besteht ohne­hin zu 78 % aus Stick­stoff und nur zu 21 % aus Sau­er­stoff. So wird im Sar­co – ungleich höher­ent­wi­ckelt als der Plas­tik­beu­tel – der Sau­er­stoff­an­teil sehr schnell nahe­zu voll­stän­dig ver­drängt. Dies führt nach weni­gen Atem­zü­gen (unmerk­lich nicht nur ohne irgend­ei­ne Beschwer­nis, son­dern manch­mal sogar leicht eupho­ri­sie­rend) zur Bewusst­lo­sig­keit. Der rei­ne Stick­stoff­an­teil ver­drängt gleich­zei­tig das Koh­len­di­oxid, was für die Ersti­ckungs­sym­pto­me ursäch­lich wäre.

Die unge­trübt urteils­fä­hi­gen Ster­be­wil­li­gen (plä­diert wird inzwi­schen für den huma­nen Frei­tod ab 50 Jah­ren, unab­hän­gig vom Gesund­heits­zu­stand) haben laut Nit­sch­ke vor­her drei Fra­gen zu beant­wor­ten: Wer sind Sie? Wo sind Sie? Wis­sen Sie, was pas­siert, wenn Sie den Knopf drü­cken?

Kon­zi­piert und gestar­tet war das Pro­jekt bereits 2012. Seit­her soll es für For­schung und Ent­wick­lung über 650.000 Euro ver­schlun­gen haben – offen­bar wohl­tä­tig finan­ziert durch hoch­po­ten­te Geld­ge­ber. Zukünf­ti­ge Sar­cos wür­den rund 15.000 Euro pro Stück kos­ten, inklu­si­ve Innen­aus­stat­tung. Eigen­nüt­zi­ge Kos­ter­er­wä­gun­gen kann man dem Arzt Dr. Nit­sch­ke nicht unter­stel­len. Doch er ist offen­sicht­lich von sei­ner Mis­si­on beses­sen, einen selbst­be­stimm­ten Frei­tod für alle zu ermög­li­chen.

Bild: Wiki­me­dia Commons/Ratel | CC BY-SA 4.0 Inter­na­tio­nal

Sui­zid­kap­sel „Sar­co“, 2019

Avantgardistischer Freitod als „Wendepunkt“ in der Menschheitsgeschichte?

Die soeben neu in der Schweiz gegrün­de­te „Right-to-die“-Organisation The Last Resort (= Letz­ter „Aus­weg“, aber auch „Erho­lungs­ort“) soll ein­zig und allein für den Ein­satz des Sar­co zustän­dig sein, aber akzep­tiert wer­den Sui­zid­wil­li­ge aus aller Welt. Weil Men­schen in Not unab­hän­gig von ihrer finan­zi­el­len Lage sol­che Vor­rich­tun­gen zugäng­lich gemacht wer­den sol­len, wer­den auch die Nut­zer und Nut­ze­rin­nen des Sar­co ledig­lich für den (frei ver­käuf­li­chen) Stick­stoff zu etwa 18 Fran­ken auf­zu­kom­men haben, so Fio­la Stuart auf einer Pres­se­kon­fe­renz in Zürich als Ver­tre­te­rin von The Last Resort. Aller­dings müs­sen sie nicht uner­heb­li­che Neben­kos­ten auf­brin­gen, vor allem für ein zu orga­ni­sie­ren­des Bestat­tungs­un­ter­neh­men, das ihren Leich­nam birgt und dann ein­äschert.

Bei die­ser selbst­er­nann­ten „jüngs­ten Schwei­zer Men­schen­rechts­or­ga­ni­sa­ti­on“ mit dem Ziel, das huma­ne selbst­be­stimm­te Ster­ben nach­hal­tig zu diver­si­fi­zie­ren, soll Nit­sch­ke ledig­lich eine bera­ten­de Rol­le spie­len. Das Füh­rungs­team von The Last Resort besteht viel­mehr aus sei­ner Lebens­part­ne­rin Fio­na Ste­wart als Vor­sit­zen­de und dem Deutsch-Schwei­zer Flo­ri­an Wil­let (47). Wil­let war ehe­mals Pres­se­spre­cher der tra­di­ti­ons­rei­chen Ster­be­hil­fe­or­ga­ni­sa­ti­on Digni­tas – Men­schen­wür­dig leben – Men­schen­wür­dig ster­ben. Deren Gebüh­ren von bis ins­ge­samt cir­ca 10.000 Fran­ken für aus­län­di­sche Sui­zi­den­ten fin­det er nicht mehr nach­voll­zieh­bar. Nun ist auf der pop­pig auf­ge­mach­ten Inter­net­sei­te der von ihm als Co-Vor­sit­zen­dem ver­tre­te­nen Alter­na­ti­ve groß­spu­rig zu lesen:

„Als Hei­mat der 3D-gedruck­ten Sar­co-Kap­sel bie­tet The Last Resort ein dro­gen­frei­es Mit­tel für einen elek­ti­ven, fried­li­chen und wür­de­vol­len Tod. Die Nut­zung des Sar­co ist für zuge­las­se­ne Benut­zer kos­ten­los*. Ein guter Tod ist ein grund­le­gen­des Men­schen­recht. … Der Sar­co mar­kiert einen Wen­de­punkt in der Geschich­te des Todes und des Ster­bens.“

Zuge­las­sen sol­len alle Benut­zer sein, bei denen Sui­zid­hil­fe nach Schwei­zer Recht zuläs­sig ist. Die Finan­zie­rung soll durch Spen­den, Ver­mächt­nis­se und För­der­bei­trä­ge erfol­gen. Doch der Tod in der avant­gar­dis­ti­schen Kap­sel erhitzt auch in der Schweiz die Gemü­ter und eröff­net neue Debat­ten.

Verbotsandrohungen, bleibende Bedenken und neue Fragen

Trotz der Behaup­tung der Betrei­ber, gar kei­ne Geneh­mi­gung zu benö­ti­gen, blei­ben offe­ne Fra­gen zu recht­li­chen Hin­der­nis­sen und wer­den ethi­sche und medi­zi­ni­sche Beden­ken gegen ein – man­chen als maka­ber erschei­nen­des – „Game over“ per Knopf­druck laut. Dabei gehört Sui­zid durch Frei­tod­hil­fe in der Schweiz zur gesell­schaft­li­chen Nor­ma­li­tät (im Gegen­satz zu Deutsch­land, wo sie jedoch auch erlaubt ist). Die eta­blier­ten Ster­be­hil­fe­or­ga­ni­sa­tio­nen wie etwa der dort mit­glie­der­stärks­te Ver­ein EXIT leh­nen neue tech­no­lo­gi­sche Alter­na­ti­ven ab, die auf ärzt­lich ver­schrei­bungs­pflich­ti­ge Mit­tel wie das dort gebräuch­li­che Bar­bi­tu­rat Natri­um-Pent­o­bar­bi­tal ver­zich­ten.

Ent­ge­gen öffent­li­cher Ankün­di­gung konn­te der Sar­co in der Schweiz bis­her nicht zum Ein­satz kom­men. Mit­te Juli hät­te eigent­lich der ers­te Mensch mit­hil­fe der Sui­zid­kap­sel medi­al beglei­tet aus dem Leben schei­den sol­len. Doch die Pre­mie­re ist geplatzt, vor allem wohl auf­grund staats­an­walt­schaft­li­cher sowie behörd­li­cher Gegen­wehr in den Kan­to­nen Schaff­hau­sen und Wal­lis. Zudem beschwer­te sich die dafür vor­ge­se­he­ne Dia­ly­se­pa­ti­en­tin, eine US-Bür­ge­rin namens Jes­si­ca Cam­pell (55), in einem hin­ter­las­se­nen und der NZZ vor­lie­gen­den Brief über die Betrei­ber. Die anschei­nend mit­tel­los gewor­de­ne und ent­täusch­te ers­te Sar­co-Kan­di­da­tin ist statt­des­sen mit­hil­fe einer tra­di­tio­nel­len Schwei­zer Ster­be­hil­fe­or­ga­ni­sa­ti­on gestor­ben, die sich ihrer kurz­fris­tig ange­nom­men hat­te. Cam­pells erho­be­ne Vor­wür­fe gegen The Last Resort wur­den inzwi­schen als in sich wider­sprüch­li­che Aus­sa­gen ent­kräf­tet, wie in der Zei­tung Blick nach­zu­le­sen ist.

Den­noch steht die Gefahr im Raum, die „Sar­co-Show“ gefähr­de in der Schweiz gar die Errun­gen­schaf­ten der recht­lich abge­si­cher­ten und bewähr­ten Pra­xis von mensch­lich beglei­te­ten Sui­zi­den. In Deutsch­land mag man sich an Roger Kusch mit sei­ner 2008 öffent­li­chen Prä­sen­ta­ti­on eines als „Selbst­tö­tungs­ma­schi­ne“ kon­stru­ier­ten Injek­ti­ons­ap­pa­ra­tes erin­nern. Trug nicht die­se Insze­nie­rung (sie­ben Jah­re spä­ter) noch maß­geb­lich zur restrik­ti­ven Gesetz­ge­bung durch einen neu­en § 217 StGB bei – der Para­graph, der erst 2020 wie­der vom Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt für nich­tig erklärt wur­de? Jeden­falls gerät der­zeit nicht nur inter­na­tio­nal, son­dern auch in Deutsch­land eini­ges in Bewe­gung. Dabei käme es hier­zu­lan­de dar­auf an, mit­tels recht­li­cher Rah­men­be­din­gun­gen die Sui­zid­hil­fe durch Ärz­tin­nen und Ärz­te in bestehen­den Behand­lungs­ver­hält­nis­sen für ihre Pati­en­ten zu prio­ri­sie­ren. Einig­keit besteht mit den eta­blier­ten Ver­ei­nen für Huma­nes Ster­ben und Sui­zid­hil­fe dar­in, dass insze­nier­te Pro­vo­ka­tio­nen zu „voll­au­to­no­men“ Selbst­tö­tun­gen fehl am Platz und eher kon­tra­pro­duk­tiv sind. Hin­ge­gen ist die Rol­le von Stif­tun­gen, Orga­ni­sa­tio­nen und Initia­ti­ven, wie sie hier aus den Nie­der­lan­den vor­ge­stellt wer­den, völ­lig offen und in unse­rem Land noch unbe­kannt. Wer soll­te eine sol­che Lücke der Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on, kom­bi­niert mit huma­nis­ti­schen Bera­tungs- und Gesprächs­an­ge­bo­ten, aus­fül­len kön­nen und wol­len?

Inhalt teilen

Kommentar verfassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Meistgelesen

Ähnliche Beiträge

EHSN London 2024
European Humanist Services Network
Gemeinsam Zukunft gestalten: Internationales Humanist*innentreffen in London
Das Treffen der Steering Group des Netzwerkes EHSN (European Humanist Service Network) brachte im November Humanist*innen aus 11 Ländern in London zusammen. Ein persönlicher Bericht von Katrin Raczynski, Bundesvorstandsmitglied des Humanistischen Verbandes Deutschlands.
Beitrag lesen »
Katrin Raczynski (Humanistischer Verband Deutschlands – Bundesverband) am 13. November 2024 auf der Veranstaltung „Frauenrecht und Fötenschutz!“ in Berlin
Gemengelage zum Schwangerschaftsabbruch am Regierungsende
Weg mit dem Makel der Sittenwidrigkeit im § 218 StGB
Parallel zur Veranstaltung „Frauenrecht und Fötenschutz!“ am 13. November in Berlin sowie zu Demonstrationsaufrufen „Abtreibung legalisieren – jetzt“ wurde bekannt, dass ein Gesetzentwurf einer Gruppe von Bundestagsabgeordneten vorliegt. Sie will die Regelungen zum Schwangerschaftsabbruch noch in dieser Legislatur aus dem Strafgesetzbuch herausnehmen und in ein Sondergesetz überführen – gegen angekündigten massiven Widerstand der Union. Dabei steht ihr sehr moderater Gruppenantrag hinter den teils deutlich weitergehenden Reformvorschlägen aus der Zivilgesellschaft zurück. Der Humanistische Verband Deutschlands sieht sich herausgefordert, die zugrundeliegenden Ansätze zu analysieren und zu sortieren.
Beitrag lesen »
Tafel an der Stele im Waldfriedhof
Auf dem Waldbestattungshain des HVD Niedersachsen in Garbsen
Gedanken zum Totensonntag
Auf Einladung des HVD Niedersachsen sprach Erwin Kress, Vorstandssprecher des Humanistischen Verbandes Deutschlands – Bundesverband, bei der letztjährigen Gedenkfeier zum Totensonntag auf dem Bestattungshain Leineaue in Garbsen bei Hannover. Anlässlich des diesjährigen Totensonntags am 24. November dokumentieren wir die Trauerrede vom 26. November 2023.
Beitrag lesen »
Nach oben scrollen