Der australische Arzt Philip Nitschke (77) wohnt inzwischen in den Niederlanden, gemeinsam mit seiner ebenfalls aus Australien stammenden Lebenspartnerin und Mitstreiterin Fiona Stewart (58). Auf dem Foto ist er – rechts mit rotem Halstuch – auf einer Demonstration in Arnheim neben Demonstranten der Seniorenkooperative CLW (Coöperatie Laatste wil) zu sehen. Auf den Transparenten steht der Slogan: „Baas over eigen sterven“ (Baas = Boss, übersetzt auch: Regie über das eigene Sterben). CLW fordert die zukünftige Zulassung eines zuverlässigen „Mittel X“ zumindest für über 75-jährige Freitodwillige und möchte damit den Weg bereiten zu einem „vollautonomen“ Lebensende. Dies mag zunächst erstaunen, da in den Niederlanden ja sowohl Tötung auf Verlangen als auch Suizidhilfe bei unerträglichem Leiden (dort allgemein „Euthanasie“ genannt) bereits seit 2001 erlaubt ist – allerdings nur, wenn sie von einem Arzt oder einer Ärztin durchgeführt werden! Die dort geltende Euthanasiegesetzgebung verbietet zudem (ebenfalls anders als in Deutschland), Menschen, sofern sie nicht schwerstkrank sind, bei der Herbeiführung ihres eigenen Todes zu helfen.
Nicht-medizinische Suizidmethoden und entbürokratisierte Nutzung
Diese Regelung reicht den CLW-Aktivisten heute längst nicht mehr. Ihr Ziel ist genau dasselbe wie das Ziel des missionarisch engagierten Dr. Philip Nitschke und seiner Organisation Exit International – die keinesfalls zu verwechseln ist mit namensähnlichen etablierten Sterbehilfevereinen, zu denen keine Verbindung besteht. Vielmehr in Opposition zu diesen Sterbehilfevereinen geht es Nitschke und seinen Mitstreitenden darum, neue Suizidmethoden nahezu kostenlos und regulierungsfrei anzubieten und zumindest für Freitodwillige ab einem gewissen Alter unbürokratisch nutzbar zu machen: ohne (verschreibungspflichtige) Medikamente, ohne ärztliche Assistenz, ohne den nötigen Rechtsbeistand, ohne die Vermittlung durch herkömmliche Organisationen zum Humanen Sterben oder zur Suizidhilfe, ohne dort bei vorausgesetzter Vereinsmitgliedschaft zu zahlender Summe (von 4.000 Euro aufwärts) für einen dann erst ermöglichten selbstbestimmten Tod.
In der vor zwölf Jahren gegründeten niederländische Kooperative CLW sind knapp 30.000 Fördermitglieder/Unterstützende und Organisierte v.a. in den lokalen Kleingruppen registriert (hochgerechnet auf die deutsche Bevölkerungszahl wären das ca. 150.000). Als eindeutige Agenda gilt eine „vollautonome Route“ („Boss des eigenen Sterbens“) für freiverantwortliche Menschen im Seniorenalter, die eine eventuelle zukünftige Selbsttötung in Erwägung ziehen – in der Regel für später einmal dann aufgrund von Lebenssattheit (oft nach einer als gelungen bewerteten Biografie), von Erkrankung oder Behinderung, empfundener Vereinsamung, rationaler Bilanzierung oder begründeter Angst vor schwerer Pflegebedürftigkeit und Demenz. Dafür möchten sie genossenschaftlich organisiert Vorsorge treffen – auch zwecks aktuellem Erhalt einer möglichst nicht weiter von Zukunftssorgen getrübten Lebensqualität.
Es wäre unangemessen, von CLW als einer bloßen „Rentner-Truppe“ auszugehen, sondern es handelt sich eher um eine professionell geführte Organisation von Kadern mit aktivistischem Selbsthilfe-Verständnis: Sie haben als Kooperative einige (privat sich zusammenfindende) Bestellgruppen für ein chemisch tödlich wirkendes „Mittel X“ organisiert, führen Veranstaltungen und Demonstrationen durch, üben politischen Druck auch durch Gerichtsverfahren aus, halten größere hybride Delegiertenversammlungen ab. Treffen in kleinen Kreisen zu sechs bis acht Personen sollen dem offenherzigen Erfahrungsaustausch, dem Kennenlernen, der Geselligkeit oder zu guter Letzt auch der Suizidanleitung mit Hilfe von Informationsmaterialien dienen.
Netzwerk in den Niederlanden für humanes Lebensende und guten Tod
Als ihr Anliegen ergänzende, „verwandte“ Organisationen werden auf der CLW-Internetseite genannt: die NVVE (Niederländische Vereinigung für freiwilliges Lebensende), eine Stiftung für Sterbebegleitung (als hospizliche Alternative zu ärztlicher Euthanasie und Suizid), eine Stiftung des Psychiaters Boudewijn Chabot, der Humanistisch Verbond (Projekt „Letzte Lebensphase“ des niederländischen Humanistischen Verbandes) sowie eine Stiftung namens De Einder. Letztere hat ein ganz spezielles Konzept entwickelt: Vermittelt werden an beliebigen Gesprächsorten Berater und Beraterinnen in selbstständiger Tätigkeit, die einschlägige Fragen beantworten können und dabei für alle persönlichen Anliegen und Umstände ein „offenes Ohr“ haben. Sie führen die ihnen anvertraute Aufgabe selbstständig aus, wobei die Hilfesuchenden mit ihnen über anfallende Kostenerstattungen jeweils Vereinbarungen treffen.
Die fachliche und ethische Qualifikation der Berater und Beraterinnen wird laut De Einder durch Schulungen, Thementage, Inter- und Supervision gefördert, aufrechterhalten sowie beständig vertieft. Jede zu vermittelnde Person habe eine Vereinbarung zu unterzeichnen, wonach sie sich verpflichtet, die Sorgfaltskriterien der Stiftung und deren ausführliche Betreuungsstandards einzuhalten. Diese werden für Interessenten und mögliche Klienten auf der Website von De Einder folgendermaßen auf den Punkt gebracht: „Ziel der Beratung durch die Beraterin oder den Berater ist es, im Gespräch mit Ihnen als Hilfesuchender zu einer wohlüberlegten Entscheidung und einer möglichst sorgfältigen Umsetzung zu gelangen. In welche Richtung diese Entscheidung letztendlich gehen wird und wann dies der Fall sein wird, liegt also ganz bei Ihnen als Hilfesuchendem.“
Angeboten werden im Netzwerk der verwandten Organisationen auch Informationen über den freiwilligen Verzicht auf Essen und Trinken, wie dies etwa im Humanistischen Verband (in den Niederlanden und teils beim Humanistischen Verband Deutschlands, siehe „Sterbefasten“ zum selbstbestimmten Lebensende) der Fall ist, angereichert mit verschiedenen Vorsorgemöglichkeiten wie Patienten‑, Freitod‑, Notfall- oder Betreuungsverfügungen.
Vergabe von „friedlicher Suizidpille“ in den Niederlanden gerichtlich gestoppt
Alle von der CLW als (hier ja lediglich nicht-ärztliche!) Kooperationspartner aufgeführten Organisationen haben eine gemeinsame Grundhaltung: Das Recht auf Leben bedeutet nicht eine Pflicht zum Leben. Vielmehr habe jeder Mensch das Recht – unter Achtung des gleichen Rechts seiner Mitmenschen – gemäß eigener Vorstellungen von Würde auch über den Wert und die Dauer seines Lebens zu bestimmen. Allerdings haben Verantwortliche der CLW mit ihrem „Mittel X“ zur „vollautonomen“ Selbsttötung auch in den Niederlanden den Bogen überspannt und wurden nun gerichtlich ausgebremst.
Wasserlösliches Suizidmittel
Eröffnet worden war ein Gerichtsverfahren gegen zwei ihrer ehemaligen Vorstandsvorsitzenden und fünf weitere Mitglieder. Nur die beiden erstgenannten wurden im Juni (auf Bewährung) verurteilt, wobei es vor dem Gerichtsgebäude mehrfache Störungen mit Sirenen und Sprechchören gab (der autonome Bilanzsuizid im Alter dürfte eine Anhängerschaft haben, welche die Mehrheit der niederländischen Gesellschaft umfasst). Dabei fiel das Strafmaß deutlich milder aus als von der Staatsanwaltschaft gefordert und die CLW als Organisation selbst war gar nicht Gegenstand des Verfahrens. Der etwas komplizierte Vorwurf gegen die Angeklagten lautete, eine diesbezüglich legal unzulässig agierende Kooperative zum organisierten Vertrieb des tödlich wirkenden Natriumsalzes der Stickstoffwasserstoff-Säure (Natriumazit NaN3 = „Mittel X“) gebildet und angeführt zu haben. Dies geht aus der Urteilsbegründung zur viermonatigen Bewährungsstrafe gegen Jos van Wijk hervor, den Gründer und früheren Vorsitzenden der CLW. Sowohl von den beiden Verurteilten als auch von Seiten der Staatsanwaltschaft wurde auf Berufung verzichtet.
Die Ärztezeitung vom 4. Juli berichtete über den Gerichtsfall. Demnach hätten ein Mann und eine Frau im Rentenalter den Verkauf von „mindestens eintausend Dosen oder noch mehr samt aller damit verbundenen Risiken“ an lebensmüde Menschen ermöglicht, wie ein Gericht in Arnheim befand. Mehrere Empfänger des als „Mittel X“ bezeichneten Präparats (auch „die friedliche Pille“ genannt) hätten sich laut Ermittlungsergebnis und Beweisaufnahme auch tatsächlich damit umgebracht. Darunter seien „verletzliche, relativ junge Menschen, deren Todeswunsch nicht völlig beständig gewesen zu sein schien“, habe der Richter erklärt.
Relativ leichte Bestellbarkeit von Mittel X für ca. 50 Euro
Das Gericht hatte geurteilt, die Kooperative CLW habe zwar illegalen Handel mit dem Suizidmittel Natriumazid ermöglicht, dabei aber für ihre Führungspersonen als erheblich strafmindernd erkannt: das Ideal der Autonomie („ideal of keeping the end of life in your own control“) war vordergründig – sie wären keine „Händler des Todes“ gewesen. Aber: Jos van Wijk als Vorstand hätte mehr dafür sorgen können und müssen, der unkontrollierten informellen Verbreitung von Natriumazid (mit beigefügter Gebrauchsanweisung) Einhalt zu gebieten.
Auch für deutsche Empfänger war bisher der Erhalt von „Mittel X“ (offenbar legal in beliebiger Quantität) je 0,05 kg Sodium Acid (Sodium ist die englische Bezeichnung für Natrium) für 38,23 Euro plus tax (Steuer) und shipment (Versand) möglich. Das heißt also zu höchstens 1 % der Summe, die für Suizidhilfe-Leistungen von Mitgliedern der drei einschlägigen Vereine hierzulande zu zahlen wäre (an Dignitas Deutschland, Verein Sterbehilfe oder Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben). Es handelt sich bei „Mittel X“ nicht um Medikament und de facto auch nicht um eine Pille. Das in Wasser aufzulösende Pulver – als dem Zyankali (= Kaliumcyanid) ähnliche Substanz – ist nach Einnahme sofort unabwendbar tödlich und wurde für ein (einigermaßen) humanes Ende offenbar erprobt, wie von CLW bezüglich seiner Wirkungsweise ausführlich dargestellt. Demnach bilde Natriumazid nur mit Säuren ein gefährliches Gas und sei ausschließlich in Kontakt mit Metall explosiv, hingegen basisch (in Wasser aufgelöst) geschmacksneutral und auch für Begleitpersonen völlig ungefährlich.
Natriumazid ist – laut vertraulicher Information der Autorin – nicht nur in den Niederlanden relativ leicht bestellbar gewesen: nämlich unter Angabe einer Unternehmer-Steuernummer bei einer polnischen Firma – Infoquelle zu deren Adresse: Nitschkes Forum. Bereits 2011 erschien die deutsche Übersetzung des Handbuchs „The peaceful pill“ unter dem in Deutschland verkäuflichen Titel „Die friedliche Pille“ – Herausgeber: Exit International, Autoren: Dr. Philip Nitschke und Dr. Fiona Stewart, die im Vorwort betonen: „Die friedliche Pille richtet sich an alte und unheilbar kranke Menschen (sowie deren Familien). … Als Autoren ist uns durchaus bewusst, dass ein gewisses Risiko besteht, dieses Buch könnte auch in die Hände von Menschen gelangen, die nicht zur Zielgruppe gehören. … Aber Alte und Kranke haben es einfach verdient, Zugang zu den hier bereitgestellten Informationen zu erhalten.“
Umstrittene Provokation für eine schöne neue Welt?
Nachdem nun gegen zwei führende Köpfe ihrer Bewegung Bewährungsstrafen verhängt worden sind, wollen die Aktivisten der niederländischen Kooperative CLW auf strikt legalem Wege für eine liberalere Gesetzgebung weiterkämpfen. Demgegenüber macht der ehemalige Arzt und seit Jahrzehnten international agierende Sterbehilfeaktivist Philip Nitschke, der auch als „Dr. Tod“ bezeichnet wird, weiterhin spektakulär auf sich aufmerksam. Er tauchte am 17. Juli in Zürich bei der Präsentation einer umstrittenen Suizidkapsel auf, deren Ideengeber und Mitgestalter er ist. Bei dem von ihm (in Anlehnung an den antiken Sarkophag) genannten „Sarco“ handelt es sich um eine aus Plastik, Metall und reichlich Plexiglas astronautisch anmutende Konstruktion mit Gasbehälter für Stickstoff an der Unterseite, das meiste davon im 3D-Verfahren entwickelt, was den Sarco weltweit relativ einfach und kostengünstig replizierbar machen soll.
Die etwa truhengroße Kapsel kann leicht zu jedem beliebigen Ort transportiert werden, also auch in die Natur oder eine gewohnte Umgebung. Die Suizidenten können sich bequem ein wenig aufrecht dort hineinlegen, der Glasdeckel, der den Blick auch zum Himmel freigeben kann, wird luftdicht verschlossen. Mit einem Knopfdruck setzt die sterbewillige Person das Einströmen des Stickstoffs in Gang, also in ja geforderter eigener Tatherrschaft. Der Gasaustausch geschieht sehr schnell, ein friedlicher Tod soll in wenigen Minuten eintreten. Nitschke hatte dasselbe Verfahren vor Jahren bereits als einen über den Kopf zu ziehenden Suizid-Plastikbeutel entwickelt, in den der Stickstoff (oder Helium als ebenso sogenanntes inertes Gas) mittels Schlauchs geleitet wurde.
Der Mensch braucht Sauerstoff zum Leben, aber Luft besteht ohnehin zu 78 % aus Stickstoff und nur zu 21 % aus Sauerstoff. So wird im Sarco – ungleich höherentwickelt als der Plastikbeutel – der Sauerstoffanteil sehr schnell nahezu vollständig verdrängt. Dies führt nach wenigen Atemzügen (unmerklich nicht nur ohne irgendeine Beschwernis, sondern manchmal sogar leicht euphorisierend) zur Bewusstlosigkeit. Der reine Stickstoffanteil verdrängt gleichzeitig das Kohlendioxid, was für die Erstickungssymptome ursächlich wäre.
Die ungetrübt urteilsfähigen Sterbewilligen (plädiert wird inzwischen für den humanen Freitod ab 50 Jahren, unabhängig vom Gesundheitszustand) haben laut Nitschke vorher drei Fragen zu beantworten: Wer sind Sie? Wo sind Sie? Wissen Sie, was passiert, wenn Sie den Knopf drücken?
Konzipiert und gestartet war das Projekt bereits 2012. Seither soll es für Forschung und Entwicklung über 650.000 Euro verschlungen haben – offenbar wohltätig finanziert durch hochpotente Geldgeber. Zukünftige Sarcos würden rund 15.000 Euro pro Stück kosten, inklusive Innenausstattung. Eigennützige Kostererwägungen kann man dem Arzt Dr. Nitschke nicht unterstellen. Doch er ist offensichtlich von seiner Mission besessen, einen selbstbestimmten Freitod für alle zu ermöglichen.
Suizidkapsel „Sarco“, 2019
Avantgardistischer Freitod als „Wendepunkt“ in der Menschheitsgeschichte?
Die soeben neu in der Schweiz gegründete „Right-to-die“-Organisation The Last Resort (= Letzter „Ausweg“, aber auch „Erholungsort“) soll einzig und allein für den Einsatz des Sarco zuständig sein, aber akzeptiert werden Suizidwillige aus aller Welt. Weil Menschen in Not unabhängig von ihrer finanziellen Lage solche Vorrichtungen zugänglich gemacht werden sollen, werden auch die Nutzer und Nutzerinnen des Sarco lediglich für den (frei verkäuflichen) Stickstoff zu etwa 18 Franken aufzukommen haben, so Fiola Stuart auf einer Pressekonferenz in Zürich als Vertreterin von The Last Resort. Allerdings müssen sie nicht unerhebliche Nebenkosten aufbringen, vor allem für ein zu organisierendes Bestattungsunternehmen, das ihren Leichnam birgt und dann einäschert.
Bei dieser selbsternannten „jüngsten Schweizer Menschenrechtsorganisation“ mit dem Ziel, das humane selbstbestimmte Sterben nachhaltig zu diversifizieren, soll Nitschke lediglich eine beratende Rolle spielen. Das Führungsteam von The Last Resort besteht vielmehr aus seiner Lebenspartnerin Fiona Stewart als Vorsitzende und dem Deutsch-Schweizer Florian Willet (47). Willet war ehemals Pressesprecher der traditionsreichen Sterbehilfeorganisation Dignitas – Menschenwürdig leben – Menschenwürdig sterben. Deren Gebühren von bis insgesamt circa 10.000 Franken für ausländische Suizidenten findet er nicht mehr nachvollziehbar. Nun ist auf der poppig aufgemachten Internetseite der von ihm als Co-Vorsitzendem vertretenen Alternative großspurig zu lesen:
„Als Heimat der 3D-gedruckten Sarco-Kapsel bietet The Last Resort ein drogenfreies Mittel für einen elektiven, friedlichen und würdevollen Tod. Die Nutzung des Sarco ist für zugelassene Benutzer kostenlos*. Ein guter Tod ist ein grundlegendes Menschenrecht. … Der Sarco markiert einen Wendepunkt in der Geschichte des Todes und des Sterbens.“
Zugelassen sollen alle Benutzer sein, bei denen Suizidhilfe nach Schweizer Recht zulässig ist. Die Finanzierung soll durch Spenden, Vermächtnisse und Förderbeiträge erfolgen. Doch der Tod in der avantgardistischen Kapsel erhitzt auch in der Schweiz die Gemüter und eröffnet neue Debatten.
Verbotsandrohungen, bleibende Bedenken und neue Fragen
Trotz der Behauptung der Betreiber, gar keine Genehmigung zu benötigen, bleiben offene Fragen zu rechtlichen Hindernissen und werden ethische und medizinische Bedenken gegen ein – manchen als makaber erscheinendes – „Game over“ per Knopfdruck laut. Dabei gehört Suizid durch Freitodhilfe in der Schweiz zur gesellschaftlichen Normalität (im Gegensatz zu Deutschland, wo sie jedoch auch erlaubt ist). Die etablierten Sterbehilfeorganisationen wie etwa der dort mitgliederstärkste Verein EXIT lehnen neue technologische Alternativen ab, die auf ärztlich verschreibungspflichtige Mittel wie das dort gebräuchliche Barbiturat Natrium-Pentobarbital verzichten.
Entgegen öffentlicher Ankündigung konnte der Sarco in der Schweiz bisher nicht zum Einsatz kommen. Mitte Juli hätte eigentlich der erste Mensch mithilfe der Suizidkapsel medial begleitet aus dem Leben scheiden sollen. Doch die Premiere ist geplatzt, vor allem wohl aufgrund staatsanwaltschaftlicher sowie behördlicher Gegenwehr in den Kantonen Schaffhausen und Wallis. Zudem beschwerte sich die dafür vorgesehene Dialysepatientin, eine US-Bürgerin namens Jessica Campell (55), in einem hinterlassenen und der NZZ vorliegenden Brief über die Betreiber. Die anscheinend mittellos gewordene und enttäuschte erste Sarco-Kandidatin ist stattdessen mithilfe einer traditionellen Schweizer Sterbehilfeorganisation gestorben, die sich ihrer kurzfristig angenommen hatte. Campells erhobene Vorwürfe gegen The Last Resort wurden inzwischen als in sich widersprüchliche Aussagen entkräftet, wie in der Zeitung Blick nachzulesen ist.
Dennoch steht die Gefahr im Raum, die „Sarco-Show“ gefährde in der Schweiz gar die Errungenschaften der rechtlich abgesicherten und bewährten Praxis von menschlich begleiteten Suiziden. In Deutschland mag man sich an Roger Kusch mit seiner 2008 öffentlichen Präsentation eines als „Selbsttötungsmaschine“ konstruierten Injektionsapparates erinnern. Trug nicht diese Inszenierung (sieben Jahre später) noch maßgeblich zur restriktiven Gesetzgebung durch einen neuen § 217 StGB bei – der Paragraph, der erst 2020 wieder vom Bundesverfassungsgericht für nichtig erklärt wurde? Jedenfalls gerät derzeit nicht nur international, sondern auch in Deutschland einiges in Bewegung. Dabei käme es hierzulande darauf an, mittels rechtlicher Rahmenbedingungen die Suizidhilfe durch Ärztinnen und Ärzte in bestehenden Behandlungsverhältnissen für ihre Patienten zu priorisieren. Einigkeit besteht mit den etablierten Vereinen für Humanes Sterben und Suizidhilfe darin, dass inszenierte Provokationen zu „vollautonomen“ Selbsttötungen fehl am Platz und eher kontraproduktiv sind. Hingegen ist die Rolle von Stiftungen, Organisationen und Initiativen, wie sie hier aus den Niederlanden vorgestellt werden, völlig offen und in unserem Land noch unbekannt. Wer sollte eine solche Lücke der Selbstorganisation, kombiniert mit humanistischen Beratungs- und Gesprächsangeboten, ausfüllen können und wollen?