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Zur deutschen und europäischen Flüchtlingspolitik

Menschenrechte gelten nicht nur ab und zu!

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Beitragsbild: University of Essex | CC BY 2.0 Generic

Die bürgerlichen Parteien konnten einmal Demokratie. Jetzt laufen sie Gefahr, ihren Anspruch zu verlieren. Sie sollten die Menschenrechte noch einmal studieren. Menschenrechte gelten nicht nur ab und zu! Und die Menschenrechte gelten für alle! Man kann sich nicht aussuchen, für wen sie gelten sollen.

„Men­schen­rech­te gel­ten nicht nur ab und zu.“ Die­ses Mot­to von Pro Asyl zum Tag des Flücht­lings am 27. Sep­tem­ber sei den bür­ger­li­chen Par­tei­en hier­zu­lan­de ins Stamm­buch geschrie­ben. Gera­de jetzt stei­gert sich die deut­sche und euro­päi­sche Flücht­lings­po­li­tik wie­der zu mas­si­ven Angrif­fen auf das Recht, in Deutsch­land oder ande­ren euro­päi­schen Län­dern Schutz zu suchen.

Es geht bei die­ser erneu­ten poli­ti­schen Hys­te­rie gar nicht mehr um Flücht­lin­ge, um Schutz­be­dürf­ti­ge. Es geht um „unse­re“ Befind­lich­kei­ten. In etli­chen euro­päi­schen Staa­ten geht es um dif­fu­se Bedro­hungs­ängs­te, bei uns ins­be­son­de­re im Osten des Lan­des. Dort gibt es zwar weni­ge Flücht­lin­ge und wenig Bedro­hung durch Migran­ten, aber vie­le Bürger*innen machen sich die Schre­ckens­sze­na­ri­en und die Het­ze der AfD zu eigen.[1]

Für die bür­ger­li­chen Par­tei­en sind die Anschlä­ge von Migran­ten, die sich an isla­mis­ti­schen Ideo­lo­gien und Vor­bil­dern ori­en­tie­ren, aktu­ell ein will­kom­me­ner Anlass, das Recht auf Asyl und Schutz von Flücht­lin­gen mas­siv ein­zu­schrän­ken und sich damit den Wähler*innen als die bes­se­re Alter­na­ti­ve für Deutsch­land anzu­bie­dern. Aber natür­lich bleibt das ein Abklatsch der selbst­er­nann­ten Alter­na­ti­ve. Die muss näm­lich (noch) nicht regie­ren und kann immer noch etwas drauf­sat­teln: ‚Wir las­sen nicht nur kei­nen mehr rein, son­dern schmei­ßen auch alle wie­der raus.‘

Ver­ant­wor­tungs­vol­le Politiker*innen müss­ten eigent­lich dem Popu­lis­mus wider­ste­hen und laut und stand­haft dar­auf hin­wei­sen, wel­cher Unsinn mit einer sol­chen ras­sis­ti­schen und natio­na­lis­ti­schen Poli­tik ver­bun­den ist. Sol­che Hin­wei­se kom­men jedoch eher aus Indus­trie und Hand­werk. Unse­re Politiker*innen dage­gen üben sich in Stamm­tisch­pa­ro­len übels­ter Sor­te.

Wo bleibt eine ruhi­ge Ana­ly­se der Lage und der Reak­ti­ons­mög­lich­kei­ten? Die Flücht­lings­zah­len sind in den letz­ten Jah­ren eher gesun­ken als gestie­gen, wenn man vom Ukrai­ne-Effekt absieht. [2]

Die Kos­ten für Schutz­su­chen­de – wie­der­um vom Ukrai­ne­ef­fekt abge­se­hen – explo­die­ren kei­nes­wegs.[3]

Anschlä­ge kön­nen nie völ­lig aus­ge­schlos­sen wer­den. Und doch ist die Bedro­hung des Lebens von Asyl­su­chen­den in Ost­deutsch­land durch rech­te Ras­sis­ten höher als die Bedro­hung der Bevöl­ke­rung in ganz Deutsch­land durch fana­ti­sche Isla­mis­ten. Gegen pro­fes­sio­nel­le Ter­ro­ris­ten hilft kei­ne Abschot­tung. Und gegen die­je­ni­gen, die sich in unse­rem Land all­mäh­lich radi­ka­li­sie­ren, hel­fen neben Abschie­be­dro­hun­gen nur ver­stärk­te Bil­dungs- und Inte­gra­ti­ons­an­stren­gun­gen.

Demokratie lehren und sie verteidigen

Wer die Demo­kra­tie ver­tei­di­gen will, muss sie leh­ren, auch ihre Anfor­de­run­gen. Das soll­te selbst­ver­ständ­li­cher Teil der Erzie­hung und Bil­dung vom Kin­der­gar­ten bis zur Berufs- und zur Hoch­schu­le sein. Aber lei­der sind die Aus­ga­ben im Bereich Erzie­hung und Bil­dung abso­lut unzu­rei­chend, ins­be­son­de­re für Kin­der mit Migra­ti­ons­hin­ter­grund. Vie­le Schüler*innen been­den ihre Schul­zeit, ohne aus­rei­chend auf die Anfor­de­run­gen unse­rer Gesell­schaft vor­be­rei­tet zu sein. Wun­dern wir uns nicht, wenn sie dann, von Tik­Tok und ande­ren unver­ant­wort­li­chen Platt­for­men ver­lei­tet, auto­ri­tär-popu­lis­ti­sche Par­tei­en wäh­len.

Wer die Demo­kra­tie ver­tei­di­gen will, muss sich auch weh­ren, weh­ren gegen Angrif­fe aller Art.

Exkurs: Angriffe auf unsere Gesellschaftsordnung abwehren

Die Herr­schafts­an­sprü­che von Reli­gio­nen ken­nen wir in Euro­pa zur Genü­ge. Wir ken­nen die Mis­sio­nie­rung mit dem Schwert. Wir ken­nen Reli­gi­ons­krie­ge. Wir haben mus­li­mi­sche Herr­schaft in Euro­pa erlebt. Wir erin­nern uns an Refor­ma­ti­ons­krie­ge, die Huge­not­ten­krie­ge in Frank­reich, an den müh­sam been­de­ten Ter­ror in Nord­ir­land. Wir den­ken an die schwe­len­de Aus­ein­an­der­set­zung zwi­schen Mus­li­men und Chris­ten auf dem Bal­kan. Ange­sichts unse­rer Erfah­rung haben wir uns in Deutsch­land für eine kla­re Tren­nung von Kir­che und Staat ent­schie­den. Und wir haben uns für die Gel­tung uni­ver­sa­ler Men­schen­rech­te ent­schie­den, in unse­rem Grund­ge­setz und in der Erklä­rung der Ver­ein­ten Natio­nen. Es darf bei uns jeder glau­ben, was er will (Reli­gi­ons­frei­heit), aber wir müs­sen alle Ver­su­che ver­bie­ten und bekämp­fen, bei uns einen Got­tes­staat zu errich­ten oder ein Rechts­sys­tem, das sich unse­rem ent­ge­gen­stellt (z. B. Scha­ria). Reli­gi­ons­frei­heit, glei­che Rech­te für Mann und Frau dür­fen nicht ange­tas­tet wer­den.

Auch Migra­ti­on gehört zur Geschich­te der Mensch­heit. Migra­ti­on ist das in inter­na­tio­na­len Men­schen­rechts­ab­kom­men ver­an­ker­te Recht, sich frei zu bewe­gen und das eige­ne Land zu ver­las­sen. Neben dem Asyl­recht kön­nen wir frei ent­schei­den, wem wir Schutz gewäh­ren wol­len und das Recht, unter uns und mit uns zu leben. Aber wenn wir die­ses Recht gewährt haben, dann gilt es. Dann müs­sen wir es gegen Angrif­fe von Ras­sis­ten und Anti­se­mi­ten ver­tei­di­gen. Remi­gra­ti­on und die Rede davon muss ver­bo­ten wer­den.

Demo­kra­tie leh­ren bedeu­tet Auf­klä­rung auf vie­len Ebe­nen. Poli­tik, Bil­dung und Wis­sen­schaft müs­sen immer wie­der auf­zei­gen: Es gibt kei­ne bes­se­re Herr­schafts­form, die einer­seits einer gro­ßen Mehr­heit der Bevöl­ke­rung zugu­te­kommt und ande­rer­seits über einen effek­ti­ven Min­der­hei­ten­schutz ver­fügt. Die Alter­na­ti­ve für Deutsch­land kann und will dies nicht gewähr­leis­ten. Ihr unver­hoh­le­ner Bezug auf den Natio­nal­so­zia­lis­mus spricht Bän­de. Die bür­ger­li­chen Par­tei­en konn­ten ein­mal Demo­kra­tie. Jetzt lau­fen sie Gefahr, ihren Anspruch zu ver­lie­ren. Sie soll­ten die Men­schen­rech­te noch ein­mal stu­die­ren. Men­schen­rech­te gel­ten nicht nur ab und zu! Und die Men­schen­rech­te gel­ten für alle! Man kann sich nicht aus­su­chen, für wen sie gel­ten sol­len.

Mir graut vor einem Kanz­ler und einem, der es wer­den will, der Empa­thie nur gegen­über Hin­ter­blie­be­nen zeigt, nicht aber gegen­über den Opfern von Krieg, Ver­fol­gung und Hun­ger. Erst wenn man die Not von Schutz­su­chen­den akzep­tiert, betont und gegen­über Ras­sis­ten und Natio­na­lis­ten ver­tei­digt hat, darf man sich mit „Gefähr­dern und Ter­ro­ris­ten“ in den Rei­hen der Schutz­su­chen­den beschäf­ti­gen. Dann ger­ne kon­se­quent.

[1] 2023 haben die Straf­ta­ten gegen Geflüch­te­te erneut deut­lich zuge­nom­men. Die Poli­zei­be­hör­den regis­trier­ten 2.488 Straf­ta­ten gegen Asyl­be­wer­ber, dar­un­ter 321 Gewalt­ta­ten. Das ent­spricht ins­ge­samt einem Anstieg um 75 Pro­zent, bei den Gewalt­ta­ten um 15 Pro­zent. Außer­dem wur­den 179 Straf­ta­ten gegen Asyl­un­ter­künf­te regis­triert. Das ist eine Stei­ge­rung von ca. 50 Pro­zent zum Vor­jahr. Fast 90 Pro­zent die­ser poli­tisch moti­vier­ten Straf­ta­ten gegen Asyl­be­wer­ber oder ihre Unter­künf­te wur­den im Phä­no­men­be­reich PMK ‑rechts- erfasst. BMI – Pres­se – Poli­tisch moti­vier­te Kri­mi­na­li­tät in Deutsch­land erreicht neu­en Höchst­stand (bund.de)
[2] Gut auf­be­rei­te­te Zah­len dazu fin­det man beim Medi­en­dienst Inte­gra­ti­on, z. B. erlaub­te und uner­laub­te Ein­rei­sen nach Deutsch­land und die Gesamt­wan­de­rungs­bi­lanz unter https://mediendienst-integration.de/migration/wer-kommt-wer-geht.html.
[3] Sie­he Asyl­be­ding­te Kos­ten und Aus­ga­ben | Zah­len zu Asyl in Deutsch­land | bpb.de

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