„Menschenrechte gelten nicht nur ab und zu.“ Dieses Motto von Pro Asyl zum Tag des Flüchtlings am 27. September sei den bürgerlichen Parteien hierzulande ins Stammbuch geschrieben. Gerade jetzt steigert sich die deutsche und europäische Flüchtlingspolitik wieder zu massiven Angriffen auf das Recht, in Deutschland oder anderen europäischen Ländern Schutz zu suchen.
Es geht bei dieser erneuten politischen Hysterie gar nicht mehr um Flüchtlinge, um Schutzbedürftige. Es geht um „unsere“ Befindlichkeiten. In etlichen europäischen Staaten geht es um diffuse Bedrohungsängste, bei uns insbesondere im Osten des Landes. Dort gibt es zwar wenige Flüchtlinge und wenig Bedrohung durch Migranten, aber viele Bürger*innen machen sich die Schreckensszenarien und die Hetze der AfD zu eigen.[1]
Für die bürgerlichen Parteien sind die Anschläge von Migranten, die sich an islamistischen Ideologien und Vorbildern orientieren, aktuell ein willkommener Anlass, das Recht auf Asyl und Schutz von Flüchtlingen massiv einzuschränken und sich damit den Wähler*innen als die bessere Alternative für Deutschland anzubiedern. Aber natürlich bleibt das ein Abklatsch der selbsternannten Alternative. Die muss nämlich (noch) nicht regieren und kann immer noch etwas draufsatteln: ‚Wir lassen nicht nur keinen mehr rein, sondern schmeißen auch alle wieder raus.‘
Verantwortungsvolle Politiker*innen müssten eigentlich dem Populismus widerstehen und laut und standhaft darauf hinweisen, welcher Unsinn mit einer solchen rassistischen und nationalistischen Politik verbunden ist. Solche Hinweise kommen jedoch eher aus Industrie und Handwerk. Unsere Politiker*innen dagegen üben sich in Stammtischparolen übelster Sorte.
Wo bleibt eine ruhige Analyse der Lage und der Reaktionsmöglichkeiten? Die Flüchtlingszahlen sind in den letzten Jahren eher gesunken als gestiegen, wenn man vom Ukraine-Effekt absieht. [2]
Die Kosten für Schutzsuchende – wiederum vom Ukraineeffekt abgesehen – explodieren keineswegs.[3]
Anschläge können nie völlig ausgeschlossen werden. Und doch ist die Bedrohung des Lebens von Asylsuchenden in Ostdeutschland durch rechte Rassisten höher als die Bedrohung der Bevölkerung in ganz Deutschland durch fanatische Islamisten. Gegen professionelle Terroristen hilft keine Abschottung. Und gegen diejenigen, die sich in unserem Land allmählich radikalisieren, helfen neben Abschiebedrohungen nur verstärkte Bildungs- und Integrationsanstrengungen.
Demokratie lehren und sie verteidigen
Wer die Demokratie verteidigen will, muss sie lehren, auch ihre Anforderungen. Das sollte selbstverständlicher Teil der Erziehung und Bildung vom Kindergarten bis zur Berufs- und zur Hochschule sein. Aber leider sind die Ausgaben im Bereich Erziehung und Bildung absolut unzureichend, insbesondere für Kinder mit Migrationshintergrund. Viele Schüler*innen beenden ihre Schulzeit, ohne ausreichend auf die Anforderungen unserer Gesellschaft vorbereitet zu sein. Wundern wir uns nicht, wenn sie dann, von TikTok und anderen unverantwortlichen Plattformen verleitet, autoritär-populistische Parteien wählen.
Wer die Demokratie verteidigen will, muss sich auch wehren, wehren gegen Angriffe aller Art.
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Exkurs: Angriffe auf unsere Gesellschaftsordnung abwehren
Die Herrschaftsansprüche von Religionen kennen wir in Europa zur Genüge. Wir kennen die Missionierung mit dem Schwert. Wir kennen Religionskriege. Wir haben muslimische Herrschaft in Europa erlebt. Wir erinnern uns an Reformationskriege, die Hugenottenkriege in Frankreich, an den mühsam beendeten Terror in Nordirland. Wir denken an die schwelende Auseinandersetzung zwischen Muslimen und Christen auf dem Balkan. Angesichts unserer Erfahrung haben wir uns in Deutschland für eine klare Trennung von Kirche und Staat entschieden. Und wir haben uns für die Geltung universaler Menschenrechte entschieden, in unserem Grundgesetz und in der Erklärung der Vereinten Nationen. Es darf bei uns jeder glauben, was er will (Religionsfreiheit), aber wir müssen alle Versuche verbieten und bekämpfen, bei uns einen Gottesstaat zu errichten oder ein Rechtssystem, das sich unserem entgegenstellt (z. B. Scharia). Religionsfreiheit, gleiche Rechte für Mann und Frau dürfen nicht angetastet werden.
Auch Migration gehört zur Geschichte der Menschheit. Migration ist das in internationalen Menschenrechtsabkommen verankerte Recht, sich frei zu bewegen und das eigene Land zu verlassen. Neben dem Asylrecht können wir frei entscheiden, wem wir Schutz gewähren wollen und das Recht, unter uns und mit uns zu leben. Aber wenn wir dieses Recht gewährt haben, dann gilt es. Dann müssen wir es gegen Angriffe von Rassisten und Antisemiten verteidigen. Remigration und die Rede davon muss verboten werden.
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Demokratie lehren bedeutet Aufklärung auf vielen Ebenen. Politik, Bildung und Wissenschaft müssen immer wieder aufzeigen: Es gibt keine bessere Herrschaftsform, die einerseits einer großen Mehrheit der Bevölkerung zugutekommt und andererseits über einen effektiven Minderheitenschutz verfügt. Die Alternative für Deutschland kann und will dies nicht gewährleisten. Ihr unverhohlener Bezug auf den Nationalsozialismus spricht Bände. Die bürgerlichen Parteien konnten einmal Demokratie. Jetzt laufen sie Gefahr, ihren Anspruch zu verlieren. Sie sollten die Menschenrechte noch einmal studieren. Menschenrechte gelten nicht nur ab und zu! Und die Menschenrechte gelten für alle! Man kann sich nicht aussuchen, für wen sie gelten sollen.
Mir graut vor einem Kanzler und einem, der es werden will, der Empathie nur gegenüber Hinterbliebenen zeigt, nicht aber gegenüber den Opfern von Krieg, Verfolgung und Hunger. Erst wenn man die Not von Schutzsuchenden akzeptiert, betont und gegenüber Rassisten und Nationalisten verteidigt hat, darf man sich mit „Gefährdern und Terroristen“ in den Reihen der Schutzsuchenden beschäftigen. Dann gerne konsequent.
[1] 2023 haben die Straftaten gegen Geflüchtete erneut deutlich zugenommen. Die Polizeibehörden registrierten 2.488 Straftaten gegen Asylbewerber, darunter 321 Gewalttaten. Das entspricht insgesamt einem Anstieg um 75 Prozent, bei den Gewalttaten um 15 Prozent. Außerdem wurden 179 Straftaten gegen Asylunterkünfte registriert. Das ist eine Steigerung von ca. 50 Prozent zum Vorjahr. Fast 90 Prozent dieser politisch motivierten Straftaten gegen Asylbewerber oder ihre Unterkünfte wurden im Phänomenbereich PMK ‑rechts- erfasst. BMI – Presse – Politisch motivierte Kriminalität in Deutschland erreicht neuen Höchststand (bund.de)
[2] Gut aufbereitete Zahlen dazu findet man beim Mediendienst Integration, z. B. erlaubte und unerlaubte Einreisen nach Deutschland und die Gesamtwanderungsbilanz unter https://mediendienst-integration.de/migration/wer-kommt-wer-geht.html.
[3] Siehe Asylbedingte Kosten und Ausgaben | Zahlen zu Asyl in Deutschland | bpb.de