Ein Streitgespräch

Wird das Sprechen über Verletzungen zur politischen Strategie?

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Beitragsbild: Alexander Grey/unsplash

Darf man das noch sagen? – Ein Streitgespräch über Diskriminierung, ‚Wokeness‘ und Verantwortung zwischen den Bundesvorstandsmitgliedern des Humanistischen Verbandes Deutschlands, Katrin Raczynski und Christian Lührs.

Der Begriff Woke­ness hat eine erstaun­li­che Kar­rie­re hin­ter sich. Was einst für Acht­sam­keit gegen­über Dis­kri­mi­nie­rung stand, ist heu­te viel­fach zur Kampf­vo­ka­bel gewor­den – genutzt von poli­ti­schen Geg­nern, um eine offe­ne Gesell­schaft als über­trie­ben emp­find­lich oder mora­lisch über­dreht zu dis­kre­di­tie­ren. Beson­ders umstrit­ten ist dabei eine soge­nann­te insze­nier­te Selbst-Vik­ti­mi­sie­rung: die Idee, dass gesell­schaft­li­che Aner­ken­nung zuneh­mend durch das Spre­chen über Ver­letz­lich­keit und Benach­tei­li­gung orga­ni­siert wird.

Zwei Mit­glie­der des Bun­des­vor­stands des Huma­nis­ti­schen Ver­ban­des Deutsch­lands dis­ku­tie­ren:

Kat­rin Rac­zyn­ski, Vor­stands­spre­che­rin des Bun­des­vor­stands, Vor­stands­vor­sit­zen­de des Lan­des­ver­bands Ber­lin-Bran­den­burg und Vor­stän­din der Huma­nis­ti­schen Hoch­schu­le Ber­lin warnt vor den Fol­gen, die eine kri­tik­lo­se Über­nah­me sol­cher Begrif­fe mit sich brin­gen kann – und plä­diert für einen sen­si­blen, empa­thi­schen Umgang mit Spra­che und Macht.

Chris­ti­an Lührs, Mit­glied des Bun­des­vor­stan­des und Vor­stands­vor­sit­zen­der des Lan­des­ver­bands Ham­burg, sieht in der Mora­li­sie­rung von poli­ti­schen Dis­kur­sen und dem stra­te­gi­schen Ein­satz von Opfer­rol­len ein demo­kra­ti­sches Risi­ko – und for­dert eine stär­ke­re Fokus­sie­rung auf Inhal­te und einen offen­si­ven Umgang mit Macht­fra­gen.

Das Streit­ge­spräch basiert auf einem E‑Mail-Aus­tausch inner­halb des Ver­bands – und erscheint nun in redi­gier­ter Fas­sung als Bei­trag zur aktu­el­len Debat­te.

Wird das Sprechen über Verletzungen zur politischen Strategie?


Chris­ti­an Lührs: Es gibt rea­le Dis­kri­mi­nie­rung – das steht außer Fra­ge. Aber wir beob­ach­ten seit eini­ger Zeit eine Poli­ti­sie­rung von Opfer­rol­len, bei der das soge­nann­te Opfer­n­ar­ra­tiv zu einem stra­te­gi­schen Instru­ment gewor­den ist – auf der Rech­ten wie auf der Lin­ken. Es ist mög­lich gewor­den, sich durch den Ver­weis auf Ver­letz­lich­keit der Ver­ant­wor­tung zu ent­zie­hen und mora­li­sche Auto­ri­tät zu bean­spru­chen. Ich fin­de: Das darf man kri­ti­sie­ren.

Kat­rin Rac­zyn­ski: Natür­lich darf man kri­ti­sie­ren – das ist nicht mein Punkt. Ich fra­ge aber: Was tun wir, wenn wir von „Opfer­n­ar­ra­ti­ven“ spre­chen? Mei­ner Wahr­neh­mung nach wird dadurch schnell ein Dis­kurs­kli­ma erzeugt, das rea­le Erfah­run­gen von Aus­gren­zung dele­gi­ti­miert. Der Begriff klingt ana­ly­tisch, wird aber immer mehr zur rhe­to­ri­schen Waf­fe. Wer ihn benutzt, unter­stellt Betrof­fe­nen, sie wür­den sich bewusst in eine mora­lisch über­le­ge­ne Opfer­rol­le flüch­ten. Das poli­ti­sche Feld hat sich ver­scho­ben. Die kul­tu­rel­len Front­li­ni­en ver­lau­fen nicht mehr zwi­schen Nuan­cen iden­ti­täts­po­li­ti­scher Stra­te­gien, son­dern zwi­schen einer offe­nen, plu­ra­len Gesell­schaft – und ihren auto­ri­tä­ren Geg­nern. In die­ser Lage erscheint es mir poli­tisch gebo­ten, unmiss­ver­ständ­lich Par­tei zu ergrei­fen: für Viel­falt und für Min­der­hei­ten­schutz.

Chris­ti­an Lührs: Was ich kri­tisch sehe, ist, dass sowohl auf ‚der Rech­ten‘ als auch auf ‚der Lin­ken‘ zuneh­mend mit iden­ti­täts­po­li­ti­schen Argu­men­ten gear­bei­tet wird – also mit der geziel­ten Insze­nie­rung von Zuge­hö­rig­keit, Aus­gren­zung und mora­li­schem Anspruch. Die Rech­te sti­li­siert sich heu­te eben­so als Opfer: von Migra­ti­on, von Gen­der­po­li­tik, von „Eli­ten“. Die Lin­ke wie­der­um betont berech­tig­te Anlie­gen – wie Anti­dis­kri­mi­nie­rung oder Reprä­sen­ta­ti­on –, doch auch dort wird manch­mal ein poli­ti­scher Anspruch aus per­sön­li­cher Betrof­fen­heit abge­lei­tet, ohne den struk­tu­rel­len Kon­text aus­rei­chend zu benen­nen. So ent­steht auf bei­den Sei­ten eine Emo­tio­na­li­sie­rung, die den Raum für nüch­ter­ne Aus­hand­lung ver­engt. Mein Punkt ist: Unter­schie­de in der Macht, also in der Mög­lich­keit der Selbst­wirk­sam­keit, gibt es immer und über­all und das ist auch unver­meid­lich und gewollt, die Fra­ge ist nur: Wie wird sie ver­teilt und wie wird sie aus­ge­übt. Dafür haben wir in unse­ren per­sön­li­chen Bezie­hun­gen und in unse­rem poli­ti­schen Sys­tem Regeln und die wer­den durch Opfer­n­ar­ra­ti­ve unter­lau­fen und aus­ge­höhlt. 

Kat­rin Rac­zyn­ski: Ja, die­se Gefahr sehe ich auch – gera­de dann, wenn mora­li­scher Abso­lut­heits­an­spruch poli­ti­sche Aus­hand­lung ersetzt. Es gibt inner­halb lin­ker Iden­ti­täts­po­li­tik durch­aus Kipp-Punk­te: etwa dort, wo Debat­ten durch nor­ma­ti­ven Druck ver­engt wer­den. Und trotz­dem hal­te ich es im aktu­el­len poli­ti­schen Kli­ma für hei­kel, die­se Kri­tik iso­liert zu äußern, denn wir bewe­gen uns in einer Zeit, in der rech­te Kräf­te welt­weit ver­su­chen, genau die­se Bewe­gun­gen pau­schal zu dele­gi­ti­mie­ren. Wer heu­te Kri­tik an ‚Woke­ness‘ übt, läuft Gefahr, unbe­ab­sich­tigt eine Dyna­mik zu ver­stär­ken, die Diver­si­tät und Gleich­be­rech­ti­gung sys­te­ma­tisch abwer­tet. Lin­ke Iden­ti­täts­po­li­tik ist – trotz ihrer Schwä­chen – auch Aus­druck rea­ler Kämp­fe um Sicht­bar­keit, Aner­ken­nung und Teil­ha­be. Sie in ihrer Gän­ze unter Ver­dacht zu stel­len, wür­de bedeu­ten, genau jenen Stim­men den Raum zu neh­men, die ihn his­to­risch kaum hat­ten.

Chris­ti­an Lührs: Ich stim­me dir zu: Die Anlie­gen vie­ler Bewe­gun­gen – Anti­ras­sis­mus, Gleich­be­rech­ti­gung, Inklu­si­on – sind legi­tim und wich­tig. Aber wenn sich der poli­ti­sche Dis­kurs auf die eige­ne Betrof­fen­heit redu­ziert und allen ande­ren Dis­ku­tan­ten Macht­miss­brauch vor­ge­wor­fen wird, wird die inhalt­li­che Aus­ein­an­der­set­zung unmög­lich. Auch wer sich als Opfer äußert, übt Macht aus, z.B. dadurch, dass es sich äußert. Die The­ma­ti­sie­rung eige­ner Ver­letz­lich­keit darf also nicht davor schüt­zen, kri­tisch befragt zu wer­den. Kri­tik ist kein Angriff auf die Per­son – son­dern eine Ein­la­dung zum Dis­kurs.

Kat­rin Rac­zyn­ski: Ein­ver­stan­den – Kri­tik muss mög­lich sein. Aber sie darf nicht dort anset­zen, wo Men­schen gera­de erst begin­nen, ihre Stim­me zu erhe­ben. Wenn wir vor­schnell in die Spre­cher­po­si­ti­on gehen und über „Opfer­n­ar­ra­ti­ve“ urtei­len, ris­kie­ren wir, neue For­men des Schwei­gens zu erzeu­gen. Und wir soll­ten uns fra­gen, ob wir durch sol­che Kri­tik nicht selbst Teil eines Pro­blems wer­den – näm­lich einer kul­tu­rel­len Abwehr gegen gesell­schaft­li­chen Wan­del.

Chris­ti­an Lührs: Dann bleibt als gemein­sa­me Basis viel­leicht die­ser Gedan­ke: Ent­schei­dend ist, wor­über wir spre­chen – und dass wir spre­chen! Auch die Opfer­n­ar­ra­ti­ve der Rech­ten haben ja Ursa­chen und die sind nicht immer nur tak­tisch. Men­schen füh­len sich – zu Recht oder zu Unrecht – in ihrer Sicher­heit und Kul­tur bedroht und auch dar­über müs­sen wir spre­chen kön­nen, ohne Opfer zu pro­du­zie­ren. Wenn das Ziel ist, eine offe­ne, plu­ra­lis­ti­sche Gesell­schaft mit einer sinn­vol­len Macht­ver­tei­lung zu för­dern, müs­sen wir uns sowohl vor Instru­men­ta­li­sie­rung als auch vor pau­scha­ler Abwehr schüt­zen.

Kat­rin Rac­zyn­ski: Genau – viel­leicht ist es weni­ger eine Fra­ge ob, son­dern wie wir Kri­tik äußern. Wenn wir den Schutz von Min­der­hei­ten nicht als Schwä­che, son­dern als demo­kra­ti­sche Rei­fe begrei­fen, kön­nen wir auch Debat­ten über Macht, Ver­let­zung und (Eigen-)Verantwortung füh­ren. Für mich per­sön­lich hat sich ange­sichts des Erstar­kens von Rechts­po­pu­lis­ten und Rechts­extre­mis­ten auch der Maß­stab ver­scho­ben. In einem Kli­ma, in dem rech­te Kräf­te welt­weit ver­su­chen, Gleich­stel­lung, Diver­si­tät und Gerech­tig­keit zu dis­kre­di­tie­ren, erscheint mir intel­lek­tu­el­le Äqui­di­stanz nicht mehr ange­mes­sen. Was ich frü­her für not­wen­dig dif­fe­ren­zier­te Kri­tik hielt, kann heu­te unge­wollt Teil einer Abwehr­erzäh­lung wer­den. Und ja, eine plu­ra­le Gesell­schaft ist manch­mal anstren­gend, wider­sprüch­lich, kom­pli­ziert. Aber genau das ist ihre Stär­ke.

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