Der Begriff Wokeness hat eine erstaunliche Karriere hinter sich. Was einst für Achtsamkeit gegenüber Diskriminierung stand, ist heute vielfach zur Kampfvokabel geworden – genutzt von politischen Gegnern, um eine offene Gesellschaft als übertrieben empfindlich oder moralisch überdreht zu diskreditieren. Besonders umstritten ist dabei eine sogenannte inszenierte Selbst-Viktimisierung: die Idee, dass gesellschaftliche Anerkennung zunehmend durch das Sprechen über Verletzlichkeit und Benachteiligung organisiert wird.
Zwei Mitglieder des Bundesvorstands des Humanistischen Verbandes Deutschlands diskutieren:
Katrin Raczynski, Vorstandssprecherin des Bundesvorstands, Vorstandsvorsitzende des Landesverbands Berlin-Brandenburg und Vorständin der Humanistischen Hochschule Berlin warnt vor den Folgen, die eine kritiklose Übernahme solcher Begriffe mit sich bringen kann – und plädiert für einen sensiblen, empathischen Umgang mit Sprache und Macht.
Christian Lührs, Mitglied des Bundesvorstandes und Vorstandsvorsitzender des Landesverbands Hamburg, sieht in der Moralisierung von politischen Diskursen und dem strategischen Einsatz von Opferrollen ein demokratisches Risiko – und fordert eine stärkere Fokussierung auf Inhalte und einen offensiven Umgang mit Machtfragen.
Das Streitgespräch basiert auf einem E‑Mail-Austausch innerhalb des Verbands – und erscheint nun in redigierter Fassung als Beitrag zur aktuellen Debatte.
Wird das Sprechen über Verletzungen zur politischen Strategie?
Christian Lührs: Es gibt reale Diskriminierung – das steht außer Frage. Aber wir beobachten seit einiger Zeit eine Politisierung von Opferrollen, bei der das sogenannte Opfernarrativ zu einem strategischen Instrument geworden ist – auf der Rechten wie auf der Linken. Es ist möglich geworden, sich durch den Verweis auf Verletzlichkeit der Verantwortung zu entziehen und moralische Autorität zu beanspruchen. Ich finde: Das darf man kritisieren.
Katrin Raczynski: Natürlich darf man kritisieren – das ist nicht mein Punkt. Ich frage aber: Was tun wir, wenn wir von „Opfernarrativen“ sprechen? Meiner Wahrnehmung nach wird dadurch schnell ein Diskursklima erzeugt, das reale Erfahrungen von Ausgrenzung delegitimiert. Der Begriff klingt analytisch, wird aber immer mehr zur rhetorischen Waffe. Wer ihn benutzt, unterstellt Betroffenen, sie würden sich bewusst in eine moralisch überlegene Opferrolle flüchten. Das politische Feld hat sich verschoben. Die kulturellen Frontlinien verlaufen nicht mehr zwischen Nuancen identitätspolitischer Strategien, sondern zwischen einer offenen, pluralen Gesellschaft – und ihren autoritären Gegnern. In dieser Lage erscheint es mir politisch geboten, unmissverständlich Partei zu ergreifen: für Vielfalt und für Minderheitenschutz.
Christian Lührs: Was ich kritisch sehe, ist, dass sowohl auf ‚der Rechten‘ als auch auf ‚der Linken‘ zunehmend mit identitätspolitischen Argumenten gearbeitet wird – also mit der gezielten Inszenierung von Zugehörigkeit, Ausgrenzung und moralischem Anspruch. Die Rechte stilisiert sich heute ebenso als Opfer: von Migration, von Genderpolitik, von „Eliten“. Die Linke wiederum betont berechtigte Anliegen – wie Antidiskriminierung oder Repräsentation –, doch auch dort wird manchmal ein politischer Anspruch aus persönlicher Betroffenheit abgeleitet, ohne den strukturellen Kontext ausreichend zu benennen. So entsteht auf beiden Seiten eine Emotionalisierung, die den Raum für nüchterne Aushandlung verengt. Mein Punkt ist: Unterschiede in der Macht, also in der Möglichkeit der Selbstwirksamkeit, gibt es immer und überall und das ist auch unvermeidlich und gewollt, die Frage ist nur: Wie wird sie verteilt und wie wird sie ausgeübt. Dafür haben wir in unseren persönlichen Beziehungen und in unserem politischen System Regeln und die werden durch Opfernarrative unterlaufen und ausgehöhlt.
Katrin Raczynski: Ja, diese Gefahr sehe ich auch – gerade dann, wenn moralischer Absolutheitsanspruch politische Aushandlung ersetzt. Es gibt innerhalb linker Identitätspolitik durchaus Kipp-Punkte: etwa dort, wo Debatten durch normativen Druck verengt werden. Und trotzdem halte ich es im aktuellen politischen Klima für heikel, diese Kritik isoliert zu äußern, denn wir bewegen uns in einer Zeit, in der rechte Kräfte weltweit versuchen, genau diese Bewegungen pauschal zu delegitimieren. Wer heute Kritik an ‚Wokeness‘ übt, läuft Gefahr, unbeabsichtigt eine Dynamik zu verstärken, die Diversität und Gleichberechtigung systematisch abwertet. Linke Identitätspolitik ist – trotz ihrer Schwächen – auch Ausdruck realer Kämpfe um Sichtbarkeit, Anerkennung und Teilhabe. Sie in ihrer Gänze unter Verdacht zu stellen, würde bedeuten, genau jenen Stimmen den Raum zu nehmen, die ihn historisch kaum hatten.
Christian Lührs: Ich stimme dir zu: Die Anliegen vieler Bewegungen – Antirassismus, Gleichberechtigung, Inklusion – sind legitim und wichtig. Aber wenn sich der politische Diskurs auf die eigene Betroffenheit reduziert und allen anderen Diskutanten Machtmissbrauch vorgeworfen wird, wird die inhaltliche Auseinandersetzung unmöglich. Auch wer sich als Opfer äußert, übt Macht aus, z.B. dadurch, dass es sich äußert. Die Thematisierung eigener Verletzlichkeit darf also nicht davor schützen, kritisch befragt zu werden. Kritik ist kein Angriff auf die Person – sondern eine Einladung zum Diskurs.
Katrin Raczynski: Einverstanden – Kritik muss möglich sein. Aber sie darf nicht dort ansetzen, wo Menschen gerade erst beginnen, ihre Stimme zu erheben. Wenn wir vorschnell in die Sprecherposition gehen und über „Opfernarrative“ urteilen, riskieren wir, neue Formen des Schweigens zu erzeugen. Und wir sollten uns fragen, ob wir durch solche Kritik nicht selbst Teil eines Problems werden – nämlich einer kulturellen Abwehr gegen gesellschaftlichen Wandel.
Christian Lührs: Dann bleibt als gemeinsame Basis vielleicht dieser Gedanke: Entscheidend ist, worüber wir sprechen – und dass wir sprechen! Auch die Opfernarrative der Rechten haben ja Ursachen und die sind nicht immer nur taktisch. Menschen fühlen sich – zu Recht oder zu Unrecht – in ihrer Sicherheit und Kultur bedroht und auch darüber müssen wir sprechen können, ohne Opfer zu produzieren. Wenn das Ziel ist, eine offene, pluralistische Gesellschaft mit einer sinnvollen Machtverteilung zu fördern, müssen wir uns sowohl vor Instrumentalisierung als auch vor pauschaler Abwehr schützen.
Katrin Raczynski: Genau – vielleicht ist es weniger eine Frage ob, sondern wie wir Kritik äußern. Wenn wir den Schutz von Minderheiten nicht als Schwäche, sondern als demokratische Reife begreifen, können wir auch Debatten über Macht, Verletzung und (Eigen-)Verantwortung führen. Für mich persönlich hat sich angesichts des Erstarkens von Rechtspopulisten und Rechtsextremisten auch der Maßstab verschoben. In einem Klima, in dem rechte Kräfte weltweit versuchen, Gleichstellung, Diversität und Gerechtigkeit zu diskreditieren, erscheint mir intellektuelle Äquidistanz nicht mehr angemessen. Was ich früher für notwendig differenzierte Kritik hielt, kann heute ungewollt Teil einer Abwehrerzählung werden. Und ja, eine plurale Gesellschaft ist manchmal anstrengend, widersprüchlich, kompliziert. Aber genau das ist ihre Stärke.