Anerkennung der verleugneten Opfer des Nationalsozialismus

Blinde Flecken im kulturellen Gedächtnis

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Gemälde von Mascha Krink, Öl auf Leinwand, 80x80cm, gemalt 2020 nach dem einzigen Foto (1939), das von der Familie mit allen Kindern zusammen existiert.
Angeblich „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“: Eine neue Wanderausstellung und der Verband vevon e.V. rücken die lange verleugneten Opfergruppen des Nationalsozialismus in den Fokus. Das Erinnern ist nicht nur ein Akt des Gedenkens, sondern auch eine Form des Widerstands gegen das Schweigen.

Lan­ge Jah­re waren sie als NS-Ver­folg­te im gesell­schaft­li­chen Dis­kurs unsicht­bar: Unan­ge­pass­te Zeit­ge­nos­sen, als „aso­zi­al“ und als „Berufs­ver­bre­cher“ geschmäh­te Men­schen. An sie zu erin­nern, kam einem Tabu gleich. 70 Jah­re lang waren sie auch in Fami­li­en nahe­zu unsicht­bar, ihre Geschich­ten gal­ten als nicht erzähl­bar. Ihren Ange­hö­ri­gen war unter­stellt wor­den, dass sie zu faul zum Arbei­ten oder ver­bre­che­ri­sche Natu­ren gewe­sen waren.

Wer in Parks schlief, kei­nen Wohn­sitz hat­te oder infol­ge per­sön­li­cher Schick­sals­schlä­ge den sozia­len Halt ver­lo­ren hat­te, wur­de als „aso­zi­al“ bezeich­net. Es reich­te, drei­mal beim Klau­en erwischt zu wer­den, um als „Berufs­ver­bre­cher“ zu gel­ten. Oder Men­schen waren nach dem berüch­tig­ten Polen­straf­recht ver­ur­teilt wor­den. Bei Frau­en waren ver­mu­te­te Pro­mis­kui­tät, abwei­chen­des Sexu­al­ver­hal­ten, Pro­sti­tu­ti­on und das heim­li­che Durch­füh­ren von Schwan­ger­schafts­ab­brü­chen häu­fi­ge Grün­de, die zu Haft und anschlie­ßen­der KZ-Haft führ­ten. Denn vie­le der Betrof­fe­nen hat­ten ihre Haft­stra­fen ver­büßt und wur­den den­noch nicht frei­ge­las­sen, son­dern der „Ver­nich­tung durch Arbeit“ aus­ge­lie­fert. 

Eine Aner­ken­nung als Opfer des NS-Regimes war den weni­gen Über­le­ben­den die­ses offen­sicht­li­chen Unrechts nach 1945 ver­sagt wor­den. Ganz unten in der Hier­ar­chie der KZ-Häft­lin­ge, waren sie wei­ter­hin aus­ge­grenzt wor­den. Das Erin­ne­rungs­ta­bu wur­de erst­mals durch­bro­chen, nach­dem sich eine Initia­ti­ve von Nach­kom­men und Forscher*innen im Bun­des­tag Gehör ver­schafft hat­te. „Kein Mensch war zu Recht im KZ!“, die­ser Satz soll­te zu ihrem Weck­ruf wer­den. Ers­ter Schritt wur­de die erlang­te Aner­ken­nung als Ver­folg­te des NS-Regimes im Bun­des­tags­be­schluss vom 13. Febru­ar 2020.

Auch heu­te hört man immer wie­der, wie Men­schen auf der Stra­ße, auf Schul­hö­fen, aber auch in öffent­li­chen Debat­ten als „Assis“ und als „arbeits­scheu“ beschrie­ben wer­den. Die aktu­el­le poli­ti­sche Ent­wick­lung lässt die Ver­stär­kung der poli­ti­schen Bil­dungs­ar­beit drin­gend not­wen­dig erschei­nen. For­schungs­vor­ha­ben wären dazu nötig. Doch scheint die Bun­des­re­gie­rung ihre Beschlüs­se nicht wirk­lich ernst zu neh­men. Ein Etat für die gebo­te­nen For­schungs­auf­trä­ge fehlt bis jetzt. Und ange­sichts der Spar­vor­schlä­ge im Bereich Kul­tur / kul­tu­rel­le Bil­dung in Ber­lin ist nicht gera­de zu erwar­ten, dass es in den nächs­ten Jah­ren leicht wer­den wird, die erfor­der­li­chen Mit­tel für einen zen­tra­len Gedenk­ort im „Memo­ry Dis­trict“ der Haupt­stadt ein­zu­for­dern.

Nun wur­de – ent­spre­chend dem Bun­des­tags­be­schluss – in Ber­lin eine Wan­der­aus­stel­lung eröff­net, die sich erst­mals den „Ver­leug­ne­ten“ wid­met. Sie wur­de erar­bei­tet auf der Basis der Berich­te und Recher­chen von Fami­li­en­mit­glie­dern. Ein Fort­schritt. Bis zu einem gesell­schaft­li­chen Umden­ken ist es jedoch zwei­fel­los noch weit. Die ent­spre­chen­de Kurator*innengruppe der Stif­tung Denk­mal schreibt im vor­läu­fi­gen Begleit­heft zur Wan­der­aus­stel­lung: „Eine öffent­li­che Aus­ein­an­der­set­zung mit der Ver­fol­gung beginnt jedoch nur schlep­pend“ (Vor­wort).

Die modu­la­re Aus­stel­lung will nun die his­to­ri­sche Infor­ma­ti­on und geden­ken­des Erin­nern ver­bin­den. Noch fehlt es in der Aus­stel­lung an his­to­ri­scher Infor­ma­ti­on und zusam­men­hän­gen­der Dar­stel­lung. Das aus­führ­li­che Begleit­buch hier­zu ist laut Aus­sa­ge der Kurator*innen (Vor­wort des Begleit­hef­tes) in Pla­nung. Den­noch ist ein Besuch erhel­lend, um einen ers­ten Ein­druck davon zu bekom­men, wel­che Men­schen betrof­fen waren. Infor­ma­tio­nen zur Aus­stel­lung sind unter www.die-verleugneten.de ver­füg­bar.

vevon e.V.

2023 grün­de­te sich der Ver­band vevon, der sich für die Aner­ken­nung der ver­leug­ne­ten Opfer­grup­pen ein­setzt. Fami­li­en­mit­glie­der haben sich dar­in zusam­men­ge­tan, um die Geschich­ten der Ver­folg­ten und Ermor­de­ten zu erzäh­len. Geschich­ten, die droh­ten, end­gül­tig unter­zu­ge­hen. Auch for­dern die Ange­hö­ri­gen einen zen­tra­len Gedenk­ort im „Memo­ry Dis­trict“ der Haupt­stadt und beru­fen sich dabei auf den Pro­zess, der in der Haupt­stadt zu dem Ent­schluss führ­te, sepa­ra­te Denk­mä­ler für die Opfer­grup­pen ein­zu­rich­ten, die lan­ge aus dem Geden­ken aus­ge­schlos­sen wor­den waren. So waren für Sin­ti und Roma, Homo­se­xu­el­le, Opfer der NS-“Euthanasie“ erst im letz­ten Jahr­zehnt eigen­stän­di­ge Gedenk­or­te durch­ge­setzt und schließ­lich rea­li­siert wor­den. Es exis­tie­ren nicht nur Opfer­kon­kur­ren­zen, son­dern die Grup­pen konn­ten auch an Syn­er­gien des Geden­kens ando­cken.

Wie schwie­rig die­ses Unter­fan­gen für Men­schen ist, die damals in KZs mit dem schwar­zen oder dem grü­nen Win­kel gekenn­zeich­net wur­den, macht auch Fol­gen­des deut­lich: Im Jahr 2009 gelang es der Stif­tung Denk­mal für die ermor­de­ten Juden Euro­pas noch nicht, für die Umset­zung eines Kon­zep­tes der Stif­tung unter dem Titel „Gemein­schafts­fremd“ eine finan­zi­el­le För­de­rung zu erlan­gen. Dazu bedurf­te es der zivil­ge­sell­schaft­li­chen Initia­ti­ven der Fami­li­en­mit­glie­der, die sich im Ver­ein vevon zusam­men­schlos­sen.

Anfang 2024 erschien nun, her­aus­ge­ge­ben von einem der Initia­to­ren des Bun­des­tags­be­schlus­ses, Frank Non­nen­ma­cher, eine ers­te Ver­öf­fent­li­chung zu den ‚Ver­leug­ne­ten‘. Die gründ­li­che Rekon­struk­ti­on der 20 Lebens­ge­schich­ten im Sam­mel­band Die Nazis nann­ten sie „Aso­zia­le“ und „Berufs­ver­bre­cher“ gelang oft nur unter schwie­rigs­ten Umstän­den und zeigt vor allem eines: Die meis­ten der betrof­fe­nen Men­schen waren arm. Die Geschich­ten berich­ten von zahl­rei­chen Kleinst­de­lik­ten. Gesetz­wid­ri­ges Ver­hal­ten war unter Umstän­den nichts ande­res als sozia­le Not­wehr. 

Über die Schwierigkeiten, die Lebensgeschichten von verleugneten Opfern zu recherchieren und darzustellen

In den sel­tens­ten Fäl­len hin­ter­lie­ßen die Men­schen in pre­kä­ren Lebens­si­tua­tio­nen schrift­li­che Berich­te, die Über­le­ben­den schwie­gen. So stel­len die Geschich­ten eine Annä­he­rung an das Gesche­hen dar und erhe­ben kei­nen Anspruch auf Unan­fecht­bar­keit. Doch sind sie auf der Basis von Doku­men­ten recher­chiert und bil­den erst­mals ab, was bis­her gesell­schaft­lich nicht der Rede wert war. Im Fol­gen­den berich­tet Mascha Krink über den Fall ihrer Groß­el­tern und ihre Moti­va­ti­on, sich im Ver­band vevon zu enga­gie­ren:

Mein Groß­va­ter war von Beruf Zim­mer­mann, er war in Treb­nitz gebo­ren und auf­ge­wach­sen. Sein Name war Her­bert Böhm. Auf der Walz lern­te er unse­re Groß­mutter The­re­sa in Nie­der­bay­ern ken­nen. Sie hei­ra­te­ten, zogen nach Walds­hut, wo mein Groß­va­ter mit Roh­pro­duk­ten han­del­te. Dort kamen die ers­ten zwei Kin­der zur Welt. Auf­grund der Aus­wir­kung der glo­ba­len Wirt­schafts­kri­se muss­te mein Groß­va­ter sei­ne Fir­ma schlie­ßen. So beschlos­sen sie, sich auf den Weg nach Treb­nitz, in Her­berts Hei­mat, zu machen, um dort neu anzu­fan­gen. Anhand der Geburts­or­te ihrer Kin­der konn­te ich nach­voll­zie­hen, dass sie es auch schaff­ten bis nach Treb­nitz. Nur sah die wirt­schaft­li­che Situa­ti­on dort nicht bes­ser aus.

Wie vie­le ande­re in den frü­hen 1930er Jah­ren, waren auch mei­ne Groß­el­tern auf den Stra­ßen unter­wegs, auf der Suche nach Arbeit – gemein­sam mit Hun­dert­tau­sen­den, die von der Mas­sen­ar­beits­lo­sig­keit die­ser Zeit betrof­fen waren. Sie waren also Wan­der­ar­bei­ter, Men­schen, die nicht immer einen fes­ten Wohn­sitz hat­ten und ihr Leben damit ver­brach­ten, über­all Arbeit zu suchen, um sich irgend­wie durch­zu­schla­gen.

Die Armut zwang sie zu dem, was die Gesell­schaft als „Klein­de­lik­te“ bezeich­ne­te: Bet­teln und viel­leicht auch klei­ne Dieb­stäh­le, um zu über­le­ben. Mein Groß­va­ter wur­de in die­ser Zeit ins­ge­samt acht­mal ver­haf­tet und bestraft – acht­mal inner­halb von 15 Jah­ren immer wie­der für ein paar weni­ge Wochen weg­ge­sperrt, weil er kein Geld hat­te, um die Stra­fe zu bezah­len. Mit die­ser Geschich­te ste­hen Her­bert und The­re­sa für vie­le Men­schen jener Zeit, die durch ein Sys­tem kri­mi­na­li­siert wur­den, das für Armut kei­ne Lösung, aber umso mehr Stra­fen bereit­hielt.

Im Früh­jahr 1940, inmit­ten der Schre­cken des NS-Regimes, wur­den Her­bert und The­re­sa nach einer Denun­zia­ti­on durch „Nach­barn“, die das Für­sor­ge­amt auf sie ange­setzt hat­te, gewalt­sam in eine soge­nann­te „Arbeits­an­stalt“ ein­ge­wie­sen. Das war kein Ort, an dem man Men­schen hel­fen woll­te, wie­der auf die Bei­ne zu kom­men. Es war ein Ort, an dem die­je­ni­gen, die nicht in das Bild der „Volks­ge­mein­schaft“ pass­ten, aus dem Blick­feld ver­schwin­den soll­ten. Als wäre dies nicht schon Stra­fe genug, wur­den ihnen ihre inzwi­schen sie­ben Kin­der weg­ge­nom­men. Der Staat ent­zog ihnen das Sor­ge­recht und ver­häng­te ein Kon­takt­ver­bot. Die Unmensch­lich­keit die­ser Ent­schei­dung kann ich kaum in Wor­te fas­sen – die Fami­lie unse­res damals erst zwei­jäh­ri­gen Vaters wur­de nicht nur aus­ein­an­der­ge­ris­sen, son­dern sys­te­ma­tisch zer­stört. Unse­re Groß­mutter The­re­sa wur­de nach drei Mona­ten wie­der aus der „Arbeits­an­stalt“ ent­las­sen und kämpf­te von die­sem Moment an uner­müd­lich um ihre Kin­der und ihren Mann. Doch die­ser Kampf war ver­geb­lich. Ihr Ehe­mann Her­bert war mitt­ler­wei­le als soge­nann­ter „Aso­zia­ler“ ins Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger depor­tiert wor­den. Erst Sach­sen­hau­sen, dann Ravens­brück – Orte, die wir heu­te mit Leid und Tod ver­bin­den, Orte, an denen Men­schen­rech­te kei­nen Wert hat­ten. Her­bert hat die­se Höl­le nicht über­lebt.

The­re­sa, mei­ne Groß­mutter, kehr­te zurück in ein Leben, das geprägt war von Ein­sam­keit, Ver­lust und Schmerz. Sie kämpf­te jah­re­lang um ihre Kin­der, und den­noch blieb ihr das Sor­ge­recht für immer ver­wehrt. Ver­einsamt und tief gezeich­net starb sie mit nur 43 Jah­ren an Krebs. Eine Frau, die sich nichts sehn­li­cher gewünscht hat­te, als Mut­ter sein zu dür­fen, ver­lor die­sen Kampf gegen ein Sys­tem, das ihr nie eine Chan­ce gege­ben hat­te.

Mei­ne Geschwis­ter und ich wuch­sen mit einem unsi­che­ren, förm­lich zer­ris­se­nen Vater auf. Die­ses Erbe beschäf­tigt uns heu­te noch auf unter­schied­li­che Wei­se. Ich hat­te als Kind oft das Gefühl, ihn trös­ten zu müs­sen.

30 Jah­re lang habe ich mich mit der Lebens­ge­schich­te mei­ner Groß­el­tern aus­ein­an­der­ge­setzt, habe recher­chiert, Archi­ve durch­fors­tet und geforscht. Das, was ich heu­te weiß, ist: Mein Groß­va­ter wur­de in Kon­zen­tra­ti­ons­la­gern sys­te­ma­tisch aus­ge­beu­tet und ermor­det. Sein Ver­bre­chen: Er war arm und leb­te unan­ge­passt.

Bei all der Recher­che ist es mir nicht gelun­gen, sein genau­es Todes­da­tum her­aus­zu­fin­den. Die Toten­bü­cher in Ravens­brück haben die Nazis bei ihrem „Rück­zug“ ver­nich­tet.

Mit mei­nem jüngs­ten Sohn, mei­ner Schwes­ter und dem Dra­ma­tur­gen Dirk Lau­cke erar­bei­te­ten wir einen Pod­cast zum Schick­sal unse­rer Alt­vor­de­ren. Wir sind durch meh­re­re Bun­des­län­der gereist, haben Historiker*innen befragt und die ver­schie­de­nen Sta­tio­nen unse­rer Groß­el­tern und Urgroß­el­tern nach­ver­folgt.

Trotz unse­rer Recher­chen und des Pod­casts zur Lebens­ge­schich­te unse­rer als „aso­zi­al“ stig­ma­ti­sier­ten Groß­el­tern zeigt der Groß­teil mei­ner Fami­lie sehr wenig Inter­es­se am Schick­sal unse­rer Groß­el­tern. Mit dem Stig­ma „aso­zi­al“ scheint auto­ma­tisch Scham ein­her­zu­ge­hen.

Nach dem Zwei­ten Welt­krieg hei­ra­te­ten die drei Schwes­tern mei­nes Vaters ame­ri­ka­ni­sche G.I.s und wan­der­ten nach Ame­ri­ka aus. Jahr­zehn­te spä­ter schrie­ben mich deren Enkel an, nach­dem sie in einem Muse­um auf mei­ne E‑Mail-Adres­se gesto­ßen waren, wäh­rend sie nach ihrem Urgroß­va­ter such­ten. Nach­dem ich ihnen mei­ne Recher­chen zur Ver­fü­gung gestellt hat­te, bra­chen sie den Kon­takt abrupt wie­der ab. Auch bei ihnen scheint eine tie­fe Scham zu bestehen, die zeigt, wie drin­gend es ist, dass die Gesell­schaft end­lich beginnt, die­se Geschich­ten auf­zu­ar­bei­ten, um zu ver­ste­hen, wie es dazu kam, und dass eine per­sön­li­che Scham völ­lig deplat­ziert ist.

Denn die Geschich­te mei­ner Groß­el­tern ist kein Ein­zel­fall. Sie zeigt die grau­sa­me Rea­li­tät eines Sys­tems, das Men­schen, die nicht in sein Sche­ma pass­ten, als „min­der­wer­tig“ stig­ma­ti­sier­te. Es zeigt, wie die Nazis Men­schen, die in Armut leb­ten oder sich nicht in die vor­ge­ge­be­nen Nor­men ein­füg­ten, als „Aso­zia­le“ oder „Kri­mi­nel­le“ ver­folg­ten. Die­je­ni­gen, über die wir heu­te durch die­se groß­ar­ti­ge Wan­der­aus­stel­lung erfah­ren, waren Opfer eines Regimes, das kein Mit­ge­fühl kann­te.

Die Aus­ein­an­der­set­zung mit dem ertra­ge­nen Leid der als Berufs­ver­bre­cher und Aso­zia­le Stig­ma­ti­sier­ten ist für uns weit mehr als eine Fra­ge der his­to­ri­schen Gerech­tig­keit – sie berührt uns auch auf einer tief per­sön­li­chen Ebe­ne. Und so ist es uns eine inne­re Ver­pflich­tung, für das Andenken all jener ein­zu­tre­ten, die über Jah­re hin­weg aus der kol­lek­ti­ven Erin­ne­rung aus­ge­schlos­sen wur­den. Indem wir die Geschich­ten die­ser ver­leug­ne­ten Opfer­grup­pen erzäh­len, hof­fen wir, deren Schick­sa­le vor dem Ver­ges­sen zu bewah­ren. Ihr Leid ver­dient es, end­lich gehört und ver­stan­den zu wer­den, nicht nur als ein Teil der Ver­gan­gen­heit, son­dern auch als Mah­nung für die Gegen­wart und Zukunft. Die Geschich­ten die­ser Men­schen haben uns gelehrt, dass Erin­nern nicht nur ein Akt des Geden­kens ist, son­dern auch eine Form des Wider­stands gegen das Schwei­gen. Die Geschich­te mei­nes Groß­va­ters, der in den Kon­zen­tra­ti­ons­la­gern Sach­sen­hau­sen und Ravens­brück inhaf­tiert war und dort starb, hat mich und mei­ne Fami­lie tief geprägt.

Es gab in den Gedenk­stät­ten Sach­sen­hau­sen und Ravens­brück kei­nen Ort, der spe­zi­ell an die­se Grup­pen erin­nert. Durch die Initia­ti­ve mei­ner Schwes­ter, der befreun­de­ten Bild­haue­rin Ines Diede­rich und mir sowie mit­hil­fe der guten Koope­ra­ti­on und den Mitarbeiter*innen der Gedenk­stät­te Sach­sen­hau­sen, durch die Initia­ti­ve unse­res 2023 gegrün­de­ten Ver­ban­des vevon der sich der Aner­ken­nung und Auf­ar­bei­tung der ver­leug­ne­ten Opfer­grup­pen des Natio­nal­so­zia­lis­mus wid­met, konn­te dort im Juni 2023 doch end­lich die ers­te Gedenk­ste­le für die schwarz­wink­li­gen Häft­lin­ge errich­tet und ein­ge­weiht wer­den. Finan­ziert wur­de das Denk­mal von der Ama­de­us Anto­nio Stif­tung.

Zum schwar­zen Win­kel zähl­ten jene, die als „aso­zi­al“ gal­ten, die nicht in die natio­nal­so­zia­lis­ti­sche Vor­stel­lung eines „nütz­li­chen“ Lebens pass­ten, dar­un­ter auch Arbeits­ver­wei­ge­rer und sozi­al Rand­stän­di­ge. Ende Sep­tem­ber 2024 haben wir die Gedenk­stät­te ver­voll­stän­digt, indem wir die Ste­le, die den soge­nann­ten grü­nen Win­keln gewid­met ist, ein­ge­weiht haben. Gewid­met den Men­schen, die unter den Natio­nal­so­zia­lis­ten als „Berufs­ver­bre­cher“ stig­ma­ti­siert wur­den, was meist will­kür­lich auf Per­so­nen ange­wen­det wur­de, die zuvor straf­recht­lich ver­ur­teilt wor­den waren, unab­hän­gig von der Schwe­re ihrer Ver­ge­hen. Mit der Erwei­te­rung des Gedenk­or­tes an einem der wich­tigs­ten Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger setz­ten wir ein wei­te­res Zei­chen gegen das Ver­ges­sen und für die Sicht­bar­keit die­ser ver­leug­ne­ten Opfer­grup­pen. Ihr Schick­sal darf nicht ver­ges­sen wer­den, denn es erin­nert uns dar­an, eine gerech­te und inklu­si­ve Erin­ne­rungs­kul­tur ein­zu­tre­ten.

Ein Verband für das Erinnern an die verleugneten Opfer des Nationalsozialismus

Initi­iert von Frank Non­nen­ma­cher und Ines Eich­mül­ler, wur­de der Ver­band im Janu­ar 2023 von 33 enga­gier­ten Grün­dungs­mit­glie­dern wie Bar­ba­ra und mir ins Leben geru­fen. Ziel ist es, durch For­schung, Gedenk­ar­beit und Aus­tausch­platt­for­men die Geschich­ten die­ser Opfer­grup­pen ins öffent­li­che Bewusst­sein zu rücken und ihren Nach­kom­men eine Stim­me zu geben. Nach innen bie­tet unser Ver­band eine wich­ti­ge Platt­form für den Aus­tausch unter den Nach­kom­men der Opfer­grup­pen. Hier kön­nen die Fami­li­en die­ser Opfer­grup­pen und Inter­es­sier­te (z.B. Historiker*innen) sich nicht nur über ihre Recher­chen zu den indi­vi­du­el­len Ver­fol­gungs­ge­schich­ten aus­tau­schen, son­dern auch wert­vol­le Infor­ma­tio­nen über For­schung und Archiv­ar­beit tei­len. Unser Ver­band unter­stützt zudem aktiv bei der Auf­ar­bei­tung. So ent­steht ein leben­di­ger Dia­log, der Ver­gan­gen­heit und Gegen­wart ver­bin­det.

vevon e.V. setzt sich als Ver­band auch kon­se­quent dafür ein, dass die ver­leug­ne­ten und mar­gi­na­li­sier­ten Opfer­grup­pen des Natio­nal­so­zia­lis­mus end­lich die Aner­ken­nung und Wür­de erhal­ten, die ihnen zusteht. Ziel des Ver­eins ist es, das Bewusst­sein für die Leer­stel­le in der Gesell­schaft zu schär­fen und sicher­zu­stel­len, dass die­se Opfer­grup­pen sowohl in der his­to­ri­schen Auf­ar­bei­tung als auch im öffent­li­chen Geden­ken ver­tre­ten sind. Der Ver­band ver­steht sich als Brü­cke zwi­schen der Ver­gan­gen­heit und einer Erin­ne­rungs­kul­tur in der Gegen­wart. Ein wei­te­res Ziel ist es, poli­tisch und gesell­schaft­lich dafür ein­zu­tre­ten, dass die Schick­sa­le der ver­leug­ne­ten Opfer­grup­pen nicht län­ger mar­gi­na­li­siert wer­den, son­dern dau­er­haft in der Erin­ne­rungs­kul­tur ver­an­kert sind, denn wir bemän­geln die feh­len­de Aner­ken­nung und das Schwei­gen, dass die­se Men­schen dop­pelt zu Opfern gemacht hat – erst durch den NS-Ter­ror und dann durch das Ver­leug­nen nach 1945.

Der Ver­band orga­ni­siert und unter­stützt Gedenk­ver­an­stal­tun­gen und kämpft um die Errich­tung eines zen­tra­len Mahn­mals, um das öffent­li­che Bewusst­sein für die ver­leug­ne­ten Opfer zu stär­ken. vevon e.V. ver­öf­fent­lich­te die Schrift „Die Nazis nann­ten sie Aso­zia­le und Berufs­ver­bre­cher“, die eini­ge die­ser Schick­sa­le vor und nach 1945 erzählt, um die­se sowohl in Schu­len als auch in der brei­te­ren Gesell­schaft zu ver­an­kern. Durch die­se Akti­vi­tä­ten ver­su­chen wir als Ver­band, die Mar­gi­na­li­sie­rung die­ser Grup­pen zu bekämp­fen und ihre Geschich­ten ins kol­lek­ti­ve Gedächt­nis zu inte­grie­ren.

In aktu­el­len Debat­ten über Erin­ne­rungs­kul­tur und his­to­ri­sche Gerech­tig­keit wird oft noch zu wenig auf die spe­zi­fi­schen Schick­sa­le von Grup­pen wie Sin­ti und Roma, Men­schen mit Behin­de­run­gen, Homo­se­xu­el­len und der grün- und schwarz­wink­li­gen Opfer ein­ge­gan­gen. Eine der zen­tra­len Her­aus­for­de­run­gen ist die auch heu­te fort­lau­fen­de Mar­gi­na­li­sie­rung die­ser Opfer­grup­pen im öffent­li­chen Dis­kurs. Trotz ver­stärk­ter Bemü­hun­gen um eine brei­te­re Erin­ne­rungs­kul­tur wer­den die Geschich­ten die­ser Men­schen nach wie vor häu­fig über­se­hen oder nur ober­fläch­lich behan­delt. vevon e.V. setzt sich in die­ser Debat­te dafür ein, dass der poli­ti­sche und gesell­schaft­li­che Fokus erwei­tert wird, um die­se Grup­pen stär­ker in den Mit­tel­punkt zu rücken. Eine wei­te­re poli­ti­sche Her­aus­for­de­rung ist der zuneh­men­de Revi­sio­nis­mus oder die Ten­denz, die Ver­bre­chen des Natio­nal­so­zia­lis­mus zu rela­ti­vie­ren. Unser Ver­band setzt sich ein, indem er sich aktiv für die Aner­ken­nung aller Opfer­grup­pen ein­setzt und auf eine kla­re Distan­zie­rung von jeg­li­chen Ver­su­chen drängt, die Schick­sa­le die­ser Opfer­grup­pen wei­ter­hin zu ver­leug­nen. vevon e.V. kämpft dafür, dass die ver­leug­ne­ten Opfer­grup­pen in aktu­el­len Geset­zes­in­itia­ti­ven, Gedenk­plä­nen und Bil­dungs­maß­nah­men ver­tre­ten sind. Dies wird durch die Zusam­men­ar­beit mit poli­ti­schen Entscheidungsträger*innen und Historiker*innen erreicht, um sicher­zu­stel­len, dass auch in künf­ti­gen Gedenk­pro­gram­men und im Schul­un­ter­richt eine gerech­te und umfas­sen­de Dar­stel­lung derer Ver­fol­gungs­ge­schich­te erfolgt.

Die Aner­ken­nung der ver­leug­ne­ten Opfer­grup­pen des Natio­nal­so­zia­lis­mus ist nicht nur eine Fra­ge der his­to­ri­schen Auf­ar­bei­tung, son­dern eine drin­gen­de mora­li­sche Ver­ant­wor­tung der Gesell­schaft. Die­se Men­schen wur­den nicht nur wäh­rend des NS-Regimes sys­te­ma­tisch ver­folgt, son­dern nach Kriegs­en­de auch in ihrem Lei­den oft igno­riert oder mar­gi­na­li­siert. Das Ver­ges­sen oder bewuss­te Über­ge­hen ihrer Schick­sa­le stellt eine Fort­set­zung der Unge­rech­tig­keit dar, die wir als Gesell­schaft nicht hin­neh­men dür­fen. Es geht um mehr als nur dar­um, die Ver­gan­gen­heit kor­rekt zu doku­men­tie­ren; es geht dar­um, den betrof­fe­nen Grup­pen end­lich die Wür­de zurück­zu­ge­ben, die ihnen ver­wei­gert wur­de. Indem wir uns die­ser Ver­ant­wor­tung stel­len, erken­nen wir an, dass der Schmerz die­ser Opfer­grup­pen auch heu­te noch nach­wirkt – in den Fami­li­en, Gemein­schaf­ten und Nach­kom­men der Betrof­fe­nen, aber auch in den Lücken unse­res kol­lek­ti­ven Gedächt­nis­ses. vevon e.V. ver­tritt die Posi­ti­on, dass die Gesell­schaft aktiv han­deln muss, um die­sen Men­schen Gerech­tig­keit wider­fah­ren zu las­sen.

Dies bedeu­tet, ihre Geschich­ten in die öffent­li­che Erin­ne­rungs­kul­tur zu inte­grie­ren und sie in Bil­dungs­plä­ne auf­zu­neh­men. Es bedeu­tet eine ver­pflich­ten­de Ein­bin­dung der Geschich­ten der ver­leug­ne­ten Opfer­grup­pen in die Lehr­plä­ne von Schu­len und Uni­ver­si­tä­ten, um sicher­zu­stel­len, dass die Ver­fol­gung und das Leid die­ser Men­schen auch künf­ti­gen Gene­ra­tio­nen bekannt sind.

Wir for­dern die umfas­sen­de Reha­bi­li­tie­rung der Opfer, die vie­le Jahr­zehn­te nicht als sol­che aner­kannt wur­den. So soll­te unse­rer Mei­nung nach in bestehen­den Gedenk­stät­ten und Muse­en Raum geschaf­fen wer­den, um die Geschich­ten die­ser Opfer­grup­pen zu erzäh­len. Eine Reha­bi­li­ta­ti­on die­ser Opfer­grup­pen erfor­dert auch, dass ihre Geschich­ten in Schul­cur­ri­cu­la und his­to­ri­schen Bil­dungs­an­ge­bo­ten ver­an­kert wer­den. Schüler*innen und Stu­die­ren­de soll­ten über die Ver­fol­gung die­ser Opfer­grup­pen infor­miert und sen­si­bi­li­siert wer­den, um deren Leid im kol­lek­ti­ven Gedächt­nis zu ver­an­kern.

Wir for­dern auch die Schaf­fung von For­schungs­zen­tren und Archi­ven, die sich gezielt mit den Schick­sa­len die­ser Opfer­grup­pen beschäf­ti­gen und sicher­stel­len, dass ihr Leid nicht nur doku­men­tiert, son­dern auch für die Nach­welt erhal­ten bleibt.

Die­se For­de­run­gen tra­gen dazu bei, nicht nur das his­to­ri­sche Unrecht auf­zu­ar­bei­ten, son­dern auch sicher­zu­stel­len, dass die­se Opfer­grup­pen in der Gesell­schaft die Aner­ken­nung und Auf­merk­sam­keit erhal­ten, die ihnen vie­le Jahr­zehn­te ver­wei­gert wur­de.

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