Im Kern ist der moderne Humanismus ein Zweikomponentenkleber: Selbstbestimmung und Verantwortung. Die eine hält nicht ohne die andere. Beginnt man mit der einen Komponente, so landet man schnell bei der zweiten. Verantwortung ist eine ethisch-politische Grundhaltung, die im Interesse eines gemeinsamen Guten zu kooperativer Praxis bereit ist. Sie ist Verantwortung für sich selbst, für andere Menschen und Lebewesen, für Gemeinwesen und Natur. Sie kann zur Last werden und dann brauche ich Entlastung von Verantwortung, die ich selbst empfinde oder die andere mir zuweisen wollen. Die Übernahme von Verantwortung muss also in wesentlichen Teilen auch eine selbstbestimmte sein. Wenn ich nachfolgend hier jetzt von der Komponente Selbstbestimmung ausgehe, so werde ich am Ende auch bei Verantwortung landen. In einem angereicherten humanistischen Verständnis von Selbstbestimmung stößt man auf dialogische, soziale, ethische und politische Aspekte. Humanistische Selbstbestimmung gründet nicht in der Borniertheit eines heroischen Selbst, das bestens über sich Bescheid weiß und souverän alleine klarkommt. Ihr „Selbst“ ist nicht der trübe Tümpel eines vermeintlich wahren und unabhängigen eigenen Wesens, sondern der herausfordernde Strom von Bedürfnissen, Präferenzen und Reflexionen, die sich in der Ausgesetztheit an andere und im Dialog mit ihnen bilden, reiben und verändern.
Selbstbestimmung hat anthropologische und praktische Voraussetzungen. Sie ist undenkbar ohne eine minimale positive Anthropologie von menschlichen Freiheits- und Gestaltungsspielräumen. Praktisch wird sie begünstigt durch politisch-juristische Rahmenbedingungen mit Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechten und Demokratie, durch eine ökonomische Grundsicherung der Lebensnotwendigkeiten und durch Bildungschancen, um sie zu lernen. Letzteres ist ein erster Grund, warum sie nichts für Egoist*innen ist: Sie ist erlernbar nur im sozialen Austausch mit anderen.
Selbstbestimmung gründet darin, dass wir die eigenen Wünsche und Bedürfnisse für etwas Wichtiges halten und nicht von anderen vorgeschrieben haben wollen, wie wir zu leben haben. Dies führt aber oftmals zu ihrer Verwechselung mit Willkürfreiheit: immer tun und lassen zu können, was man möchte. Doch schon die alltägliche Erfahrung oder z.B. diejenige in Bildungsveranstaltungen zum Thema Selbstbestimmung zeigt eine eigentümliche empirische Selbstverständlichkeit: Die meisten Menschen billigen in konfliktiven Situationen auch den anderen wie automatisch das Recht auf Selbstbestimmung zu, sie suchen kreative Kompromisse und nehmen sich selbst zurück. Und so stelle man sich demgegenüber eine Person vor, die sagt: „Ich bin für Selbstbestimmung, aber nur für meine eigene.“ Sicher gibt es auch solche Personen, wie es ja alles Mögliche gibt, aber sie dürften putzig wirken, denn ihr Standpunkt ist im sozialen Leben nicht vermittelbar. Ein zweiter Grund dafür, warum Selbstbestimmung nichts für Egoist*innen ist: Sie kann sinnvoll nur im sozialen – und natürlich konfliktträchtigen – Austausch mit anderen gelebt werden.
Weitere Gründe: Selbstbestimmung wäre gar nicht möglich, wenn uns die anderen nicht „lassen“ und unsere Bestrebungen anerkennen würden, sodass wir immer auch auf dialogische Aushandlung angewiesen sind. Dazu gehört dann auch, etwas aus Liebe, Verbundenheit, Pflicht oder Verantwortung zu tun oder zu lassen, weil es in erster Linie für die andere oder den anderen wichtig ist. Die Möglichkeit des selbstbestimmten Eingehens von Verpflichtungen – Beziehungen, Beruf, an die man sich dann auch hält, gehört zu einem humanistischen Verständnis von Selbstbestimmung und sie wird in der alltäglichen Praxis auch vielfach realisiert. Ebenso können wir selbstbestimmt Prozesse kollektiver Selbstbestimmung eingehen und tun auch dies in unserer Alltagspraxis, wenn wir Mehrheitsentscheide bei Wahl- oder Abstimmungsergebnissen – mehr oder weniger zähneknirschend – akzeptieren, obgleich sie nicht unserem Votum entsprechen. Und nicht zuletzt zeigt die ethische und politische Alltagspraxis auch, dass Menschen Verantwortung übernehmen für die Selbstbestimmung der anderen sowie für die dafür notwendigen politisch-gesellschaftlichen Rahmenbedingungen.
Es ist also unsere Praxis, die zeigt, dass Selbstbestimmung nichts für Egoist*innen ist. Die Praxis ist aber keine Idylle sozialer und dialogischer Selbstbestimmung. Denn selbstverständlich gibt es genauso auch das Gegenteil und allzu oft misslingen die besten Vorhaben. Wir schweben nicht losgelöst und ungebunden in Entscheidungsfreiräumen, sondern stecken mitten in den Bedingungen und Anforderungen des Lebens. Selbstbestimmung ist ein gradueller Begriff, wir leben in dynamischen Mischverhältnissen von Selbst- und Fremdbestimmung. Manchmal wissen wir gar nicht, was wir selber eigentlich wollen, ob unsere vorhandenen Wünsche wirklich unsere eigenen Wünsche sind und nicht etwa erlernte, angewöhnte, von anderen bzw. gesellschaftlich nahegelegte oder oktroyierte. Manchmal tun wir etwas und zweifeln hinterher daran, dass wir es selbstbestimmt getan haben. Und oft genug machen wir auch Dinge, die wir selber gar nicht wollen, wir machen sie – gerne oder ungerne – für andere oder weil wir nicht anders können. Scheitern, Misslingen, Rücksicht und Liebe sind Bestandteile eines selbstbestimmten Lebens. Zu einem modernen Humanismus gehört die leichte melancholische Einfärbung eines „trotz allem“: Trotz aller dazugehöriger Herausforderungen, Hindernisse und Misserfolge ist es kaum denkbar, auf den Anspruch eines – so weit wie eben möglich – selbstbestimmten Lebens zu verzichten.
Dies wird bei „harten“ Themen besonders plastisch. Das Bundesverfassungsgericht hat 2020 in seiner Urteilsbegründung zur Annullierung des § 217 StGB (Verbot der geschäftsmäßigen Suizidhilfe) völlig zu Recht das Recht auf selbstbestimmtes Sterben in den Mittelpunkt der Debatte gestellt. Wer kann sich auch anmaßen, über den Sterbewunsch eines Menschen zu befinden, für den sein Leben unerträglich ist? Die evangelischen Theologen Huber und Dabrock kritisierten in der FAZ den so klugen wie mutigen Vorstoß einiger evangelischer Kolleg*innen, den professionellen assistierten Suizid in kirchlichen Einrichtungen nicht prinzipiell zu verweigern. Ein Argument war wie stets, man dürfe Selbstbestimmung nicht ohne Fürsorge denken. Wer aber macht das überhaupt? Und wie kommen die beiden Würdenträger darauf, nur sie täten es nicht? Auch wenn manch säkulare Organisation oder manch ein Sterbehilfeverein gelegentlich etwas einseitig und rustikal rüberkommt, hoffe ich doch, es ist nicht nur der Humanistische Verband, der Selbstbestimmung und nichtpaternalistische Fürsorge zusammen denkt. Suizidprävention sollte ein allen gemeinsames Anliegen sein: Man lebt nur einmal und es immer traurig, wenn ein Mensch seinem Leben nichts mehr abgewinnen kann. Und mein Sterbewunsch ist doch nur dann ein wirklich selbstbestimmter, wenn ich mir sicher sein kann, dass es mein eigener Wunsch ist und ich alle zur Entscheidungsfindung notwendigen Kenntnisse habe. Der fürsorgliche Austausch mit anderen über Unterstützungs- und Hilfsoptionen – die mir vielleicht auch wieder Perspektiven aufzeigen – und über die Authentizität und Dauerhaftigkeit meines Sterbewunsches kann mich gerade bei der Ausübung meines Rechts auf Selbstbestimmung stärken, wenn es dabei darum geht, das aus meiner Sicht für mich Richtige zu finden. Der Wunsch, ausschließen zu wollen, dass mein Sterbewunsch nicht Resultat familiären bzw. oder gesellschaftlichen Drucks oder nur temporär ist, kann nicht nur mein Wunsch sein, sondern auch derjenige anderer, mir naher oder ferner Menschen. Sie können in Ausübung ihrer eigenen Selbstbestimmung im Dialog ethische Verantwortung übernehmen für meine Selbstbestimmung und sich auch politisch engagieren für eine gesetzliche Regelung, die die Ausübung des Rechts auf selbstbestimmtes Sterben so ermöglicht, dass ich dabei in meinem Sinne unterstützt und umsorgt werde. Es kann zugespitzte Fälle geben, wie ihn z.B. von Schirach in seinem Theaterstück „Gott“ konstruiert: Ein gesunder, aber auf Grund des Todes seiner Frau lebensmüder Großvater, wünscht Suizidhilfe. Man kann sich dazu vorstellen, dass seine beiden im Stück nicht zu Wort kommenden Enkelkinder ihn gerne bei sich behalten wollen. Aber selbst in so einem Fall, wo die Selbstbestimmung anderer mitbetroffen ist, muss bei allem fürsorglichen Dialog über alternative Perspektiven, die Entscheidungshoheit letztendlich beim Großvater bleiben.