Pelluchon, die in Paris lehrt und 2021 als Fellow ans „The New Institute“ in Hamburg berufen wurde, argumentiert für einen neuen Humanismus. Das Projekt der Aufklärung sei nicht abgeschlossen, die Berücksichtigung der ökologischen Herausforderung sowie der Interessen der Tiere und anderer Generationen ist noch zu leisten. Die Anliegen feministischer, postkolonialer und postmoderner Kritik an der Aufklärung rechnet sie dem aufklärerischen Streben nach Emanzipation zu. In Pelluchons nichthegemonialen Universalismus haben Vernunft und Gleichheit genauso ihren zentralen Platz wie Körperlichkeit und Differenz. Sie bringt die „Allgemeine Erklärung der Menschheitsrechte“ von 2015 als Vervollständigung der Menschen- und Bürgerrechte mit dem Ziel ins Spiel, den verkürzenden Individualismus letzterer zu korrigieren. Aufklärung und Humanismus sind ihr nicht Lehre oder Wissensbestand, sondern eine praktische Lebenshaltung, ein allgemeines „Wertschätzungsschema“, das das dominante „Herrschaftsschema“ ablösen soll.
Corine Pelluchon: Das Zeitalter des Lebendigen – Eine neue Philosophie der Aufklärung
Aus dem Französischen von Ulrike Bischoff. 2021.
wbg Academic, Darmstadt. WBG
320 Seiten, 50 Euro
ISBN: 3534273605
2019 war in Deutschland Pelluchons Buch „Ethik der Wertschätzung – Tugenden für eine ungewisse Welt“ erschienen (in Frankreich 2018), mit dem sie hierzulande bekannt wurde. Davon ausgehend, dass gerechte gesellschaftliche und staatliche Institutionen auch ebensolche Menschen brauchen, die sie zu beleben verstehen, präsentiert Pelluchon eine moderne Tugendethik. Es geht ihr nicht um die philosophische Rechtfertigung moralischer Prinzipien, sondern um die Gemeinwohlorientierung stärkende Rolle der Selbstverhältnisse von Personen. Motivationale und affektive Kräfte findet sie in der allzu oft ausgeblendeten Verletzlichkeit von Personen. Fernab von Religion stellt sie „Demut“ und „Transdeszendenz“ heraus: Wir sind fleischliche und gezeugte Wesen und gehören zu einer Welt, die größer und älter ist als wir selbst, die aus vorhergehenden und nachfolgenden Generationen, aus einem natürlichen und kulturellen Erbe besteht. Ziel ist die Kultivierung von Wertschätzung (franz. Original: „considération“, was nicht ganz identisch ist): Wertschätzung des eigenen Lebens, des Lebens anderer Menschen und anderer Lebewesen sowie der dieses Leben ermöglichenden kulturellen und natürlichen Umwelt, in Anbetracht ihrer aller Fragilität.
Ethik und Politik basieren bei Pelluchon auf einer Phänomenologie, der sie einen ontologischen Stellenwert zuschreibt. Das schon 2015 in Frankreich erschienene Buch „Wovon wir leben – Eine Philosophie der Ernährung und der Umwelt“ ist seit 2020 auch in deutscher Übersetzung erhältlich. Pelluchon, die im selben Jahr den Günter Anders-Preis für kritisches Denken erhielt, entwirft hier eine moderne Existenzphilosophie, eine Phänomenologie der Nahrung. Mit Nahrung sind nicht nur Lebensmittel gemeint, sondern all das, wovon Menschen materiell und geistig leben und zehren. Ausgangspunkt ist kein isoliertes Individuum, sondern ein relationales, das immer schon in nährenden Beziehungen zu anderen Menschen und Lebewesen sowie zu Natur und Kultur steht. Das Leben ist primär Genuss und jeder Mangel eine kritikwürdige Schwundstufe. Der von Pelluchon geforderte neue Gesellschaftsvertrag zielt auf die Realisierung eines sich nährenden, genießenden Lebens für alle und den Erhalt ihrer Bedingungen.
Corine Pelluchon war in diesem Jahr zu Gast in der Fortbildung „Humanismus kompakt – Eine Einführung in vier Worten und 540 Minuten“ der Humanistischen Akademie Berlin-Brandenburg. Mit ihren Ausführungen zu einem neuen Humanismus hat sie die Teilnehmer*innen aus unterschiedlichen Verbänden und Praxisfeldern beeindruckt. Der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft ist dafür zu danken, dass die drei philosophischen Werke auch einer deutschsprachigen Leserschaft zugänglich sind. Die Bücher, wenn auch nicht für jede und jeden so leicht erschwinglich, sind ihr Geld allemal wert.