„Was vom Glauben bleibt“: Das will Prof. Bernd Stegemann wissen, Regisseur, Dramaturg und Mitgründer der eigentlich linken Aufstehen-Bewegung von Sahra Wagenknecht in seinem neuen Buch von 2024. Sich selbst verortet er als „ungläubig“, zugleich tief durch den Katholizismus geprägt. „Im dritten Jahrhundert des Experiments des Lebens ohne Gott“ sieht er – man reibt sich die Augen – das Hauptübel der angeblich orientierungslosen, nihilistischen Gegenwart in der säkularen Entkernung und Zersplitterung des Glaubens. „Religionslose Glaubensgefühle“ und heimatlose Glaubenspartikel geisterten als „säkularer Glaube“ herum und verknüpften sich mit Rationalem zu problematischen Kombinationen; der überzogene Individualismus führe zu Ratlosigkeit, Verzweiflung, Hybris und politischem Fanatismus.
Nahtlos knüpft er damit an den Stil des katholischen „syllabus errorum“, des päpstlichen Katalogs der „Irrtümer“ an. Im 19. Jahrhundert hatte die katholische Kirche nach den Erfahrungen der Revolutionszeit eine innere und äußere „Wagenburg“ gegen die Moderne errichtet und autonome Vernunft, Aufklärung, Wissenschaft, Demokratie und Menschenrechte pauschal als Abfall von Gott und Kirche verdammt. Kritiklos übernimmt Bernd Stegemann theologisches Vokabular und spricht, nebulös „raunend“, von der „atheistischen Apokalypse“. Sein Wegweiser zurück auf den rechten Pfad der Demut ist der von ihm verehrte katholische Philosoph Josef Pieper, den er als Gymnasialschüler in Münster kennenlernte und auf den er sich jetzt zurück-besinnt. So gliedert er sein Buch mit der bekannten paulinischen Bibeltrias Glaube, Hoffnung und Liebe. Zielpunkte seiner regressiven Nabelschau sind ein vages Warten auf die göttliche Gnade, ein Lob gemeinsamer Rituale/Sakramente und die Erinnerung an bessere Zeiten: „Solange wir uns noch mit Geschichte daran erinnern, dass es etwas Heiliges gab, an das es sich zu erinnern lohnt, sind wir nicht verloren.“
Bei den Kritikpunkten an der Gegenwart kann man ihm teilweise folgen. So spricht ja auch Jürgen Habermas von einer „entgleisenden Moderne“. Kulturkritik, auch zuspitzende, ist legitim und notwendig. Rückgriffe auf religiöse Sinnmodelle wie die Gnosis, eine verketzerte Variante des Christentums, oder die protestantische Ethik des Kapitalismus sind nicht von vornherein „Teufelszeug“. Richtig ist, dass es wieder religiösen politischen Fanatismus wie den Islamismus, Putins heiliges Russland oder auch den MAGA-Trumpismus gibt und dass z. B. die radikal-ökologische Klimakritik auch messianisch-apokalyptische Züge trägt. Das woke, schwärmerische Engagement insbesondere von linken Identitäts- und Antidiskriminierungspolitiken grenzt sicherlich manchmal an den sektiererischen Eifer früherer Kleinreligionen. Und das „Opfer“ ist unstrittig ein ursprünglich religiöser Begriff. Schwieriger wird es bei den totalitären Ideologien des 20. Jahrhunderts, beim Stalinismus und beim Nationalsozialismus. Gewiss hatten auch sie religiöse Elemente wie Endzeithoffnungen und „Auserwählte“ im Programm. Der Begriff „Ersatzreligion“ verkürzt und verharmlost jedoch ihr menschenfeindliches Wirken. Carl Schmitt, ein NS-Sympathisant, der alle Staats- und Politikbegriffe auf theologische Ideen zurückführt, lässt grüßen.
Ärgerlich eindimensional ist der historische Teil: kein Wort über säkulare Ethik und Philosophie, Wissenschaft, Staats- und Demokratietheorie seit der Aufklärung. Im Gegenteil: Der Atheismus gefährde die Demokratie! Die Kirchen nennt er „Ruinen“; kein Wort über ihren anhaltenden Einfluss. Die Säkularisierung wird nur als Verlustgeschichte beschrieben; kein Wort über die Schattenseiten der Religionen und über die Verbrechen in ihrem Namen. Kein Wort über das „Eigenrecht“ der Moderne, wie es Hans Blumenberg nannte. Kein Wort über die Errungenschaften der Moderne, von Wissenschaft, Medizin, Technik und Humanisierung. Der Philosoph Charles Taylor argumentiert in seinem Buch „Ein säkulares Zeitalter“ viel konstruktiver und differenzierter. Auch er bedauert als gläubiger Katholik den Niedergang des Glaubens und der religiösen Bindekräfte, sieht jedoch im Pluralismus und Individualismus der Gegenwart auch große Chancen.
Für Humanist*innen bedenkenswert sind Stegemanns biblische Begriffe „Glaube, Hoffnung und Liebe“. Für den Alltag, nicht als Fundament der säkularen Demokratie! Dass es bei vielen Menschen um uns herum mit der Selbstverwirklichung hapert, dass sie einsam und manchmal missmutig sind und ihnen Halt und Ziel zu fehlen scheinen, stimmt ja. Mitmenschlichkeit und Solidarität, pathetisch: Liebe, haben wir Humanist*innen auch im Programm. Und natürlich hoffen wir auf bessere Zeiten, auf Fortschritte der Humanisierung im Großen und im Kleinen. Schwierig wird es, wenn die Zeichen und Zeiten auf Verlust stehen; das betont der Soziologe Andreas Reckwitz. Hoffnung kann machen, wenn es gelingt, das Erreichte gemeinsam einigermaßen zu sichern und zu verteidigen. Ganz schwierig ist es mit dem „Glauben“. Viele aufgeklärte, rationale Säkulare wischen ihn einfach beiseite. Ein Gefühl des „Getragen- und Aufgehobenseins“, von dem spirituell „musikalische“ Zeitgenoss*innen durchaus „glaubwürdig“ berichten, scheint mir jedoch anstrebenswert. Nur Illusion und Selbstbetrug? Die Frage bleibt, worauf es gründen könnte. Stegemanns Erinnerung an Heiliges kann es nicht sein, das sagt sogar die FAZ. Es muss schon aus dem Leben im Diesseits und dem Mit- und Füreinander kommen.

Bernd Stegemann: Was vom Glauben bleibt. Wege aus der atheistischen Apokalypse.
Klett-Cotta, Stuttgart, 2024
288 Seiten, 25 €
ISBN: 978–3‑608–98830‑7