Es war eine herbe Niederlage für die parlamentarischen Befürworter*innen des § 217 Strafgesetzbuch (StGB), als die Karlsruher Richter*innen diesen am 26. Februar 2020 sogar rückwirkend für nichtig erklärten. Bei der Verabschiedung im Dezember 2015 hatte die große Mehrheit der Bundestagsabgeordneten (vor allem aus der Union) als Ziel ihres Verbotsgesetzes genannt, „Geschäfte mit dem Tod“ stoppen zu wollen.
Nun ist genau die Situation wie vor Ende 2015 wieder eingetreten. Die Hilfe zum Suizid ist nicht strafbar. Gleichzeitig gilt seit eh und je, dass die Hilfe zur Selbsttötung ein strafbares Tötungsdelikt bei einem nicht freiwillensfähigen Suizidenten darstellt. Der Verein Sterbehilfe (vormals: Sterbehilfe Deutschland e. V.) konnte die Suizidhilfe direkt nach dem BVerfG-Urteilsspruch nach seinen Sorgfaltskriterien und internen Ethikregeln wieder aufnehmen, erstmalig in Deutschland sogar bei einem Pflegeheimbewohner.
Die eigentlichen Verfasser*innen des § 217 StGB – Frage der Transparenz
Dass durch das BVerfG-Urteil die „Türen zur Tötung“ wieder weit geöffnet seien, behaupteten entsetzt vor allem Kirchen‑, Ärzteschaft‑, Suizidpräventions- und Hospizvertreter*innen sowie in der Politik an erster Stelle die parlamentarische Staatssekretärin Kerstin Griese (SPD), Mitglied im Rat der Evangelischen Kirche. Griese war zusammen mit ihrem Kollegen Michael Brand (CDU) die Initiatorin des § 217 StGB. Dabei blieb im Gesetzgebungsverfahren den Bundestagsmitgliedern verborgen, dass die Formulierung des § 217 bis hin zu Tippfehlern übernommenen Vorschlag der Deutschen Stiftung Patientenschutz (ehemals „Hospizstiftung“, 1995 vom römisch-katholischen Malteserorden gegründet) entsprach.
Wie Eugen Brysch, der Geschäftsführer der Stiftung, in einem Videobeitrag der Zeitung Die Zeit ausführt, wurde der Text zusammen mit Steffen Augsberg, Professor für öffentliches Recht an der Universität Gießen, verfasst. Letzterer hat den Gesetzentwurf zu § 217 StGB dann in der Anhörung im Ausschuss des Bundestages als neutral erscheinender wissenschaftlicher Rechtsexperte vertreten – zusammen mit weiteren Befürwortern, die entweder offen als Funktionsträger (Ex-Bischof Wolfgang Huber) oder verdeckt als Mitglied der „Akademie des päpstlichen Lebens“ (Palliativmediziner Thomas Sitte) in enger Verbindung zu den christlichen Kirchen stehen. In dem hochinformativen Zeit-Video sagt Timo Lange, Sprecher des Vereins Lobbycontrol, dazu: Es sei zwar nicht zu beanstanden, wenn Kirchenautoritäten und Vertreter*innen von Glaubensvorstellungen, die über das Persönliche in den Bereich des Lobbyismus hinausgehen, auf Gesetzgebungsverfahren Einfluss nehmen. Allerdings wäre die „Frage der Transparenz“ dabei entscheidend. In diesem Sinne hätte die ursprüngliche Autorenschaft bei dem Gesetzentwurf deutlich gemacht werden müssen, als er im Bundestag zur Abstimmung vorgelegt wurde.
Humanistischer Gesetzentwurf gegen neue Restriktionen der Suizidhilfegegner*innen
Besonders Griese zeigte sich am Tag des BVerfG-Urteils entsetzt: Durch den Richterspruch steige der Druck auf alte und kranke Menschen, sie „habe die Sorge, dass jetzt die Zahl der Suizide steigt“. Der von Griese, den Kirchen und allen für Strafbarkeit bei der Suizidhilfe plädierenden Organisationen vertretene Ansatz kann als ein konservativer „sozialethischer“ bezeichnet werden. Danach ist – zunächst ja sinnvollerweise – der Sozialstaat aufgefordert, Würde wahrende Pflege, Palliativmedizin, Hospizarbeit und „Selbstmord“-Verhütung zu fördern als Alternativangebot zur Suizidhilfe – um diese so weit wie möglich zu verbieten. Allenfalls in extremen Einzelfällen dürfe bei absolut unerträglicher und nicht linderbarer Qual in todesnaher Situation straffreie Hilfe zur Selbsttötung gewährt werden. Die Nachhaltigkeit, Freiverantwortlichkeit und Ernsthaftigkeit des Sterbeverlangens müssten zudem durch Maßnahmen wie regelhafte psychiatrische Begutachtung, ärztliche Zweitmeinung und Wartefristen (ein Vorschlag christlicher Mediziner*innen sieht jetzt sechs Monate vor!) mit Sicherheit festgestellt worden sein.
Eine neue strafrechtliche Durchsetzbarkeit dieser Vorstellungen in Reinform ist zwar nicht mehr möglich. Aber diejenigen, die eine sogenannte Normalisierung des Suizids für das schlimmste aller Übel halten, können in der über 100-seitigen, auch Risiken abwägenden Urteilsbegründung durchaus ein breites Spektrum an neuen Einschränkungsmöglichkeiten finden.
Der Humanistische Verband Deutschlands hat demgegenüber bereits im März einen vorläufigen und Anfang Mai den endgültigen Entwurf für ein „Suizidhilfekonfliktgesetz” vorgelegt, welcher von einer individualethischen Prämisse aus argumentiert. Dieser lehnt – ebenso wie sämtliche anderen Organisationen aus dem humanistisch-säkularen Umfeld – neue Zwangs- und Strafmaßnahmen ab und basiert vor allem auf freiwillig zu nutzenden Gesprächsangeboten in ergebnisoffener Suizidhilfe-Beratung und vertrauensvoller Arzt-Patienten-Beziehung. Dies entspricht dem Geist des BVerfG-Urteils: Suizid mit Hilfe Dritter human realisieren zu können, wird in den Leitsätzen als Besiegelung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts und damit der Menschenwürde ausgelegt.
Die alten Seilschaften der Suizidhilfegegner*innen mögen zwar die Restriktionsmöglichkeiten bis an den Rand einer erneuten Verfassungswidrigkeit zu nutzen versuchen. Allerdings drohen mit zunehmender Transparenz ernsthafte Folgen für die Akzeptanz in der Bevölkerung sowie auch für innerkirchliche Sprengkräfte.
Sprengkraft und Krise für die christlichen Kirchen
Am Tag der Urteilsverkündung war die als ökumenisch präsentierte Christenwelt zwischen Evangelischer Kirche (EKD) und Deutscher Bischofskonferenz (DBK) noch in Ordnung. In einer gemeinsamen Erklärung kritisierten EKD und DBK die Karlsruher Entscheidung in schärfsten Worten als „Einschnitt in unsere auf Bejahung und Förderung des Lebens ausgerichtete Kultur“. Nun ist es zu einer ernsthaften Krise gekommen. Ausgelöst wurde sie durch einen Brief von Bundesgesundheitsminister Spahn vom 15. April 2020, worin dieser für sein geplantes „legislatives Schutzkonzept“ – ausschließlich bei Adressaten in diesem seinem Sinne – um Vorschläge nachsucht.
Ein ursprünglich selbstbestimmungsorientiertes, vom Münchner Theologieprofessor Reiner Anselm verfasstes Antwortschreiben an Spahn wurde in letzter Minute von der EKD-Hierarchie gestoppt und völlig umgeschrieben. Anselm hatte eine humanistisch anmutende Stoßrichtung vorgegeben und primär die Gewissensentscheidung des Einzelnen im Sinne des Karlsruher Urteils anerkannt. Als Hauptsatz des Anselm-Papiers galt, wie die F.A.Z. vom 18. Juni 2020 zu berichten wusste, es sei ein „Gebot der Humanität, Menschen, die sich zu diesem letzten Schritt entschieden haben, zu einem auf menschenwürdige Weise vollzogenen Suizid zu verhelfen“. Diese als anstößig empfundene Formulierung wurde jedoch von der EKD getilgt und stattdessen eine kritische Bewertung zu den „den Suizid nahezu heroisierenden Formulierungen“ des BVerG-Urteils eingefügt.
Prinzipiell wolle man, so die EKD in ihrem Schreiben vom 15. Juni 2020 an den Bundesgesundheitsminister, innerhalb der Beschränkungen des Karlsruher Urteils konstruktiv bei einer Neuregelung der Suizidhilfe zusammenarbeiten. Ging auch der Theologe Anselm erst vom Individuum aus und bezog dann das Soziale und Übergreifende ein, so bleibt es nun nach der Umstellung durch die EKD umgekehrt bei dem folgenden: An erster Stelle steht die Schaffung eines suizidverhütenden Klimas und der Lebensschutz, dann der Ausbau der Palliativmedizin und an letzter Stelle kommt der extreme Einzelfall des trotz allem noch suizidwilligen Menschen in den Blick.
Weder Fisch noch Fleisch – Politische Gemengelage bleibt ungewiss
An dem neuen EKD-Positionspapier kritisieren liberale evangelische Kirchenvertreter*innen und Laien, es berücksichtige die entscheidende Selbstbestimmungsfrage kaum und sei „weder Fisch noch Fleisch“. Aus Sicht der Katholischen Kirche bleibt dies ein Schlingerkurs der EKD. Es ist fraglich, ob die DBK weiter auf diesem mitzugehen bereit ist, da sie ja in bioethischen Fragen ihre traditionelle Lehre (wie etwa auch zum absoluten Embryonen-Schutz) ganz eindeutig geltend machen muss. Die DBK verurteile das Eintreten der EKD für ein „Einzelfall-bezogenes Verfahren“, wie sie dem Gesundheitsminister laut katholisch.de mitgeteilt habe. Danach verwerfen die Bischöfe jeden „Kompromisscharakter“ zwischen individual- und sozialethischer Auffassung als unzulässig. Wenn sich ein Mensch zu einer suizidalen Handlung gedrängt fühle, wäre er zwar nicht moralisch zu verurteilen, ihm sei aber ausschließlich einfühlsame Seelsorge anzubieten. Als verantwortlich dafür, dass sich bei der EKD doch nichts grundsätzlich ändern sollte, stehen gemäß der F.A.Z.v „als maßgebliche Treiber“ hinter der Ablehnung des ursprünglich liberalen Antwortschreibens an Spahn drei Personen: der frühere Vorsitzende des Ethikrates Peter Dabrock, der EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strom sowie die SPD-Politikerin Griese. Griese wird zitiert mit den Worten: Das EKD-Papier zeuge jetzt von „einer klaren Haltung“, die „auf der bisherigen Linie“ liege.
Der Humanistische Verband Deutschlands sieht sich besonders herausgefordert, seine individualethisch begründete Weltanschauung und Werteorientierung im konstruktiven Dialog mit der Politik geltend zu machen. Sein frühzeitig vorgestellter, alle Aspekte der Suizidhilfe umfassender Gesetzentwurf stößt im Bundestag bereits auf einiges Interesse, bei einzelnen Abgeordneten der Linken und der Grünen und in der wieder im Bundestag vertretenen FDP-Fraktion. Darüber hinaus gibt es mit Politiker*innen, die nach der parlamentarischen Sommerpause interfraktionell ein liberales Regelungskonzept zur Suizidhilfe auf den Weg bringen wollen, teils guten Kontakt und auch bereits Gesprächsverabredungen. Allerdings greifen konservativ-christliche Politiker*innen wie Spahn weiter auf altbewährte Kräfte und „Moralvertreter“ zurück, die sich allesamt als „lebensbejahend“ in Szene setzen – auch wenn sie für das verfassungswidrige Desaster erheblich mitverantwortlich sind.