Bekanntermaßen erweist es sich in vielen Regionen Deutschlands, vor allem im überwiegend katholischen Süden, als schwer bis unmöglich, eine Schwangerschaft ohne „Hindernislauf“ abbrechen zu lassen. Doch die Versorgungslage ist oft noch schlechter als allgemein angenommen. Wurden 2003 noch etwa 2.050 Meldestellen (vorwiegend Praxen) erfasst, die entsprechende Eingriffe anboten, waren es Ende 2020 nur noch gut 1.100.
Immer gravierender werdende Mangelsituation
Dies erklärte Christian Albring, Präsident des Berufsverbands der Frauenärzte, im Deutschlandfunk so: Vermehrt hätten sich Abtreibungsgegner*innen mit „Gehsteigbelästigungen“ in bedrohlicher Weise postiert. Sie zeigten außerdem informierende Ärzt*innen wegen angeblichen Verstoßes gegen das Werbeverbot im § 219a StGB an und schüchterten sie damit ein. Die bislang praktizierenden – und politisch pro Frauenrechte sozialisierten – Gynäkolog*innen wären nach und nach in Rente gegangen. Für die nachfolgenden Generationen sei das Thema wenig relevant – zumal es im Medizinstudium kaum behandelt wird. Die private Vergütung für diese „Sonderleistung“ befindet sich im mittleren dreistelligen Bereich, ist also nicht üppig. Hat eine Frau nur ein Monatseinkommen unter 1.250 Euro, besteht Anspruch auf Kostenübernahme. Dies ist (neben zahlreichen weiteren Bestimmungen) im Schwangerschaftskonfliktgesetz geregelt.
Erschütternd sind Erlebnisberichte von Frauen, die eine Schwangerschaft abgebrochen haben, welche das Netzwerk von CORRECTIV.Lokal aufgezeichnet und im März 2022 veröffentlicht hat. Nach einer (nicht repräsentativen) Befragung von etwa 1.500 Betroffenen in ganz Deutschland klagten viele Frauen, sich stigmatisierend behandelt oder alleingelassen gefühlt zu haben. Jede vierte gab Probleme bei der medizinischen Versorgung an: etwa fließbandmäßige Abfertigung, schwerwiegende Komplikationen, fehlende Aufklärung, verweigerte Schmerzmittel.
Als zumindest mitverantwortlich gilt die deutsche Strafrechtsregelung von 1995. Sie stellt das in Gesetz gegossene, bis heute nicht revidierte Votum des Bundesverfassungsgerichtes zum Schwangerschaftsabbruch dar. Karlsruhe hatte – wie bereits 1974 die Fristenlösung unter der Brandt-Regierung – 1993 das gesamtdeutsche Gesetz mit Orientierung an der DDR-Regelung wieder für nichtig erklärt. Diese beiden frauenrechtlich orientierten Modelle entsprachen den heute in den meisten europäischen Ländern geltenden Fristen- bzw. liberalen Indikationsregelungen. In Deutschland wurden sie jedoch zweimal nach kirchlichen und konservativen Empörungsstürmen höchstrichterlich wieder gekippt. Der schließlich errungene faule Kompromiss von 1995 wird als „Beratungsmodell“ bezeichnet: Es ist keine bedingungslos straffreie Frist für einen selbstgewählten Schwangerschaftsabbruch vorgesehen, weil damit das angeblich von Beginn an zu wahrende vorgeburtliche Lebensrecht unberücksichtigt bliebe.
Würdeschutz früher Embryonen – Strafbarkeitsparadoxie seit 1995
Seit gut einem Vierteljahrhundert gilt im gesamtdeutschen Strafrecht in § 218 wieder für jede eben im Uterus eingenistete (lediglich mehrfach geteilte) Eizelle ein grundsätzliches Lebensrecht. Demnach soll dieses nicht etwa erst einem Fötus im späten Entwicklungsstadium zukommen, wenn er im siebten Monat auch schon außerhalb des Mutterleibes lebensfähig wäre. In Abwägung mit dem Frauenselbstbestimmungsrecht ist zu berücksichtigen, dass erst fortschreitende Phasen des vorgeburtlichen Werdens eine zunehmende Schutzwürdigkeit bedeuten. Im § 218 StGB wird jedoch zunächst jeder (!) Schwangerschaftsabbruch unter Strafe bis zu Freiheitsentzug von drei Jahren gestellt. Diese verabsolutierte, christlich motivierte Unantastbarkeit eines embryonalen „Zellhäufchens“ wird vom Humanistischen Verband strikt abgelehnt. Ein Würdeschutz bereits für die befruchtete Eizelle widerspricht nicht nur einer säkularen Weltanschauung, sondern heute einem allgemein verbreiteten Menschenbild sowie medizin- und bioethischen Verständnis.
Die Kriminalisierung im § 218 StGB verfestigt das gesellschaftliche Tabu und die Stigmatisierung ungewollt Schwangerer; die reproduktiven Selbstbestimmungsrechte werden quasi durch eine Austragungspflicht ersetzt. Allerdings sind dann im 218a StGB Ausnahmeregelungen aufgeführt. Danach wird – paradoxerweise bei fortbestehender Rechtswidrigkeit (!) – von Strafe abgesehen: Nämlich innerhalb der ersten zwölf Schwangerschaftswochen bei verpflichtender Konsultation einer Schwangerschaftskonfliktberatungsstelle mit anschließend dreitägiger Wartezeit. Laut Statistischem Bundesamt betreffen diese „Normalfälle“ gut 95 Prozent aller Abbrüche. Zudem sind im § 218a zwei Indikationen aufgeführt – neben der kriminologischen (Vergewaltigung) vor allem die medizinische (Gesundheitsgefährdung der Frau). Dann wird ein Schwangerschaftsabbruch ohne Beratungspflicht von den Krankenkassen bezahlt und ist bis zum Eintritt der Geburtswehen (!) auch nicht rechtswidrig. Insofern würde – eine weitere heuchlerisch geprägte Paradoxie – sogar für einen normal hochentwickelten Fötus quasi ein geringerer Lebensschutz gelten als für eine eben eingenistete Eizelle.
Dokumentation in Zahlen
Lange war es um den § 218 StGB relativ ruhig geblieben. Ein Grund dürfte sein, dass auf Basis des § 218a statistisch registriert (bei bestehender Dunkelziffer) jährlich rund 100.000 Abbrüche straffrei vorgenommen werden. Davon erfolgen gut 4.000 späte Abbrüche für die Betroffenen kostenfrei aufgrund der Indikationsregelung. Hinzu kommen jährlich weit über 1.000 von deutschen Frauen in den Niederlanden vorgenommene Eingriffe, die dort bis zur 22. Schwangerschaftswoche problemlos möglich sind. Die Zahl der sehr späten Abbrüche ab dem sechsten Monat gemäß Indikation wird hierzulande auf rund 500 jährlich geschätzt.
Von den etwa 1.900 deutschen Krankenhäusern führen konfessionelle in aller Regel keine oder kaum Schwangerschaftsabbrüche durch, da sie spezifischen kirchlichen Loyalitätspflichten unterliegen. Eine detaillierte Recherche von CORRECTIV.Lokal mit der Transparenzinitiative FragDenStaat fokussierte sich auf die 309 öffentlichen Krankenhäuser mit Gynäkologie-Abteilung. Denn diese wären als Teil der staatlichen Gesundheitsversorgung eigentlich besonders verpflichtet, regionale Versorgungslücken zu schließen. Die aufwändig durchgeführte Datenabfrage zeigt einen gewaltigen Missstand auch bei den Kliniken in öffentlicher Trägerschaft: Von diesen gaben 57 Prozent an, grundsätzlich keine Abbrüche nach regulärer Beratungsregelung durchzuführen (sondern allenfalls nach medizinischer Indikation), weitere verweigerten jede Auskunft. Als Grund gilt etwa, ein „babyfreundliches“ Haus zu sein – oder es schwingt die Sorge vor einer aufgeheizten Stimmung mit. Den „Spitzenplatz“ nehmen die (in öffentlicher Hand befindlichen!) 83 Gynäkologie-Stationen in Bayern ein, von denen 26 ausschließlich bei gravierender Gesundheitsgefährdung der Frau einen Abbruch vornehmen würden und lediglich 9 in regulären Normalfällen.
Humanistische Positionierung: Betroffenen mit Sofortmaßnahmen helfen
Eine mit fachlicher Unterstützung (vor allem durch den Ethik-Professor Hartmut Kreß, Experte für Reproduktionsmedizin) abgestimmte und zur Diskussion gestellte Positionierung des Humanistischen Verbandes kann wie folgt zusammengefasst werden:
In Übereinstimmung mit der Pro-Choice-Bewegung („für Wahlfreiheit“) darf keine Frau zur Austragung eines Ungeborenen gedrängt werden und müssen die Selbstbestimmungsrechte von Schwangeren den Ausgangspunkt für eine Neuregelung bilden. Jedoch dürfen dabei die Stadien der vorgeburtlichen Entwicklung nicht unberücksichtigt bleiben. Je später der Schwangerschaftsabbruch, desto weiter hat der entwickelte Fötus die Schwelle zur Schmerzempfindlichkeit, Gehirnentwicklung und schließlich (frühgeburtlichen) Lebensfähigkeit überschritten. Anzustreben ist eine Fristenlösung (statt, wie radikal gefordert, einer zu erbringenden Gesundheitsleistung mit völliger Freigabe – das hieße bis zum 9. Monat). Die herkömmliche 12-Wochenfrist sollte auf etwa 16 Wochen (ab Befruchtung) erweitert werden, zu denken wäre auch an einen Zeitraum von bis zu 20 Wochen, in dem keine verpflichtende Beratung zu gelten hätte. Auch weiterhin sollten Ärzt*innen bei ernsthaften Gewissensvorbehalten nicht zu einem Abbruch gezwungen werden können mit dem Hinweis, dieser wäre doch ein medizinischer Eingriff wie jeder andere.
Laut Ampelkoalitionsvertrag soll der § 219 a (Werbung) jetzt abgeschafft und auch anderen Einschüchterungsmaßnahmen entgegengewirkt werden – eine Streichung des § 218 StGB ist ausdrücklich nicht vorgesehen. Die betroffenen Frauen sind in dieser Situation aber nicht länger allein zu lassen. Als Sofortmaßnahmen muss strukturpolitisch sichergestellt werden, dass Schwangerschaftsabbrüche gemäß heute verfügbarer Methoden und bestmöglicher Standards flächendeckend in Anspruch zu nehmen sind. Vorrangig ist die Aufnahme dieser ärztlichen Aufgabe in die professionelle Aus- und Weiterbildung und Forschung. Eine weitgehende Kostenübernahme durch die Krankenkassen ist anzustreben. Kliniken mit Versorgungsauftrag sind dazu zu verpflichten, hinreichend Angebote vorzuhalten und müssten andernfalls mit Einbußen bei den staatlichen Finanzleistungen rechnen. Als Vorbilder gelten zudem Länder wie die Niederlande, Schweden oder England wegen früher Abbruchsmöglichkeiten mit Medikamenten zu Hause, Sexualaufklärung und günstig verfügbarer Verhütungsmittel.
Mittelfristig ist eine konkrete, grundlegend neue Gesamtregelung auf den Weg zu bringen. Fristen- und Indikationsmodelle wären in Sondergesetzen regelbar. In Deutschland käme dazu etwa eine Umstrukturierung des bestehenden Schwangerschaftskonfliktgesetzes in Frage.