Warum beschäftigen wir Humanist*innen uns immer wieder mit dem Thema Suizidhilfe? Schließlich ist die Zahl der Menschen, die mit fremder Hilfe aus dem Leben scheiden, bei uns recht klein. Die drei in Deutschland tätigen Suizidhilfeorganisationen haben nach eigenen Angabe in 2021 knapp 350 Menschen bei der Selbsttötung geholfen oder Hilfe vermittelt. Das sind weniger als 1 Promille der insgesamt Gestorbenen. Selbst wenn doppelt sovielen Menschen von Ärzten und Anderen unbekannterweise beim Suizid geholfen wurde, wäre das Promille gerade voll.
Von den Vereinigungen der Palliativmediziner und vielen Psychotherapeuten hören wir: „Niemand muss aus medizinischen, auch psychischen Gründen heutzutage sein Leben vorzeitig beenden.“ Und in der Tat sind ja in den letzten Jahren große Anstrengungen im Bereich der Palliativversorgung gemacht worden.
Ohne Zweifel gibt es zwischen Schwangerschaft und dem uns alle betreffenden Tod noch viele andere Themen, um die Humanist*innen sich kümmern könnten und sollten. Dennoch hat sich der Humanistische Verband seit seiner Gründung immer wieder mit dem Thema Autonomie am Lebensende beschäftigt. Er hat Erklärungen verabschiedet und Gesetzentwürfe, es wurden Artikel und Bücher geschrieben und es wurde in der praktischen Arbeit, in den Hospizen und der Pflege- und Seniorenbetreuung Menschen ganz allgemein Hilfe beim Sterben geleistet. Suizidhilfe ist nur ein kleiner Teil davon. Diese Praxis, so unterentwickelt sie noch ist, unterscheidet unseren Ansatz von anderen Organisationen, die nur Suizidbeihilfe anbieten, eventuell gekoppelt mit Patientenverfügungen. Hierin mag auch die Ursache von Differenzen liegen, die es in Detailfragen gibt. Dazu gehört die Frage, ob Suizidhilfsmittel quasi auf Antrag vom Staat bereitgestellt werden sollen, ein Abholschein für ein tödliches Barbiturat also. Hierhin gehört auch die Frage, ob sich Menschen, die von anderen eine Hilfe bei der Selbsttötung erwarten, einer Beratung unterziehen müssen.
Bleiben wir zunächst bei der Sterbehilfe allgemein. Sterbehilfe ist nicht mit Suizidhilfe oder Tötung auf Verlangen gleichzusetzen. Dafür ist der Begriff viel zu tief. Bei Sterbehilfe geht es, auch aus humanistischer Sicht, um Hilfe für Menschen, die vor ihrem Lebensende stehen. Das Leben zu verlieren ist für die Menschen gewöhnlich eine zutiefst schmerzliche und traurige Angelegenheit.
Sterbehilfe ist mehr als rein medizinische Hilfe. Sie ist vornehmlich Hilfe bei der geistig-seelischen Verabschiedung, dem Aufarbeiten des eigenen Lebens und dem Prozess der Trennung von der sozialen Umgebung und von dieser Welt.
Der sterbende Mensch soll nicht alleine bleiben. Er brauche Gesprächspartner, sagte Udo Schlaudraff im deutschen Ethikrat, „mindestens einen, der ihm hilft, mit der Ambivalenz von Todesangst und Todessehnsucht fertig zu werden, die beide in ihm sind. Die Lust zu leben und die Last, so leben zu müssen, wie es jetzt nun einmal nicht anders sein kann, kämpfen miteinander“. (Udo Schlaudraff: Wie wir sterben – Hoffnungen und Ängste. In: Nationaler Ethikrat. Selbstbestimmung und Fürsorge am Lebensende, Berlin 2006, S. 28)
Wenn Menschen über ihr Lebensende nachdenken, dann liegen ihnen zwei Wünsche nahe: Sie möchten gerne medizinisch gut versorgt, möglichst zuhause in ihrem sozialen Umfeld sterben und sie möchten, wenn das Leben nicht mehr erträglich ist, Hilfe bei einer selbstgewählten Lebensbeendigung bekommen können.
Die medizinische Versorgung hat sich für die letzten Generationen massiv verbessert, stationäre und ambulante Hospizdienste haben zugenommen, ebenso die Angebote der Palliativmedizin. Wir wissen jedoch, dass die Versorgung und der Zugang dazu nicht für alle Sterbenden ausreicht. Dies bleibt weiter eine gesellschaftliche Herausforderung. Insbesondere für ausreichende Pflege und Zuwendung am Lebensende stellen wir nicht genügend Mittel bereit. Dies hat natürlich auch Auswirkungen auf Suizide und Suizidwünsche.
Suizid als fraglicher Lösungsansatz
In Deutschland nehmen sich jährlich etwa 9.000 Mitmenschen selbst ihr Leben. Dahinter stecken noch einmal ca. 100.000 Suizidversuche. Mindestens 40 Prozent der erfolgten Selbsttötungen werden von Menschen im Rentenalter begangen.
2009 ging die Berliner Charité in einer Studie den häufigsten Gründen für einen Suizid im Alter nach. Die Motive lagen meist in schweren Erkrankungen, chronischen Schmerzen, Angst vor Abschiebung in ein Heim oder in dem Gefühl, reine Kostenverursacher zu sein. Die Untersuchung veweist auf ein vielgestaltiges gesellschaftliches und gesundheitspolitisches Problem, das eigentlich in Suizidpräventionsprogrammen Berücksichtigung finden müsste.
In Deutschland hat sich 2002 die Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention (DGS) gebildet und es wurde ein Nationales Suizidpräventionsprogramm formuliert mit Unterstützung von Ministerien, Verbänden und Fachgesellschaften. Den Präventionsprogrammen zur Reduzierung der Zahl der Suizidversuche und tatsächlich erfolgreichen Suiziden stehen nach Ansicht der Fachleute in der Praxis noch zu viele Hemmnisse entgegen. Hinhören und Anteilnahme wären gegenüber gefährdeten Personen sehr wichtig. Beides kostet Zeit und damit Geld, z. B. in Arztpraxen, Pflegeheimen und Krankenhäusern.
Der Schweizer Rechtsanwalt Frank Petermann geht bei seinen Überlegungen zu einer wirksamen Suizidprävention von folgender Betrachtung aus: „Suizid ist ein Lösungsansatz unter vielen, ein logischer und universeller, meist jedoch nicht der beste und zufolge seiner Irreversibilität ein tragischer. Im Tierreich unbekannt, darf er als etwas Humanes, dem mit Bewusstsein ausgestatteten Menschen Vorbehaltenes bezeichnet werden.“ (Frank Petermann: Selbstbestimmungsrecht als Ausgangspunkt. In: NZZ, 20.11.2004)
Petermann moniert jedoch: „Praktisch alle Institutionen und Fachpersonen, welche Menschen mit suizidalen Absichten Hilfe anbieten, lehnten jedoch bisher Suizid als Weg der Problemlösung kategorisch ab und sind nicht bereit, diese Ablehnung zu hinterfragen. […] Wer einem Suizid grundsätzlich nicht zustimmen kann, wird aber als Berater nicht ernst genommen und somit auch nicht aufgesucht. […] Der Therapeut muss sich in Bezug auf religiöse, moralische, soziale und weltanschauliche Werte neutral verhalten, will er seinem Klienten ein echter Spiegel sein.“
Für die Schweiz schlug Petermann einen neuen Lösungsansatz in Form eines Gesetzes vor, „welches vertrauenerweckende Beratungsstellen für Menschen mit Suizidwunsch vorsieht, welche Alternativen zu ihrem Sterbewunsch aufzuzeigen vermögen“. Petermann dachte dabei an alle Menschen, die sich mit Suizidabsichten tragen. Im Hinblick auf die Menschen, die Suizidhilfe suchen, hat unser Verband für die Bundesrepublik seit langem die Einrichtung öffentlich finanzierter Suizidkonfliktberatungsstellen gefordert. Diese Forderung ist auch zentral in unserem Entwurf eines Suizidhilfekonfliktgesetzes von 2020 und findet sich wieder in Gesetzesinitiativen im Deutschen Bundestag, die bald beraten werden sollen.
Entscheidend bei solchen Beratungen ist, dass sie das Selbstbestimmungsrecht der urteilsfähigen Person achtet, sie muss eben auch einen Suizidwunsch akzeptieren. Dies gilt, wenn sich zeigt, dass das Problem des Suizidwilligen nicht auf andere Weise gelöst werden kann oder wenn die ratsuchende Person trotz Alternativen über einen längeren Zeitraum an ihrem Sterbewunsch festhält. Die Beratung zielt auf ein besseres Weiterleben hin, nicht auf den Tod. Sie schließt diesen jedoch nicht aus. Wenn es nur darum ginge, dem Suizidwilligen zu seinem Ende zu verhelfen, bräuchte es keine Beratung.
In Ländern, in denen Beihilfe zur Selbsttötung oder gar Tötung auf Verlangen eine offenere und längere Tradition hat, zeigt sich, dass prozentual mehr Menschen diesen Weg der Lebensbeendigung wählen, insbesondere in fortgeschrittenem Krankheitsstadium. In der Schweiz gehen jährlich ca. 1,5 Prozent der Todesfälle auf Suizidhilfe zurück, in den Niederlanden über 4 Prozent der Sterbefälle auf Tötung durch Ärzte nach dem Willen des Patienten. Auch in Deutschland werden wir mit einer Zunahme von Selbsttötungen zu rechnen haben, nachdem das Bundesverfassungsgericht vor zwei Jahren den Versuch gekippt hat, Ärzten und Suizidhilfeorganisationen die Beihilfe zum Suizid zu verunmöglichen. Hochgerechnet auf Schweizer Verhältnisse wären dies irgendwann Tausende assistierte Suizide pro Jahr. Diese Entwicklung mag man bedauern, man kann sie aber auch als Ergebnis einer sich ändernden Haltung der Menschen zum Tod betrachten, die Himmel und Hölle hinter sich lässt.
Noch in diesem Jahr sollen neue gesetzliche Regelungen zum Suizidhilfekomplex erlassen werden. Drei Gesetzesinitiativen aus den Reihen des Bundestages liegen dazu bereits vor. . Wir haben den Bundestagsabgeordneten dazu sieben Orientierungspunkte mit auf den Wege gegeben. Zu hoffen ist, dass es nicht zu einer Neuauflage des alten § 217 StGB in leicht modifizierter Form kommt. Was wir brauchen, ist ein klares Regelwerk außerhalb des Strafgesetzbuches, das insbesondere für Ärzte handhabbar ist. Denn natürlich ist es für alle Patienten wünschenswert, dass sie zwischen einer Hilfe durch Ärzte ihres Vertrauens oder Suizidhilfeorganisationen wählen können, wobei dies auch eine Frage der finanziellen Mittel ist. Für den Fall, dass der eigenständige Weg in den Tod eben nicht auszuschließen ist, benötigen wir verständnisvolle Hilfe, am besten durch auch in dieser Frage fürsorgliche Ärzte.
Unabhängig von der konkreten gesetzlichen Regelung zeichnet sich ab, dass der Staat Beratungsstellen einrichtet, die Menschen mit Suizidgedanken offenstehen sollen. Ergebnisoffen müssen solche Stellen qualifiziert den Wunsch hinterfragen und Alternativen aufzeigen können. Dabei kann es nicht um eine Zwangsberatung gehen. Das wäre absurd und könnte Menschen mit Suizidgedanken von Beratungsstellen fernhalten. Andererseits ist völlig klar, dass ein Mensch, der Hilfe zu einem geplanten Suizid bei anderen Menschen sucht, kaum um eine Befragung und wohlwollende Beratung herumkommt. Denn wer Hilfe leisten soll, muss seine Handlung mit seinem Gewissen vereinbaren und ggf. gegenüber Klägern verantworten können. Da wird in einem langjährigen Arzt-Patientenverhältnis aber kein besonderes Gutachten zur Freiwillensfähigkeit erforderlich sein.
Eine humanistische Position zu einer guten Lebensbeendigung wird sich aber nicht in einer Suizidhilfepraxis verlieren. Wir können diese Frage aber auch nicht einfach der Medizin überlassen. Wir müssen der Frage nachgehen, wie das Leben trotz aller Widrigkeiten ein sozial eingebettetes und medizinisch erträgliches Ende finden kann, bei dem sich die Frage nach einer abrupten Lebensbeendigung nicht stellt. Wir suchen die Kunst eines guten Sterbens.