Der Schwangerschaftsabbruch muss neu geregelt werden, aber keinesfalls weiter mittels des Strafrechts, so der Tenor der Abendveranstaltung „Frauenrecht und Fötenschutz!“ des Humanistische Verbandes Deutschlands – Bundesverband in Kooperation mit der Humanistischen Akademie Deutschland. Eine Freigabe im Sinne des Frauenrechts ohne stigmatisierende Beratungspflicht habe bis zur 21. Schwangerschaftswoche zu erfolgen – so lautet die bereits 2022 veröffentliche Positionierung des Humanistische Verbandes Deutschlands. Darauf weist ein in dritter Auflage erschienenes Grundlagenwerk zur medizinischen Ethik erneut hin.
Auf der Veranstaltung am 13. November wurde betont: Diese Leitlinien des Humanistischen Verbandes Deutschlands, nachzulesen in der Broschüre Zur Neuregelung von Schwangerschaftsabbrüchen, entsprechen im Grundsatz einem voll ausgearbeiteten Gesetzentwurf, der im Oktober 2024 vorgelegte wurde – und zwar von den Rechtsprofessorinnen Friederike Wapler, Maria Wersing und Liane Wörner als Autorinnen, unterstützt von gut zwei Dutzend zivilgesellschaftlichen Organisationen.
Die drei Autorinnen waren Mitglieder einer von der Ampelregierung eingesetzten Kommission, die eine mögliche Neuregelung unter Abschaffung des § 218 StGB überprüfen sollte. Deren Empfehlungen haben lediglich für die Frühphase einer Schwangerschaft ein eindeutiges Votum abgegeben: In dieser sei auch aus „völker‑, verfassungs- und europarechtlicher Perspektive“ die Strafbarkeit bzw. die Rechtswidrigkeit von Abbrüchen keinesfalls haltbar. Die Frühphase bezieht sich allerdings nur auf das erste Drittel (also wie bisher auf die abgeschlossene 12. Schwangerschaftswoche). Die genannten Professorinnen haben darüberhinausgehend eine freizugebende Frist bis zur 22. Schwangerschaftswoche mit Recht (statt mit Pflicht) auf freiwillige Beratung normiert. Diesbezüglich wird ihr Entwurf ganz im Sinne des Humanistische Verbandes Deutschlands von ihm sehr begrüßt und unterstützt.
Rechtwidrigkeit im § 218 StGB als „Unwerturteil“
Auf dem prominent besetzten Podium kam am 13. November in Berlin auch die Dringlichkeit einer allgemeinen Kostenübernahme der Krankenkassen für Verhütungsmittel und Schwangerschaftsabbrüche sowie eine Verbesserung der entsprechenden Fachärzteausbildung zur Sprache. Hemmnis in diesen Bereichen ist die im § 218 StGB unaufhebbare Rechtswidrigkeit, es sei denn, es läge eine Indikation aufgrund Gesundheitsgefährdung der Frau oder ursächlicher Vergewaltigung vor. In allen anderen Fällen, d. h. in gut 95 % aller Abbrüche, auch wenn sie gemäß Folgeparagraf 218a StGB nicht strafverfolgt werden, greifen die negativen Folgewirkungen einer sittlich begründeten Stigmatisierung.
Es gilt derzeit das juristische Konstrukt: Verzicht auf Strafe bei bestehender Rechtswidrigkeit für die ersten drei Monate der embryonalen Entwicklung. Diese sogenannte „befriedende“ Kompromissformel von 1995 kann für normale Bürger*innen, Bundestagsabgeordnete (die auch Laien sind) und die Öffentlichkeit kaum erklärbar oder gar verständlich gemacht werden. Die Widersprüchlichkeiten lassen eine Debatte zur Entstigmatisierung des Schwangerschaftsabbruchs – sei es durch (Teil-)Entkriminalisierung oder aber durch Legalisierung (d.h. vollständige Freigabe bis zur Geburt) – so kompliziert und ideologieanfällig werden.
In dem hier dokumentierten Einführungsreferat von Prof. Hartmut Kreß auf der Veranstaltung des Humanistischen Verbandes Deutschlands wies er auf eine Besonderheit der deutschen Rechtsdogmatik hin: Demnach wird hierzulande mit der Aufnahme ins Strafgesetzbuch gleichzeitig ein „sozialethisches Unwerturteil“ verbunden. Das Strafrecht insbesondere im § 218 StGB soll also eine moralische Stützfunktion übernehmen, um in der Bevölkerung, in der Ärzteschaft und bei ungewollt Schwangeren die Abwehrhaltung gegen „Sittenwidriges“ aufrechtzuerhalten. Diese Abschreckungswirkung wird auch und gerade dann beabsichtigt, wenn faktisch gleichzeitig von Strafe abgesehen wird oder werden musste.
Die traditionelle Rolle der Kirchen
Bei dem zurzeit in der Bundesrepublik (seit 1995) zum Schwangerschaftsabbruch kodifizierten Strafrecht haben sich die beiden Kirchen – tonangebend die katholische – immer wieder für restriktive Einschränkungen im Namen ihrer Sittlichkeitsvorstellungen exponiert, die wesentlich aus dem 19. Jahrhundert stammen. In der Adenauer-Ära hatten sie aufgrund struktureller Autorität und enger Verbindung zu den Unionsparteien maßgeblich alle Liberalisierungsversuche verhindern können. Inzwischen wird im rechtsethischen und ‑wissenschaftlichen Schrifttum durchgängig abgelehnt, das Strafrecht für moralische – und erst recht religiöse – Anschauungen zu instrumentalisieren. In der sozialdemokratischen Ära der 70er Jahre hatte die SPD bereits eine Indienstnahme des staatlichen Rechts für kirchliche Anschauungen zurückgewiesen. Kanzler Helmut Schmidt betonte bereits 1978 demgegenüber die kulturelle Relativität und den Wandel gesellschaftlicher Ansichten.
Somit darf der in der Fassung des § 218 StGB von 1995 normierte Makel, bei einem Schwangerschaftsabbruch rechtswidrig gehandelt zu haben, auf keinen Fall bestehen bleiben. Die staatliche Grundwertedebatte hat sich spätestens nach mehr als einem Vierteljahrhundert auf eine tolerante Sichtweise und eine pluralistische Gesellschaft eingelassen. Das sollte man jedenfalls meinen – bevor unlängst Olaf Scholz in der Abtreibungsfrage mit heftigen verbalen Ausfällen von Friedrich Merz persönlich attackiert wurde.
Empörung von Friedrich Merz über Reformvorschlag aus dem Bundestag
Es war skandalös, als sich im November 2024 der Unions-Kanzlerkandidat öffentlich über den (noch amtierenden) SPD-Kanzler empörte, weil dieser einen sehr moderaten interfraktionellen Entwurf zur Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs mitgezeichnet hatte. Laut Merz handelt es sich bei diesem Vorstoß um „eine Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs“, der eine ideologisch motivierte Spaltung der Gesellschaft provozieren würde. Merz warf Bundeskanzler Scholz vor, sich hinter ein Vorhaben zu stellen, „das wie kein weiteres das Land polarisiert“.
Richtig ist hingegen, dass der interfraktionelle Reformvorschlag lediglich die bisherigen Regelungen aus dem Strafgesetzbuch in das gesonderte Schwangerschaftskonfliktgesetz (SchKG) transformiert. Allerdings würde dadurch bei rund jährlich 95.000 durchgeführten Abbrüchen – heute zwar straffrei – deren nichtsdestotrotz bestehende Rechtwidrigkeit abgeschafft.
Es geht um die Chance einer mehrheitsfähigen Befürwortung des Gruppenantrags der Bundestagsabgeordneten zur Neuregelung der ersten drei Schwangerschaftsmonate noch in dieser Legislatur. Es haben ihn bisher rund 240 interfraktionelle Unterstützer*innen (der SPD, Grünen und Linken) unterschrieben, darunter Olaf Scholz und Robert Habeck. Die beiden Initiatorinnen, Carmen Wegge (SPD) und Ulle Schauws (Grüne), räumen ein: Es handelt sich – angesichts eines durch die Neuwahlen nochmals enger werdenden Zeitfensters – um einen nur „minimalinvasiven“ Eingriff in die bestehende Rechtslage und Praxis. Praktisch würde sich für ungewollt Schwangere und ihre Ärzt*innen kurzfristig nichts ändern, eine geplante Bezahlung des Abbruchs durch die Krankenkassen allerdings in Aussicht gestellt. Fraglos enthält der parlamentarische Entwurf bei weitem nicht das, was in Veranstaltungen, Kampagnen oder Expert*innenkreisen zur Abschaffung des Paragrafen 218 StGB als notwendig erachtet wird. Aber er wäre jetzt dennoch als erster wichtiger Schritt zu weiteren Veränderungen zu unterstützen.
Noch einmal zur Erinnerung und Bekräftigung: Die Straffreiheit bei prinzipiell bleibender Sitten- bzw. Rechtswidrigkeit ist eine eigentümliche deutsche Regulierungsverrenkung. Diese hat notwendige Reformvorhaben blockiert und ist vermutlich verantwortlich für eine sich in manchen Regionen dramatisch verschlechternde gynäkologische Versorgung von ungewollt Schwangeren. Dagegen will eine Gruppe von Bundestagsabgeordneten nun die Sittenwidrigkeit abschaffen, die ja schon darin bestehen soll, auch ein winziges Eizellhäufchen unmittelbar nach Einnistung in den Uterus abzutöten. Das bedeutet keinesfalls den Schwangerschaftsabbruch insgesamt zu „legalisieren“! Denn dabei wäre auch der Lebens- und Würdeschutz bereits hochentwickelter Föten betroffen, wie Friedrich Merz suggerieren will. Olaf Scholz hat vielmehr einen sehr zurückhaltenden Gesetzentwurf mitgezeichnet, der allenfalls eine überfällige Teil-Entkriminalisierung vornimmt.
Lebensschutz als Frage der Weltanschauung
Als Weltanschauungsverband hält der Humanistische Verband Deutschlands die Frage für wichtig, ab wann der frühe Embryo sich überhaupt zu einem schützenswerten Fötenstadium entwickelt. Aus humanistischer Sicht ist er zunächst kein menschliches Wesen, sondern wird stufenweise dann erst als Fötus dazu. Einen religionsgeschichtlichen Einblick in die durchaus wechselvolle jahrhundertelange Geschichte der christlich dominierten Sichtweisen vermochte ebenfalls Prof. Hartmut Kreß zu gewähren. Eines ist dabei unbestreitbares Faktum: Die Frist von drei Monaten („Beseelung“ maximal bis zum 90. Tag) kann allenfalls als herkömmliche, ursprünglich vorwissenschaftliche und als heute vollkommen willkürliche Setzung verstanden werden.
Es ist sehr zu bedauern, dass im interfraktionellen Reformentwurf erstens die Dreimonatsfrist nicht zumindest (!) auf eine Viermonatsfrist erweitert wird und zweitens für Schwangere die Beratungspflicht wie bisher in einer staatlich anerkannten Stelle beibehalten wird. Bei Nicht-Einhaltung dieser beiden Voraussetzungen soll laut § 14 im SchKG (neu) dieselbe Bestrafung für Ärzt*innen gelten wie bisher im § 218 StGB (bis zu drei Jahre Gefängnis) – nur jetzt geregelt im sogenannten Nebenstrafrecht eines Sondergesetzes. Aber: Bei Einhaltung dieser Voraussetzungen entfällt damit eben die Rechtswidrigkeit (d. h. sittliche Unwerterklärung) und wird umgekehrt stattdessen im § 12 SchKG (neu) ausdrücklich zur Rechtmäßigkeit erklärt.
Appelle, Aufrufe, Glaubwürdigkeit und Bündnispolitik
Carmen Wegge schreibt auf ihrer Homepage: „Der Schutz des ungeborenen Lebens ist in der Verfassung verankert. Ein erschwerter Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen erfüllt dieses Ziel jedoch nicht.“ Für diesen sehr oder vielleicht auch zu moderaten Vorstoß soll bei Bundestagsabgeordneten noch auf den letzten Metern geworben werden. Der Humanistische Verband Deutschlands zeichnet einen gemeinsamen Appell von zivilrechtlichen Organisationen an alle Bundestagabgeordneten demokratischer Parteien zur Unterstützung des Gesetzentwurfes mit. Eine Frage scheint allerdings: Hätte es bei dem dort formulierten Appell „schreiben Sie jetzt Geschichte!“ gegenüber noch Schwankenden nicht besser eine Nummer kleiner sein können? Zu denken gewesen wäre an einen Hinweis, dass die Änderungen nicht etwa ideologisch bedingt sind und die interfraktionelle Initiative auch keinesfalls eine absolute „Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs“ vorsieht – wie Friedrich Merz fälschlicherweise behauptet.
Zu fragen wäre auch, ob es zur Unterstützung des Gesetzentwurfs im Bundestag hilfreich ist, für die Großdemonstrationen am 7. Dezember mit einem Text zu werben, der jedenfalls noch unentschlossene Abgeordnete bei einer Abstimmung nicht überzeugen dürfte. Laut einem Beitrag der Giordano-Bruno-Stiftung rufen – unter insgesamt etwa 100 Organisationen – „Amnesty International, das Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung, pro familia und die Giordano-Bruno-Stiftung“ dazu auf unter dem Motto: Abtreibung legalisieren – jetzt!. Dort heißt es: „Die Kontrolle, Ausbeutung und Unterdrückung von Menschen, die schwanger werden können, ist elementarer Bestandteil patriarchaler Herrschaft. […] weltweit bedroht der Aufstieg faschistischer Bewegungen die Rechte von Frauen, Lesben, inter*, non-binären, trans* und agender Personen. Der Kampf gegen Faschismus ist auch ein Kampf für die Selbstbestimmung über unsere Körper und für reproduktive Gerechtigkeit.“ Der Untertitel des Mottos lautet: „Wir sind viele. Wir sind mehr. Wir sind die 75 %“ (angeblich gemäß einer repräsentativen Umfrage).
Der Humanistische Verband Deutschlands wird weiterhin an einer von fortschrittlichen juristischen und medizin-ethischen Expert*innen mitentwickelten Positionierung festhalten, die auf eine Fristenregelung ohne Beratungspflicht bis zur 22. Schwangerschaftswoche hinausläuft. Es geht also um eine Erweiterung der Dreimonatsfrist um mindestens (!) vier bis zu gut acht Wochen. Es ist in der gegenwärtigen Gemengelage nicht ganz einfach, nachhaltig glaubwürdig zu bleiben und sich dabei auch breiten Kampagnen anzuschließen, die gemäß der eigenen Grundüberzeugung entweder zu weit oder nicht weit genug gehen. Dabei hat der für alle weiteren Reformvorhaben notwendige Wegfall der Rechtswidrigkeit als Minimalkonsens zunächst oberste Priorität.