Über Bildung zu schreiben, fällt nicht leicht. Denn die Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit wird immer größer. Gleichzeitig wachsen die Herausforderungen mit jedem Tag und notwendige Mittel werden infrage gestellt oder gleich gekürzt. Der Bildungsnotstand in Deutschland bewirkt, dass immer weniger Menschen eine Chance auf ein Leben in Würde, auf soziale Sicherheit, auf Wertschätzung und Anerkennung haben. Das spüren vor allem von Armut und Ausgrenzung Betroffene. Diese Situation geht einher mit einer gefährlichen Verschiebung des gesellschaftlichen Diskurses in Richtung autoritärer, rechter und rechtsradikaler Positionen und mit einem zunehmenden Rassismus, der nicht zuletzt in den mitleidlosen Debatten über geflüchtete Menschen seinen Ausdruck findet. An den Ergebnissen der letzten PISA-Studie aus dem Dezember 2023 lassen sich die Auswirkungen des Bildungsnotstands ablesen. Hier haben 15-jährige Schüler*innen in Deutschland in Mathematik, Lesekompetenz und Naturwissenschaften schlechter abgeschnitten als je zuvor. Gleichzeitig ist während des dreijährigen Testzeitraums die Schere zwischen Arm und Reich und die Zahl der von Armut betroffenen Kinder und Jugendlichen noch größer geworden. Kinder von Eltern mit niedrigem Bildungsabschluss sind besonders oft von Armut betroffen und haben auch die geringsten Bildungschancen, wie aktuelle Daten des Statistischen Bundesamtes zeigen. Soziale Herkunft, Bildung und Wohlstand bedingen sich nicht nur gegenseitig. Sie sind auch eine entscheidende Voraussetzung dafür, gesellschaftliche Anerkennung, Teilhabe und damit einen positiven Bezug zur Demokratie erfahren zu können.
Das humanistische Bildungsideal sieht den Menschen ganzheitlich und in all seinen Lebensverhältnissen
Deswegen ist es dringend nötig, aktiv für Bildungs- und soziale Gerechtigkeit einzutreten. Insbesondere aus der Perspektive eines humanistischen, ganzheitlichen Bildungsideals. Um es mit Ralf Schöppner, dem Direktor der Humanistischen Akademien Deutschland, zu sagen: Statt bloß einseitig rationale Fähigkeiten zu fördern oder im Menschen nur Material für den Arbeitsmarkt zu sehen, steht in der humanistischen Bildung seine gesamte Entfaltung im Vordergrund. Dazu zählen kognitive, soziale, emotionale, ethische und ästhetische Fähigkeiten. Nicht nur wegen des damit einhergehenden Menschenbildes ist ein humanistisches Bildungsverständnis politisch, sondern auch wegen der sich daraus ergebenden sozialen Verantwortung. Denn aus diesem Menschenbild ergibt sich eine Kritik an den strukturellen Voraussetzungen von Bildungsungleichheit und ein praktisches Streiten für bessere Lern‑, Lebens- und Arbeitsbedingungen. Ohne einen solchen Einsatz kann es keine Bildungsgerechtigkeit geben. Denn Investitionen in Bildung verpuffen, wenn gesellschaftliche Missstände nicht abgebaut werden. Auch aus diesem Grund ist es wichtig, humanistische Bildung ganzheitlich zu denken: Damit Menschen sich kognitiv, sozial, emotional, ethisch und ästhetisch entfalten können, müssen zunächst ihre Grundbedürfnisse erfüllt sein. Von Kindern, die Hunger haben oder Angst davor, nach Hause zu gehen, die von ihrer Lehrerin nicht verstanden oder von ihren Mitschüler*innen abgelehnt und ausgegrenzt werden, sind schwerlich Höchstleistungen in Algebra, Kunst oder Musik zu erwarten.
Humanismus heißt auch: sich einmischen, in und außerhalb von Bildungsinstitutionen
Der gleichermaßen von Armut und Chancenungleichheit wie von fehlenden Investitionen verursachte Bildungsnotstand in Deutschland ist eine Herausforderung für die ganze Gesellschaft. Und folglich auch für einen zeitgemäßen Humanismus. Gerade der Humanismus steht in der Verantwortung, die sozialen, politischen und ökonomischen Ursachen dieser gesellschaftlichen Krise kritisch zu bedenken. Er muss sich bildungspolitisch einmischen und nicht nur in Kitas, Schulen und an außerschulischen Lern- und Begegnungsorten für (mehr) Gerechtigkeit, Menschlichkeit und Solidarität sorgen, sondern auch im täglichen Miteinander, im persönlichen Kontakt.
Der Beitrag erschien zuerst im Magazin der Freund*innen des HUMANISMUS 14 | Frühjahr 2024. Wir danken dem HVD Berlin-Brandenburg für die freundliche Genehmigung zur Zweitveröffentlichung.