Eingeladen hatten die Humanisten Baden-Württemberg (www.dhubw.de). Als Verbandsvertreter*innen waren der Vorstandssprecher Holger Thorein und die Ärztin Dr. Gabriele Will (ehemaliges Vorstandsmitglied) anwesend und aus der gbs-Regionalgruppe die Frauenrechtsaktivistin Miriam Mertens. Es gab etliche Fragen zum Scheitern des Gesetzentwurfs zum Ende der Ampelregierung. Er war in einem überfraktionellen Gruppenantrag vor allem von Abgeordneten der SPD, Grünen sowie der Linken noch im November 2014 eingebracht worden. Die Expert*innen – es waren zwei lokale und zwei von weit angereiste – wurden vom Moderator Andrée Gerland, Geschäftsführer der Humanisten BaWü, vorgestellt, zunächst für den Einführungsvortrag des Ethik- und Theologieprofessors Prof. Dr. Hartmut Kreß (Bonn). Dessen humanistisch-säkulares Engagement ist beeindruckend: u. a. als Beirat im Bertha von Suttner-Studienwerk und im Institut für Weltanschauungsrecht; zudem Mitglied der BAG Säkulare von Bündnis 90/Die Grünen (kooptiert) sowie der Ethikkommission für Stammzellenforschung der Bundesregierung.
Religiöse Hintergründe und Eckpunkte für Reformbedarf
Prof. Dr. Kreß verteilte zu seinem Vortrag ein Papier „für eine Gesetzreform zum Schwangerschaftsabbruch“ mit folgenden Punkten:
- Heutige Gesetzeslage (gesamtdeutscher „Kompromiss“ von 1995) und ihr Hintergrund (1871: Zuchthausstrafe für Abtreibung); seit den 1970er Jahren generell (Ausnahme: bei Indikation) in Westdeutschland unverändert rechtswidrig, aber unter bestimmten Bedingungen straffrei: derzeit innerhalb von 12 Wochen nach einer verpflichtenden Beratung plus mindestens dreitägiger Wartezeit. Diesbezüglich: Stillstand in der BRD trotz Reformvorschlägen. Problematische Versorgungslage: Verweigerung von Abbrüchen in kirchlich, besonders katholisch getragenen Kliniken als Teilproblem.
- Vorgeburtlicher Lebensschutz als religiös-katholisches Argument: Einwand der Sünde. Ehemals und seit Mittelalter gilt Beseelung des Ungeborenen ca. ab 90. Tag – heute willkürlich als Dreimonatsfrist quasi übernommen; 1869 dann bereits Beseelung von Anfang an (nach erstem Vatikanischen Konzil zur Unfehlbarkeit des Papstes und „Abwehr von modern-rationalen Irrtümern“) – heute im § 218 StGB übernommen als Lebensschutzgebot ab Einnistung der befruchteten Eizelle in den Uterus. Hierzu gegenläufig zunehmende Einsichten der modernen Naturwissenschaft: Bewertung von stufenweiser Entwicklung (des frühen Embryos nicht als menschliches Wesen, sondern dann zunehmend des Fetus hin zu einem neugeborenen Menschen). Zudem vor allem Entwicklungen von Frauen- und Persönlichkeitsrechten seit den 1970er Jahren: Selbstbestimmung der Schwangeren und ihre „Mündigkeit“ zur eigenen Entscheidung wird zu einem tragenden Gesichtspunkt.
- Zwei Schlussfolgerungen / Forderungen: 1.) Herausnahme aus Strafrecht: StGB dient hier unzulässig als „sozial-ethische Unwert-Erklärung“ zur Abschreckung („Stigmatisierung“) von abtreibungsbereiten Ärzt*innen (ohne bei einer der jährlich rund 100.000 – an sich rechtswidrigen – Abbrüchen tatsächlich bestraft worden zu sein); rechtsdogmatisch widersprüchlich; Staat ist in moralischen Fragen zu weltanschaulicher Neutralität verpflichtet! 2.) Ausweitung der Frist für legale Abbrüche bis zur 20./24. Woche (aufgrund vorgeburtlicher „Wendepunkte“ wie Schmerzwahrnehmung / Überlebensfähigkeit außerhalb des Uterus).
- Spätabbrüche aufgrund von pränataler Diagnostik: Vor 1995 waren qua eigenständiger „genetischer/ fetopathischer“ Indikation Abbrüche rechtmäßig bis zur 22. Woche. (Dann Herausnahme dieser Indikation auf Drängen von Kirche und Behindertenbewegung.) Seit 1995 sind Abbrüche intransparent (!) aufgrund fetopathischer Schädigung subsumiert unter die Indikation aufgrund unzumutbarer Gesundheitsgefährdung der Schwangeren (als solche dann unbegrenzt rechtmäßig und durchführbar durch „Fetozid“ bis zur Geburt).
Zwei Fachärztinnen mit jahrzehntelanger Erfahrung
Aus Sicht der Praxis kamen nun die beiden eingeladenen ärztlichen Expertinnen ausgiebig zu Wort: Dies war zum einen Frau Dr. Gabriele du Bois (Vertreterin vom Deutschen Ärztinnenbund), Fachärztin aus Stuttgart mit jahrzehntelanger Erfahrung u. a. als Beraterin zu humangenetischen Fragen. Ihre Kollegin Dr. Marion Janke war langjährige Geschäftsführerin von pro familia Stuttgart und zudem auf Landesebene Leiterin einer Informations- und Vernetzungsstelle zu Pränataldiagnostik.
Die Lage in Baden-Württemberg habe sich (ähnlich wie in Bayern) bundesweit gesehen besonders verschlechtert, schilderten beide übereinstimmend. Vor allem katholische Stellen geben keine Bescheinigung für einen straffreien Abbruch aus und werden dennoch aus dem gesetzlich gedeckelten Pool für Schwangerschafts(konflikt)beratung finanziert. Ein Beispiel für die Schwierigkeiten ohnehin belasteter Frauen sei der Antrag auf Kostenübernahme durch das Land bei nach § 218 rechtswidrigen (dabei aber strafbefreiten) Abbrüchen. Es gilt dabei eine strikte Einkommensgrenze bis 1500 € netto. Bei höherem Verdienst muss je nach Methode zwischen 350 und gut 600 € selbst bezahlt werden, da es keine Finanzierung durch die Krankenkassen gibt.
Die aktuellen Strafrechtsparagrafen 218 ff. würden bedeuten, dass Schwangere, die einen Abbruch in Erwägung ziehen, viele Hürden zu überwinden haben. Hingegen würde eine Legalisierung die Bereitschaft von Ärzt*innen und die Ausbildungssituation fördern, sodass bald auch wieder hinreichend ortsnahe Abbrüche möglich würden. Pflichtberatung und Wartefrist hätten auch Auswirkungen auf die Methode der Abtreibung: Medizinisch kann nur bis zur neunten Woche – statt eines operativen – ein i. d. R. zu bevorzugender medikamentöser Abbruch erfolgen. Der zeitliche Druck führe zu einer zusätzlichen Belastung. Die Annahme von Beratung sollte jedenfalls in der Frühphase freiwillig und nicht verpflichtend sein. Diskutiert wurde, ob es angesichts der kontinuierlichen Entwicklung „ungeborener menschlicher Wesen“ überhaupt starre Fristenregelungen (aufgrund welcher Wendepunkte?) geben sollte.
Rechtsausschuss und Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtes
Die Dipl.-Psychologin Gita Neumann (Berlin), Bundesbeauftragte des Humanistischen Verbandes Deutschlands für Medizinethik, hielt ein Co-Referat. In diesem berichtet sie (ausführlich nachzulesen in ihrem diesseits-Artikel) über die Sitzung des Rechtausschusses, womit das Ende des vorliegenden Gesetzentwurfs vom November 2024 besiegelt war. In der Anhörung war dieser noch als alleiniger Tagessordnungspunkt von sachverständigen Befürworter*innen wie Gegner*innen analysiert und bewertet worden. Dabei galt er im Bundestag als vermutlich mehrheitsfähig. Denn es handelte sich um einen Minimalkonsens, der die Regelung von Abbrüchen aus dem Kernstrafrecht des StGB herauslösen und ins Schwangerschaftskonfliktgesetz einfügen wollte – dort auch als sogenanntes Nebenstrafrecht. Dieses sah bei nicht eingehaltenen Regularien weiterhin eine ärztliche Bestrafung von bis zu drei Jahren Gefängnis vor (was in einer nachgereichten theologischen Stellungnahme der EKD bei diesem ewig „unauflösbaren Konflikt“ im Angesicht Gottes grundsätzlich begrüßt wurde – worauf Prof. Dr. Kreß in Stuttgart hinwies).
Der Gesetzentwurf der parlamentarischen Gruppeninitiative übernahm zudem auch die Frist von nur 12 Wochen mit Pflichtberatung als Voraussetzung für rechtmäßige Abbrüche. Er blieb insofern weit zurück hinter den Forderungen von zivilgesellschaftlichen Organisationen sowie frauenrechtlichen Aktivistinnen – wurde jedoch von allen bis zuletzt massiv unterstützt. Denn es hatte sich ja die Chance ergeben, den lang bekämpften Paragrafen § 218 im StGB mit seiner grundsätzlichen Rechtswidrigkeit aller nicht indizierten Abbrüche endlich loszuwerden.
Im Rechtsausschuss war die Auffassung der geladenen Sachverständigen 50:50 kontrovers, als es um die Frage ging: Würde das Bundesverfassungsgericht heutzutage Abstand nehmen von seinem bisherigen Menschenwürdegebot, welches für den Embryo ab Empfängnis zu gelten habe (also bereits für ein Zellhäufchen von weniger als einem Millimeter)? Dabei geht der seit 1995 geltende § 218 StGB aus dem Grundsatzurteil des Bundesverfassungsgerichtes von 1993 hervor, welches wiederum auf einem von 1975 fußt – in beiden Fälle war ein zuvor in Kraft getretenes liberaleres Gesetz zum Schwangerschaftsabbruch dadurch gekippt worden.
Politischer Ausblick: Würdeschutz für Menschen, nicht für Zellhäufchen
Die Union hält am Status quo des § 218 StGB fest (die AfD will diesen noch verschärfen). Es soll ganz allgemein und undifferenziert darum gehen, sogenanntes ungeborenes Leben zu schützen – was eindeutig von religiösen Hintergründen geprägt ist. Dabei ist in der StGB-Regelung der Würde-Status des frühen Embryos unangemessen überhöht und verabsolutiert – er bedürfe als besonders vulnerabel um seiner selbst willen den Schutz „des sich als Mensch entwickelnden Lebens“. Demgegenüber werden Tötungen hochentwickelter Feten, die sich dem Status des geborenen Kindes zunehmend nähern, tabuisiert. Dabei wird der pränataldiagnostische Befund etwa einer Behinderung des Fetus unterschwellig der Indikation zugeschrieben, die sich zur Rechtmäßigkeit von Spätabbrüchen ausschließlich auf eine Gesundheitsgefährdung und unzumutbare Belastung der Frau bezieht. In Wirklichkeit jedoch handelt es sich – bei zuvor gewünschtem Kind – um eine fetopathische Indikation, die aber nicht mehr als solche bezeichnet, besprochen oder überhaupt thematisiert werden soll.
Dieser verschleierte Widerspruch beim Lebensschutz in einer Regelung, die von vielen als stabiler gesellschaftlicher Kompromiss gepriesen wird, sollte auch (oder sogar gerade) den Abgeordneten von CDU und CSU zu denken geben. Es geht um das Überzeugt-Werden einer Mehrheit der Mitglieder des neuen Bundestags, die trotz der breiten Protestbewegungen – genau wie andere Laien – entsprechend verwirrt sein können: Belastung von ungewollt Schwangeren durch Wartefrist und Versorgungsproblem aufgrund Stigmatisierung? Rechtmäßigkeit bei Indikation und Kriminalisierung durch Pflichtberatung? Legalisierung angesichts Transformation der StGB-Regelung ins Schwangerschaftskonfliktgesetz?
Insbesondere der juristische Widerspruch zwischen „rechtswidrig und nicht strafbar“ ist – seit 1995 mit millionenfachen „legalen“ (?) Abtreibungen – in seiner unheilvollen Bedeutung nicht unbedingt leicht vermittelbar. In Stuttgart brachte am Ende der Veranstaltung Miriam Mertens spontan eine mögliche neue Parole so auf den Punkt: „Würde- und Lebensschutz für Menschen – und nicht für Zellhäufchen!“