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Gesetz zum selbstbestimmten Sterben

Expert*innen verurteilen die Suizidhilfekritik ärztlicher Standesvertreter als inakzeptabel

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Der Deutsche Bundestag soll am 6. Juli 2023 über die Neuregelung der Suizidhilfe abstimmen.
Vor der anberaumten Abstimmung im Bundestag haben Ärzte- und Psychiatriefunktionäre in letzter Minute lautstark gewarnt, per Gesetz die Suizidhilfe rechtlich zu regeln. Es wurde gar mit einem ärztlichen Boykott gedroht, falls der als liberal geltende Entwurf eine Mehrheit erringt. Sechs namhafte Expert*innen aus den Bereichen (Palliativ-)Medizin, Psychiatrie, Ethik und Recht begründen hier, warum dieser Verhinderungsversuch zurückzuweisen ist.

Eine Initia­tiv­grup­pe aus Bun­des­ärz­te­kam­mer, der Deut­schen Gesell­schaft für Pal­lia­tiv­me­di­zin und der Deut­schen Gesell­schaft für Psych­ia­trie und Psy­cho­the­ra­pie hat sich mit dem Natio­na­len Sui­zid­prä­ven­ti­ons­pro­gramm zusam­men­ge­tan. Sie war­nen in einer gemein­sa­men Mit­tei­lung unter dem mah­nen­den Mot­to – wel­ches auch die Kir­chen ver­tre­ten – vor einem (ver­meint­lich) über­eil­ten Schnell­schuss. Die Sui­zid­hil­fe­re­ge­lung sei im Bun­des­tag dies­be­züg­lich nicht aus­dis­ku­tiert – wenn­gleich die ers­te Lesung nach einer Ori­en­tie­rungs­de­bat­te dazu bereits vor einem Jahr im Bun­des­tag statt­ge­fun­den hat.

Ein Bei­trag in ZDFheu­te vom 29. Juni hat Zita­te von Vertreter*innen betei­lig­ter Orga­ni­sa­tio­nen aus­führ­lich prä­sen­tiert. Vor dem Hin­ter­grund der seit dem Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts­ur­teil vom Febru­ar 2020 dazu geführ­ten Kon­tro­ver­sen lau­tet die Ein­lei­tung im ZDF: „Nächs­te Woche könn­te eine seit Jah­ren schwe­len­de Dis­kus­si­on been­det wer­den. […] Doch jetzt mel­den sich Ärz­te­ver­bän­de und Kir­chen: Die vor­lie­gen­den Geset­zes­ent­wür­fe wür­den nichts wirk­lich regeln.“

Es geht um Gesetz­ent­wür­fe der Par­la­men­ta­ri­er­grup­pe um Lars Cas­tel­luc­ci (Reli­gi­ons­be­auf­trag­ter der SPD) mit Unter­stüt­zung der meis­ten Uni­ons­ab­ge­ord­ne­ten einer­seits und um Kat­rin Hel­ling-Plahr (rechts­po­li­ti­sche Spre­che­rin der FDP), Rena­te Kün­ast (Grü­ne) und Hel­ge Lindh (SPD) ande­rer­seits. Nach­dem letz­te­re sich zusam­men­ge­schlos­sen haben, um einen als libe­ral gel­ten­den Gesetz­ent­wurf auf den Weg zu brin­gen, und die­ser nun­mehr Aus­sicht auf Erfolg hat, ist die ärzt­lich-psych­ia­tri­sche Inter­es­sen­grup­pe offen­sicht­lich auf­ge­schreckt.

Bundesärztekammerpräsident droht mit Boykott einer liberalen Regelung

Im ZDF-Bei­trag kün­dig­te der Prä­si­dent der Bun­des­ärz­te­kam­mer (BÄK), Dr. Klaus Rein­hardt, an: „Wenn Kün­as­t/Hel­ling-Plahr sich im Bun­des­tag durch­set­zen, wird die Bun­des­ärz­te­kam­mer der Ärz­te­schaft raten, sich nicht zu betei­li­gen“. Wolf­gang Putz, einer der renom­mier­tes­ten deut­schen Medi­zin­recht­ler, ent­geg­net: „Die Bun­des­ärz­te­kam­mer darf nach dem Urteil der Ver­fas­sungs­rich­ter vom Febru­ar 2020 ihren Mit­glie­dern weder unter­sa­gen noch davon abra­ten, im gesetz­li­chen Rah­men frei­wil­lig lega­le Sui­zid­hil­fe zu leis­ten. Denn dies haben die Karls­ru­her Rich­ter eben­so als Grund­recht der Ärz­te fest­ge­stellt wie die Inan­spruch­nah­me ange­bo­te­ner Sui­zid­hil­fe als Grund­recht von Sui­zid­wil­li­gen.“

So ver­sucht der BÄK-Chef offen­bar, sein Ver­wei­ge­rungs­ziel auf ande­rem Wege zu errei­chen: Als Begrün­dung für ein Abra­ten von Hil­fen zur Selbst­tö­tung oder auch nur Begut­ach­tung von Sui­zid­wil­li­gen bemüht Rein­hardt eine ver­que­re Rechts­auf­fas­sung: Das Gesetz sei „nicht rechts­si­cher” und es blei­be „ein straf­recht­li­ches Risi­ko, dass sich zum Bei­spiel ein Arzt der Bei­hil­fe zum Mord schul­dig macht.“ Dazu stellt Putz klar: „Die Aus­sa­ge des Prä­si­den­ten der Bun­des­ärz­te­kam­mer ver­kennt die bestän­di­ge deut­sche Rechts­la­ge und die Bedeu­tung eines neu­en Geset­zes, in dem doch ärzt­lich längst aner­kann­te Sorg­falts­kri­te­ri­en zum Schutz der Auto­no­mie all­ge­mein­bin­dend ver­an­kert wer­den sol­len. So ein Gesetz erhöht also die Rechts­si­cher­heit für lega­le Sui­zid­hil­fe und somit zwangs­läu­fig auch den Schutz von vul­ner­ablen, nicht frei­ver­ant­wort­li­chen Sui­zid­wil­li­gen. Ein Arzt geht sowohl heu­te als auch im Fal­le die­ses Sui­zid­hil­fe­ge­set­zes aus­schließ­lich dann ein Straf­bar­keits­ri­si­ko ein, wenn er fahr­läs­sig oder absicht­lich Frei­ver­ant­wort­lich­keit attes­tiert oder vor­aus­setzt, wo sie nicht gege­ben ist.“

Psychiatrische Prävention als Verhinderung auch freiverantwortlicher Suizide

Die Karls­ru­her Richter*innen hat­ten 2020 ein Sui­zid­hil­fe­ver­bot laut § 217 StGB gekippt, aller­dings ist seit­dem die ärzt­li­che Ver­schrei­bung töd­li­cher Mit­tel unge­re­gelt geblie­ben. Das heißt, wie Bet­ti­na Schö­ne-Sei­fert, Pro­fes­so­rin für Medi­zin­ethik, es in der FAZ vom 24. Juni for­mu­lier­te: „Heu­te müs­sen Ärz­te als Sui­zid­hel­fer noch immer Hel­den sein, und Schwer­kran­ken wird der Weg, frei­ver­ant­wort­lich ‚zu gehen‘, viel­fach ver­sperrt.“ Nun sol­len ernst­haft und andau­ernd sui­zid­wil­li­ge Men­schen gemäß Hel­ling-Plahr u.a. nach ver­pflich­ten­der Bera­tung und sui­zid­prä­ven­ti­ven Infor­ma­tio­nen Hil­fe zur Selbst­tö­tung von Ärzt*innen erwar­ten dür­fen und erhal­ten kön­nen. Für die Ver­schrei­bung töd­li­cher Mit­tel soll im Gesetz ein Pas­sus zum Betäu­bungs­mit­tel­recht ein­ge­fügt wer­den. Im Gegen­an­trag der Grup­pe um Cas­tel­luc­ci ist dazu in einem neu­en Straf­rechts­pa­ra­gra­fen 217 vor­ge­se­hen, dass dies u.a. nur nach zwei­fa­cher psych­ia­tri­scher Begut­ach­tung eines Ster­be­wil­li­gen erlaubt sein soll.

Das Natio­na­le Sui­zid­prä­ven­ti­ons­pro­gramm sieht durch eine libe­ra­le Sui­zid­hil­fe­re­ge­lung sei­ne bis­her ohne­hin dürf­ti­gen Erfol­ge wei­ter gefähr­det. Unter­stüt­zung erhält es vor allem von der Deut­schen Gesell­schaft für Psych­ia­trie und Psy­cho­the­ra­pie, Psy­cho­so­ma­tik und Ner­ven­heil­kun­de (DGPPN), die ihr Ziel in der Ver­hin­de­rung jeder Selbst­tö­tung sieht, auch wenn die­se auf Frei­ver­ant­wort­lich­keit beru­hen soll­te, die aller­dings in DGPPN-Ver­laut­ba­run­gen als so gut wie aus­ge­schlos­sen erklärt wird. Dr. Anna Eli­sa­beth Lan­dis, Fach­ärz­tin für Psych­ia­trie, Psy­cho­so­ma­tik, Psy­cho­the­ra­pie und Psy­cho­ana­ly­ti­ke­rin, die auch im ärzt­li­chen Qua­li­täts­ma­nage­ment tätig, merkt zu dem jüngs­ten gemein­sa­men Auf­ruf der Fach­ge­sell­schaf­ten an: „Unse­re Stan­des­ver­tre­ter, die sich hier geäu­ßert haben, sind zum Teil bar jeder Logik. Was soll das denn hei­ßen, wenn ich als Ärz­tin zu ver­ant­wor­ten habe, ob ein Sui­zid­wunsch erfüllt wird oder nicht, dann sei das Gesetz eben ‚nicht rechts­si­cher‘? Die Pole­mik rich­tet sich offen­kun­dig gegen die­je­ni­gen Kol­le­gen, die sich eines ver­zwei­fel­ten Anlie­gens lebens­mü­der Men­schen anneh­men.“

Der Prä­si­dent der DGPPN, Andre­as Mey­er-Lin­den­berg, äußer­te im ZDF-Bei­trag, der „von der Kün­as­t/Hel­ling-Plahr-Grup­pe“ vor­ge­leg­te Gesetz­ent­wurf stel­le gar „eine gra­vie­ren­de Gefähr­dung für psy­chisch kran­ke Men­schen“ dar. Dem­ge­gen­über weist Schö­ne-Sei­fert dar­auf hin, dass durch eine als rei­ne Sui­zid­zah­len­re­du­zie­rung ver­stan­de­ne Prä­ven­ti­on zwei unab­hän­gig von­ein­an­der berech­tig­te Zie­le unzu­läs­sig mit­ein­an­der ver­quickt wür­den, näm­lich „das der nicht-auto­no­mie­ver­let­zen­den Prä­ven­ti­on bei sui­zid­ge­fähr­de­ten Pati­en­ten und das der ver­fas­sungs­mä­ßig gebo­te­nen auto­no­mie­kon­for­men Sui­zid­hil­fe-Ermög­li­chung“. Die­se dürf­ten nicht gegen­ein­an­der aus­ge­spielt oder ver­rech­net wer­den. Sta­bil frei­ver­ant­wort­li­che Selbst­tö­tungs­vor­ha­ben zu ver­ei­teln wäre dem­nach „kei­ne Prä­ven­ti­on im sinn­vol­len Ver­ständ­nis, son­dern Sui­zid-Sabo­ta­ge“.

Lan­dis schlägt vor: „Wie wäre es, wenn man uns, die mit der Rea­li­tät die­ser Pati­en­ten­grup­pen befasst sind, ein­mal anhö­ren wür­de? Ich möch­te als Fra­ge auf­wer­fen: Wie kann man das Leben und die Kraft dazu ver­tei­di­gen, wenn man den Tod und auch den Wunsch danach der­art scheut?“ Die­se Fra­ge könn­te auch an Hei­ner Mel­ching, Geschäfts­füh­rer der Deut­schen Gesell­schaft für Pal­lia­tiv­me­di­zin, gerich­tet wer­den. Er beklag­te im ZDF-Bei­trag, die „rein juris­ti­sche Denk­welt“ blen­de doch aus, dass Sui­zid „aber immer mit Emo­tio­nen zu tun“ habe.

Abgeordnete sollen sich nicht durch leicht durchschaubares Störfeuer beirren lassen

Mel­ching müss­te eigent­lich den all­ge­mein von den Fach­grup­pen behaup­te­ten Vor­wurf einer vor­schnel­len Geset­zes­ver­ab­schie­dung zurück­wei­sen. Schließ­lich war er als Sach­ver­stän­di­ger im Rechts­aus­schuss des Bun­des­ta­ges Ende 2022 anwe­send, als dort – nach bereits ers­ter Lesung – vor­lie­gen­de Geset­zes­in­itia­ti­ven über fünf Stun­den lang (!) behan­delt wur­den. Der Pal­lia­tiv­me­di­zi­ner Mat­thi­as Thöns ver­mu­tet, dass so wirk­lich­keits­fern von ‚über­eilt‘ zu spre­chen nur eine geziel­te Nebel­ker­ze sein kön­ne und dass „trotz des Wis­sens um unter­schied­li­che Ein­stel­lun­gen inner­halb der Ärz­te­schaft von Funk­tio­nä­ren wohl eher eine Rege­lung gut­ge­hei­ßen und ver­tre­ten wird, die geis­tig kla­re, frei­ver­ant­wort­li­che schwer lei­den­de Men­schen zukünf­tig zu Psych­ia­tern und vor ein ‚Lebens­schutz­tri­bu­nal‘ zwingt.“ Das wür­de jedoch, so Thöns, „den Men­schen nicht gerecht, die nicht mehr leben wol­len, sei es nun wegen schwe­ren Krebs­lei­dens, chro­ni­scher Mus­kel­krank­heit, befürch­te­ter Demenz oder weil sie ihre wei­te­re Exis­tenz als wür­de­los emp­fin­den. Wem die Sui­zid­hil­fe­ver­ei­ne oder even­tu­ell wie­der die Schweiz zu teu­er sind, dem blie­be dann der soge­nann­te Bru­tal­sui­zid.“

Die gemein­sa­me Mit­tei­lung der ärzt­lich-psych­ia­tri­schen Grup­pe gegen eine ver­meint­li­che gesell­schaft­li­che Nor­mie­rung ist auf der Inter­net­sei­te der Deut­schen Gesell­schaft für Pal­lia­tiv­me­di­zin (DGP) ver­öf­fent­licht, wo Mel­ching als DGP-Ver­tre­ter aus­führt: „Es kann aus unse­rer Sicht nicht gelin­gen, die Anlie­gen schwerst­kran­ker Men­schen, ein­sa­mer Hoch­alt­ri­ger oder auch jun­ger Men­schen, die in einer Kri­se ihr Leben been­den wol­len, in eine Rechts­norm zu pres­sen.“ Eben dage­gen wen­den die bei­den renom­mier­ten Pro­fes­so­ren der Pal­lia­tiv­me­di­zin und Medi­zin­ethik Ralf J. Jox und Gian Dome­ni­co Bor­a­sio ein: „Ärz­tin­nen und Ärz­te, die aus einer Gewis­sens­ent­schei­dung her­aus bereit sind, ihren Pati­en­ten in schwers­ten Not­la­gen Sui­zid­hil­fe zu leis­ten, brau­chen vor allem eins: Rechts­si­cher­heit. Die­se wird es ohne ein Gesetz nicht geben. Dass ein­zel­ne Ärz­te­funk­tio­nä­re das nun in Abre­de stel­len, erscheint wie der ver­zwei­fel­te Ver­such, den Zugang zur Sui­zid­hil­fe ent­ge­gen dem Urteil des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts von 2020 und der gro­ßen Mehr­heit der Bevöl­ke­rung in letz­ter Minu­te doch noch zu ver­hin­dern.“

Bor­a­sio und Jox enden mit einem Appell: Ange­sichts der nach­ge­wie­se­nen Mei­nungs­plu­ra­li­tät in der deut­schen Ärz­te­schaft sol­le sich der Bun­des­tag „durch ein der­art durch­sich­ti­ges ideo­lo­gi­sches Stör­feu­er nicht dar­an hin­dern las­sen, eine gesetz­li­che Rege­lung der Sui­zid­hil­fe mit Leben zu erfül­len. Nach jah­re­lan­ger inten­si­ver Debat­te im Par­la­ment und lan­ge zuvor schon in der Zivil­ge­sell­schaft ist die Gesetz­ge­bung nicht über­has­tet, son­dern über­fäl­lig.“

Ähn­lich betont ein Offe­ner Brief des Huma­nis­ti­schen Ver­ban­des Deutsch­lands an die Abge­ord­ne­ten, die Par­la­men­ta­ri­er­grup­pe um Hel­ling-Plahr, Kün­ast, Lindh u.a. habe das Ziel der Ver­hin­de­rung von Selbst­tö­tun­gen ins­be­son­de­re auf­grund psy­chi­scher Erkran­kun­gen kei­nes­wegs aus dem Blick ver­lo­ren: „Viel­mehr berei­tet die im fusio­nier­ten Gesetz vor­ge­se­he­ne flä­chen­de­cken­de Bera­tungs­struk­tur gera­de­zu den Weg für „evi­denz­ba­sier­te Maß­nah­men“, wie die­se in ihrem par­al­le­len Ent­schlie­ßungs­an­trag zur Sui­zid­prä­ven­ti­on gefor­dert wer­den. Von einem teil­wei­se kri­ti­sier­ten ‚über­eil­ten Hau­ruck­ver­fah­ren‘ kurz vor der Som­mer­pau­se kann kei­ne Rede sein. Bit­te las­sen Sie sich nicht von einer ideo­lo­gi­sier­ten Gemenge­la­ge beir­ren.“

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