Er lächelt die ihm zugeneigten Besucher*innen vor Prozessbeginn am ersten Verhandlungstag an, fast alle Plätze im Saal sind besetzt. Der angeklagte Berliner Arzt Christoph Turowski strahlt Zuversicht aus. „Ich hatte zu keinem Zeitpunkt Zweifel an ihrer Urteils- und Geschäftsfähigkeit“, sagt er dann bei seiner sogenannten Einlassung, das heißt gemäß seiner Sicht der Dinge. „Auf mich wirkte sie immer völlig klar in ihren Gedanken und Worten.“ Die von Isabell R. dauerhaft vorgebrachte „Verzweiflung und Qual zeigten mir ihren eindeutigen Willen zur Lebensbeendigung.“ Sie in ihrer großen Not fallen zu lassen „wie eine heiße Kartoffel“, das habe sein moralischer Kompass und sein ärztliches Gewissen nicht zugelassen.
Nach Suizidversuch Einweisung in die Psychiatrie
Er hatte der alleinstehenden 37-Jährigen, die mit großer Anstrengung Tiermedizin studierte, nach einem zunächst misslungenen Versuch kurz darauf ein zweites Mal beim Suizid geholfen. Beim ersten Mal verschrieb er ihr einen Medikamentencocktail, der oft zur Selbsttötung verwendet wird, den sie jedoch nach vier Stunden im Schlaf erbrach, wodurch sie überlebte. Dies nannte Turowski, der eine Nachtwache bei ihr übernommen hatte, eher „eine Rarität“. Über eine Freundin von ihr, die er um seine Ablösung am nächsten Morgen bat, wurde ein Rettungsdienst gerufen. Dann ließ der Sozialpsychiatrische Dienst Isabell R. gegen ihren erklärten Willen in die geschlossene Abteilung einer psychiatrischen Klinik einweisen. Bei der obligatorischen Anhörung durch einen Richter des Betreuungsgerichts wurde eine zunächst vierwöchige Unterbringung bestätigt, da der Suizidversuch aus der Krankheit, ihrer Depression, resultiere. Turowski hatte heftig protestiert, war mit Hausverbot abgewiesen worden.
Nach etwa drei Wochen mit sehr häufigen Kontakten zu Turowski erfolgte im Juli 2021 auf beständiges zielgerichtetes und sehr bestimmtes Drängen der Patientin hin ihre Entlassung. Sie fuhr unmittelbar danach in ein von ihr noch als Klinikpatientin gebuchtes Hotel. Telefonisch bat sie Turowski sie dort aufzusuchen. Der kam auch, sprach dort mit ihr sprach, zündete mit ihr gemeinsam eine Kerze an und legte, wie vorher zugesagt, schließlich eine tödliche Infusion an. Auf der im Gericht gezeigten kurzen Videosequenz ist zu sehen, wie die Frau diese selbst durch Aufdrehen in Gang setzt, während ein von ihr ausgewählter Song zu hören ist.
Isabell R. schlief sofort ein – und innerhalb von acht Minuten für immer. Turowski selbst meldete daraufhin ihren Tod, war sich keiner Schuld bewusst. Eine gängige Freitodverfügung der Betroffenen und die Videoaufnahme ihres eigenhändig ausgelösten Suizids lagen ja wie immer vor.
Vom normalen Hausarzt zum engagierten Suizidhelfer
Der Berliner Allgemeinmediziner war vor allem durch einen Freispruch in einem früheren Fall (seinem ersten bei einer langjährigen Patientin von ihm) medial bekannt. In seiner Praxiszeit war er vorher ausschließlich mit Heilung, Lebensrettung und Linderung befasst. Erst nach seiner Pensionierung wurde er auf dem neuen Gebiet tätig: Er leistete bis zu seiner jetzigen Anklage fast vier Jahre lang für die Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben (DGHS) bei deren Mitgliedern nach eigenen Angaben in etwa 100 Fällen Suizidhilfe – nach den strengen Sorgfaltskriterien dieser Sterbehilfeorganisation. Seine Daten fand Isabell R. bei einer Internetsuche, kontaktierte ihn direkt und bat um seine persönliche Suizidassistenz.
Hilfe zur Selbsttötung (das heißt zur eigenhändigen Ausführung), die den Tod eines anderen Menschen zur Folge hat, ist hierzulande kein Delikt. Das gilt aber nur, wenn der oder die Betroffene den Willen dazu „frei und unbeeinflusst von einer akuten psychischen Störung bilden“ konnte – so urteilte 2020 das Bundesverfassungsgericht. Im vergleichbaren Fall von Dr. Johann Spittler sah ein Essener Strafgericht dies als widerlegt an und verurteilte den Psychiater zu drei Jahren Gefängnis (wogegen Revision eingelegt wurde und er sich zurzeit auf freiem Fuß befindet). Dr. Turowski war hingegen in Berlin als Hausarzt und Internist tätig. Wie glaubte er feststellen zu können, dass die chronische psychische Erkrankung von Isabell R. ihre Willensfähigkeit unbeeinflusst ließ?
Laut seiner Einlassung führte er zunächst ein circa 90-minütiges Erstgespräch mit der 37-Jährigen. Darin habe sie berichtet, sie würde seit 16 Jahren an scheren Depressionen leiden und diese seien nach jahrelanger Behandlung mit Medikamenten und psychotherapeutischen Maßnahmen mit Heftigkeit immer wiedergekommen – sie könne einfach nicht mehr. Sozial- und familienanamnestisch ergab sich, dass sie sich nach einer belastenden Kindheit auch danach oft Demütigungen und Entwertungen ausgesetzt sah. Sie habe den Erfolg ihres letzten Suizidversuchs nach insgesamt drei misslungenen (davon einem mit Fön in der Badewanne) nunmehr „akribisch geplant“, so Turowski vor Gericht. Für den Fall, dass er ihr als ärztlicher Sterbehelfer diesmal nicht zum sicheren Tod verhelfen würde, habe sie glaubhaft angekündigt, sich zu erhängen, und ihm ein dazu geeignetes Heizungsrohr gezeigt.
DGHS-Procedere als rechtlicher Suizidhilfe-Standard?
War die Erkrankte in der Lage, freiverantwortlich zu entscheiden? Die Staatsanwaltschaft verneint dies und wertete dazu auf Turowskis Endgeräten 121 Nachrichten von Isabell R. aus, die sie ihm innerhalb des letzten Monats schickte. Diese seien zwar von dem dringenden Suizidwunsch beherrscht, aber 6 dieser Nachrichten hätten dabei Anzeichen enthalten, vielleicht doch weiter zu leben. Turowski habe diese sträflicherweise nicht zum Anlass genommen, die Suizidwillige zu vielleicht noch möglichen Therapien zu ermuntern.
Nach seiner eindrucksvollen 35-minütigen Einlassung wurden ihm im Gericht mehrere Stunden lang Fragen gestellt: Wie er die Dauerhaftigkeit und Freiverantwortlichkeit der suizidwilligen Patientin denn einschätzen könne? Und hätte es für sie wirklich keine weiteren Behandlungsmöglichkeiten gegeben? Inwieweit habe er sich gedrängt oder gar erpresst gefühlt? Auch eine etwas seltsame Fragestellung wird von der Staatsanwaltschaft aufgeworfen: Warum sich Turowski nicht an die internen Vorschriften der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben (DGHS) gehalten habe. Als von ihr regelmäßig vermittelter Arzt sollte er deren obligatorische Verfahren doch sehr gut kennen.
In der Anklageschrift heißt es dazu: „Der Angeschuldigte entschied sich bewusst dafür, die von der DGHS aufgestellten Standards zum assistierten Suizid nicht einzuhalten“, damit er einen seiner Ansicht nach unerträglichen Leidensweg von Isabell R. verkürzen konnte. Doch wird mit diesem Punkt der Anklage etwa unterstellt, Regularien eines Sterbehilfevereins könnten als ein allgemein anwendbarer Rechtsstandard gelten?
Offene Fragen zur Freiverantwortlichkeit nicht nur vor Gericht
Ohne den Anspruch, dadurch gesetzliche Regelungen ersetzen zu können oder überflüssig zu machen, wird aktuell in interdisziplinären Forschungsansätzen versucht, differenzierte Leitlinien zur Freiverantwortlichkeit bei Selbsttötungen für die (nicht-organisierte) ärztliche Suizidhilfe jeweils kontextbezogen zu entwickeln.
Die psychiatrisch-psychosomatische Gutachterin und Fachärztin Dr. Anna Landis äußert in einem Kommentar an die diesseits-Redaktion, worin die „Crux“ der bisherigen Handhabung besteht: „Bei somatischen Erkrankungen nimmt man an, dass das für die Bildung eines freien Urteils notwendige Gehirn unbeeinflusst sei von der Erkrankung, bei einer psychischen Erkrankung/hirnorganischen Beeinträchtigung nimmt man das Gegenteil an. Beides ist falsch.“
Auf alle Fragen der Strafkammer antwortet Turowski ruhig und gelassen. Zur DGHS meint er, diese sei übervorsichtig und schließe psychisch erkrankte Menschen ausdrücklich von vornherein aus. Obligatorisch seien dort Regularien nicht nur zu verpflichtenden Beratungen oder medizinischen Unterlagenprüfungen, sondern auch Vorgespräche der suizidwilligen Mitglieder mit einem Rechtsanwalt oder einer Rechtsanwältin. Außerdem sei nach Vereinseintritt im Regelfall inzwischen eine sechsmonatige Wartezeit erforderlich, bevor eine Beantragung zur Freitodbegleitung sorgfältig untersucht und bewilligt werden könne.
Turowski sagt aus, die DGHS verlange ein zusätzliches Gutachten häufig, wenn ein suizidwilliges Mitglied vormals eine psychiatrische Vorgeschichte hatte oder akut auch altersbedingt kognitiv eingeschränkt sei. Er habe erwogen, einen psychiatrischen Gutachter heranzuziehen, um die gegenwärtige Freiverantwortlichkeit von Isabell R. bestätigen zu lassen. Auf ihre Frage, was das denn koste (abgesehen von den 4.000 Euro, welche die DGHS im Regelfall für das Procedere der Suizidhilfe berechnet), habe er geantwortet, rund 1.000 Euro. Sie hätte daraufhin erwidert, um sich ein solches Gutachten erstellen zu lassen habe sie nicht das Geld und zudem dauere ihr das Ganze zu lange. Turowski räumt ein, es hätte auch psychiatrische Therapien wohl noch gegeben – aber Isabell R. habe nach 16 Jahren der Inanspruchnahme und Erfahrung damit ausdrücklich keine weiteren mehr akzeptiert. Er sei betroffen gewesen, ohne sich von ihr bedrängt zu fühlen.
Die 40. Strafkammer des Berliner Landgerichts, vor der sonst vor allem Mord, schwere Körperverletzung oder Bandenkriminalität verhandelt wird, hat für den Fall Turowski neun weitere Verhandlungstage für Zeugen- und Gutachterbefragungen anberaumt. Am 26. März soll das Urteil verkündet werden.
3 Kommentare zu „Sterbehilfe bei psychisch kranker Studentin als Totschlagdelikt“
Vielen Dank für den Artikel, insbesondere dafür, mich auf den Komentarpost von Frau Dr. Landis zu Ihrem Artikel über den Ausgang des Spittler-Prozesses aufmerksam gemacht zu haben. Sie hat die Problemlage wirklich auf den Punkt gebracht.
Es tut mir sehr leid, dass Sie wegen solchen Umständen vor Gericht stehen. Das ist nicht gerechtfertigt. Der sterbe Wille war zu jeder Zeit vorhanden. Es ist absolut normal dass depressive Menschen lügen um sich aus Einschränkungen zu befreien. Ich hätte mich über ihre berufliche Expertise gefreut.
Ich selbst habe schwere Depressionen und das Thema Sterbehilfe ist auch etwas worüber ich mir Gedanken gemacht habe. Es wird einem überhaupt nicht leicht gemacht mit der Sterbehilfe bzw ist überhaupt kein Thema, weil es heißt, dass man nie als austherapiert gilt. Ich finde dass es eine unfassbare Qual ist in diesem Zustand und einen zum Leben zu zwingen wenn das Leid so unfassbar ist, das kann man sich gar nicht vorstellen wie es ist. Meine Depression ist eine die 6 oder sogar mehr Monate anhält und bedeutet, dass man nur im Bett liegt, sich überhaupt nicht um sich kümmern kann, keine Gedanken mehr im Kopf vorhanden sind außer der Wunsch zu sterben, sodass es unmöglich ist Gespräche zu führen selbst mit Angehörigen. Nach mehreren Suizidversuchenkann ich sagen, dass es nicht leicht ist es zu tun, nicht mal wegen Ambivalenz, sondern den Überlebensinstinkten. In dem Fall ist man so gefangen, ich würde mir wünschen, da Sterbehilfe in Anspruch nehmen zu können. Ich habe mich im Endeffekt therapieren lassen in der Klinik, ohne ein Medikament wäre der Zustand weiterhin so geblieben. Ich weiß auch, dass er wieder kommen wird. Man muss wirklich alle Möglichkeiten probieren, aber irgendwann ist die Grenze da erreicht. 12 Tage finde ich aber auch zu wenig, um da eine Entscheidung treffen zu können. Ich könnte noch viel mehr zu dem Thema sagen. Jetzt, wo ich nicht in einer akuten extremphase bin habe ich immer noch die Meinung: pro Sterbehilfe. Auch heute noch möchte ich diese in Anspruch nehmen können wenn alle Optionen ausgeschöpft sind und das sage ich aus Vernunft heraus und nicht aus aktuellen drängenden Suizidgedanken. Ich sage es aus Überzeugung, dass es eine Wohltat sein kann, 100%. Ich würde sehr gerne mit Menschen ins Gespräch kommen und mich über dieses Thema mehr austauschen ohne dass es ein Tabu ist und nur auf Verständnislosigkeit trifft.